Stundenlang lag Lia wach in ihrem Bett, ohne auch nur ein Auge zudrücken zu können. Ihre Gedanken liessen ihr keine Ruhe.
Ständig war sie da.
Ihre grün-goldenen Katzenaugen schienen sie zu verfolgen.
Die schwarzen langen Haare und die kleine Lücke zwischen den zwei Zähnen.
Isabelle wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen.
Vom ersten Moment an, als sie das Zimmer betrat, war sie wie gefesselt von ihrem Anblick. Die merkwürdige Mischung aus Verschlossenheit und Selbstbewusstsein, die sie zur Schau stellte, wirkten wie ein Bann auf Lia.
Die Art wie Isabelle keine Sekunde still sitzen konnte. Stetig wippte sie mit dem Fuss, trommelte mit ihren Fingern einen Rhythmus auf ihr Bein oder klickte mit dem Kugelschreiber. Ihre Stimme war ebenfalls anziehend. Ein samtiges, ruhiges Flüstern, das ihr unter die Knochen ging.
Ihr Look war genauso geheimnisvoll wie sie.
Schwarze Springerstiefel in Kombination mit den zerschlissenen Jeans. Ein grosser dunkelbrauner Hoodie und eine schwarze Windjacke. Das blaue Yankees-Cap hatte sie tief ins Gesicht gezogen und die Kopfhörer nahm sie nie ab.
Dieses Mädchen hatte etwas an sich, dass Lia nicht mehr losliess.
Irgendwann übermannte sie die Müdigkeit und sie schlief ein.
Am nächsten Morgen stand sie voller Energie auf und freute sich darauf Isabelle wiederzusehen.
Sie fuhr zusammen mit Evan und Nico in die Schule. Auf dem Weg redeten sie über Isabelle.
„Ich weiss nicht so recht, was ich von ihr halten soll“, meinte Evan nachdenklich. „Sie hat so eine Art, die irgendwie anziehend wirkt, geheimnisvoll, aber sie ist auch merkwürdig. Mit ihren Kopfhörern und wie sie unseren Fragen beim Mittagessen ausgewichen ist…“ Er zuckte mit den Schultern.
„Ich find sie nett. Etwas komisch, aber nett“, sagte Nico. „Du?“ Er wendete den Kopf und schaute sie an.
„Keine Ahnung. Sie ist intelligent, nett, aber irgendetwas verbirgt sie“, bemerkte Lia.
„Ich denke nicht, dass wir sie bedrängen sollten“, stellte Evan fest.
„Nein, nein das glaube ich auch nicht. Aber neugierig bin ich trotzdem.“ Lia hatte keine Ahnung, was Isabelle verbarg, aber sie hatte so ein Gefühl, das ihr sagte, dass es nichts gutes war.
Den Rest der Fahrt redeten sie über belanglose Sachen und die zwei Jungs schienen Isabelles Geheimnis schon wieder vergessen zu haben.
In der Schule sass Isabelle bereits im Zimmer, einen Zauberwürfel zwischen den Finger, den sie nachdenklich betrachtete. Ihre Finger drehte ein paar Ecken, aber sie schien mit den Gedanken ganz wo anders zu sein.
„Hey. Wie geht’s denn so?“, fragte Lia sie.
„Ganz gut. Muss mich noch an die neue Wohnung gewöhnen“, antwortete Isabelle ohne den Blick von dem Zauberwürfel zu nehmen.
„Wie schnell schaffst du ihn?“ Sie zeigte auf den Würfel und Isabelle hob den Kