Das war sie also.
Die neue Schule.
Neuer Anfang. Neue Chance. Diese Gedanken schossen Isabelle durch den Kopf als sie vor dem Gebäude stand, das sie ab heute jeden Tag besuchen würde.
Sie nickte, wie um sich selbst zu bestätigen, dass sie das durchzog und trat durch die Tür.
Sofort war diese umhüllt von den Stimmen der anderen Schüler.
Isabelle machte sich auf den Weg ins zweite Stockwerk, wo ihre erste Stunde stattfand.
Die letzten paar Tag war sie ihren Stundenplan Stück für Stück durchgegangen, hatte auswendig gelernt, wo welches Fach stattfand und sich auf dem Geländeplan die Turnhalle, das Hauptgebäude und Nebengebäude markiert.
Vor dem Schulzimmer angekommen nahm Isabelle einen weiteren tiefen Atemzug und betrat das Zimmer, das von Lärm erfüllt ist.
Augenblicklich verstummten die Stimmen und alle drehten sich zu ihr um.
Der Blick ihrer grünen Augen schweifte über die Schüler, während sie versuchte sich einen ersten Eindruck zu bilden.
Ganz hinten sassen zwei Mädchen, die Finger perfekt lackiert, auf dem Boden jeweils eine Louis Vuitton Tasche.
Sie liess ihren Blick weiter nach rechts schweifen, wo die Knaben der Klasse sassen.Es waren vielleicht acht Jungs, alle musterten sie ebenso, wie sie sie. Ins Auge fielen ihr besonders der Grosse mit den dunklen Haaren und dem Grübchen-Grinsen und der Kleinste mit den blonden Engelslocken und dem ebenmässigen Gesicht.
Die anderen überging Isabelle einfach.
Dann waren da noch vier weitere Mädchen, die sie nur mit einem kurzen Blick betrachtete und dann ignorierte.
In der Mitte sassen zwei Mädchen, die sie neugierig anstarrten. Die eine war großgewachsen, hatte eine wilde blonde Lockenmähne und die andere war eher klein und zierlich, mit einer Brille auf der Nase.
In der ersten Reihe war noch ein Tisch frei und so setzte sich Isabelle an den Platz. Sie holte ihre Federmappe aus dem Rucksack und ihren Notizblock. Dann fing sie an, einen Rhythmus mit einem Kugelschreiber auf den Tisch zu klopfen, weil sie so nervös war.
Ihre Hände zitterten vor Aufregung und ihr war schlecht. „Jetzt sei nicht so eine Memme“, schalt sie sich in Gedanken. Zwei Minuten vor Unterrichtsbeginn betrat der Klassenlehrer das Schulzimmer. Er drehte sich zu ihr um und begrüsste sie.
„Guten Tag, ich bin Herr Winter und dein Deutsch- und Klassenlehrer. Du bist nun offiziell ein Jedi-Ritter. Möge die Macht mit dir sein.“
Er grinste sie an und sie fand ihn von Anfang an sympathisch.
„Vielen Dank, aber ich bin leider schon auf der Seite von Darth Vader“, konterte sie. „Oh jetzt hat sie’s Ihnen gegeben“, johlte einer der Jungs hinter ihr.
Herr Winter grinste und sagte: »Herzlich Willkommen in unserer Klasse, Isabelle.« Es klingelte zum Schulbeginn und Herr Winter schloss die Tür des Zimmers.
„So. Ich heisse euch Herzlich Willkommen zu einem neuen Schuljahr am Dathe-Gymnasium Berlin. Für die nächsten drei Jahre wird Isabelle in unserer Klasse sein.“
Herr Winter warf ihr einen Blick zu, bevor er fortfuhr: „Da sich sonst immer die neue Person zuerst vorstellen muss, dachte ich, wir machen das heute einmal umgekehrt. Evan fang doch einmal an.“
Der blonde Lockenengel war also Evan. Er stellte sich kurz vor und dann kam der nächste an die Reihe. Das war sein Kumpel, der Grosse mit den dunklen Haaren. „Ich bin Nico, komme aus Berlin und bin sechzehn.“ Er grinste etwas verlegen und der vor ihm übernahm das Wort.
Isabelle versuchte sich so viele Namen und Gesichter wie möglich zu merken, was auch ganz gut funktionierte. Mittlerweile waren nur noch zwei übrig. Es waren die beiden Mädchen, die sie so faszinierten. Die Schlanke mit der grossen Statur fing an.
„Ich heisse Lia und bin auch sechzehn. Und ich finde Darth Vader auch besser als Yoda.“
Ein kleines Grinsen zupfte an ihren Lippen, als sie den zweiten Satz hörte. Die Kleinere stellte sich auch noch vor.
„Ich bin Aria, bin sechzehn und komme ursprünglich aus Paris.“ Sie schob sich die Brille auf die Nase und schenkte Isabelle ein kleines Lächeln.
„Hey zusammen. Ich bin Isabelle Wolf, bin neu aus Oranienburg hergezogen und bin sechzehn Jahre alt“, ratterte sie runter.
Ihre Hände schwitzten wie verrückt.„Sehr gut. Dann können wir ja jetzt mit dem Administrativen beginnen“, bemerkte Herr Winter und begann Blätter an sie auszuteilen. Er teilte ihnen einen weiteren Stundenplan aus, ein Infoblatt für die Eltern und noch ganz viele weitere.
Doch Isabelle kriegte nicht viel mit, da sie ihren eigenen Gedanken nachhing.
Hoffentlich würde alles gut gehen.
Hoffentlich würde das mit dem Neustart klappen.
Hoffentlich konnte sie ihre Vergangenheit hinter sich lassen.
Als es klingelte stand sie auf und packte ihre Sachen in den Rucksack. Dann verliess sie das Zimmer und setzte sich ihre Urban Ears auf und stellte die Musik ein.
Leise drang „Don’t Stop Believin’“ an ihr Ohr und ihr Puls beruhigte sich augenblicklich.
Sie folgte den anderen ihrer Klasse, ohne wirklich mitzukriegen, wo genau sie hingingen.
Als sie im Geschichtszimmer ankamen, setzte sie sich wieder alleine an einen Tisch und wartete darauf, dass der Geschichtsunterricht anfing. Isabelle betete, dass sie einen guten Geschichtslehrer haben würde, schliesslich zählte das Fach zu ihren Lieblingsstunden.
Der Lehrer war zu neunzig Prozent in Ordnung, befand Isabelle nach der Lektion. Es war ziemlich spannend, was sie gerade durchnahmen und er hatte alles gut erklärt und übersichtlich dargestellt.
Nun kam eine Doppelstunde Englisch.
Im Schulzimmer setzte Isabelle sich in die hinterste Reihe und kippelte auf dem Stuhl herum, während sie einen Rhythmus auf ihr Bein klopfte.
Sie hätte nicht gedacht, dass sich jemand neben sie setzen würde, umso überraschter war sie als sich Aria und Lia, links von ihr auf die Stühle niederliessen.
„Hast du alle Star Wars gesehen“, fragte Lia sie neugierig.
„Ja, aber den vierten und den fünften finde ich tot langweilig“, antwortete Isabelle, hielt mit dem Gekippel ihres Stuhls inne, jedoch nicht mit dem Trommeln ihrer Finger.
„Genau meine Meinung“, deklamierte Lia. „Und wie findest du die Schule hier so.“
Aria schaute Isabelle direkt in die Augen und irgendetwas löste sich in ihr. Arias Augen waren so blau wie ein See und so dunkel wie die Nacht. Sie drohte in ihnen zu versinken.
„Es ist ganz okay. Muss mich noch ein bisschen zurecht finden, aber wird schon.“ Sie grinste leicht, auch wenn sie selbst nicht so genau wusste weshalb.
„Und was machst du so in deiner Freizeit“, fragte Lia.
„Ich spiele Gitarre, lese viel, gehe ins Basketball, spiele Eishockey, blogge und schreibe Geschichten“, erwiderte Isabelle. Sowohl Lias als auch Arias Augen leuchteten bei Isabelles Antwort auf.
„Und was schreibst du so für Geschichten?“Zeitgleich fragte Aria: „Was liest du so?“
Isabelle schmunzelte und strich sich eine schwarze Haarsträhne aus den Augen.
„Ich schreibe alles mögliche. Fantasy, Romane, Zukunft, Historisch, Kurzgeschichten... Das einzige Genres, das nicht so meins ist, sind Gedichte. Ich bin eindeutig kein zweiter Dante oder Shakespeare“, entgegnete sie lachend.
„Und lesen tu ich auch fast alles. Am liebsten Fantasy und Romane, eher weniger Krimis oder Horror. Und ihr?“
„Ich schreibe etwa das Gleiche wie du, aber Gedichte schreibe ich eigentlich noch ganz gerne“, erwiderte Lia.
„Auch ungefähr das Gleiche wie du, aber ich lese noch ziemlich oft Krimis.“ Aria grinste und schon wieder durchzuckte Isabelle ein merkwürdiges Gefühl.
„Habt ihr Obsidian gelesen“, erkundigte sie sich.
„Klar. Wir haben die Reihe verschlungen. Daemon übertrifft einfach alles.“ Aria lächelte schelmisch und drehte sich nach vorne, als die Tür hinter der Englischlehrerin zufiel.
Die nächste Stunde verging wie im Fluge. Es war eine unterhaltsame Doppelstunde, in der nicht viel gemacht wurde, ausser ein bisschen zu quatschen.
Es folgte noch eine langweilige Geographiestunde und dann war schon Mittag.
Isabelle setzte sich zusammen mit Aria und Lia an einen Tisch in der Mensa. Evan und Nico gesellten sich auch noch zu ihnen. Evan schien genau wie Isabelle einfach nicht still sitzen zu können und seine Finger waren ständig in Bewegung. Er liess Karten zwischen seinen Fingern umherwirbeln, so schnell, dass sie fast verschwammen.
Nico war eher ruhig, aber auch supernett. Sie stellte fest, dass sowohl Nico als auch Evan Gitarre spielte, auch wenn die beiden schon zwei Jahre länger spielten als sie.
Lia war bereits mit Evan und Nico in der Grundschule. Aria war erst im Gymnasium zu ihnen gestossen.
Isabelle erfuhr, dass Aria zwei jüngere und eine ältere Schwester hatte. Lia hatte einen jüngeren Bruder namens Maex. Nico hatte eine jüngere Schwester und Evan hatte vier Brüder. Zwei älter und zwei jünger als er.
Isabelle dagegen ging möglichst allen Fragen aus dem Weg, doch um ein paar wenige kam sie nicht herum.
Sie erzählte, dass ihre Eltern sich hatten scheiden lassen und sie deshalb herzgezogen war. Ihre kleine Schwester lebte bei ihrer Mutter, während ihr Vater das Sorgerecht für Isabelle und ihren dreizehnjährigen Bruder Leo bekam. Danach versuchte Isabelle einen möglichst schnellen Themenwechsel herbeizuführen und sie fing an über irgendein Buch zu reden.
Aria und Lia tauschten einen Blick, bedrängten Isabelle aber nicht weiter.
Der Nachmittag verging wie im Fluge und um fünf Uhr nachmittags klingelte es endlich zum Schulschluss.
Isabelle verabschiedete sich von Aria und Lia und machte sich auf den Weg zu ihrem Fahrrad.
Sie setzte sich die Kopfhörer auf, stellte »Eye of Tiger« ein und radelte los.
Eine Viertelstunde später war sie Zuhause. Sie schloss die Wohnung mit ihrem Schlüssel auf, hängte ihre Jacke in die Garderobe und ging in ihr Zimmer. Dort liess sie sich sofort aufs Bett fallen und starrte die Decke an.
Sie fragte sich, wie sich ihr Leben in so kurzer Zeit, so sehr hatte verändern können.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Ahnung, ob sie die Veränderung gut fand oder nicht.
Das Einzige, das sie wusste, war, dass sie sich wünschte, sie könnte ihre Vergangenheit auslöschen.
Noch einmal ganz von vorne anfangen.
Doch das war nicht möglich.
Und das erdrückte sie.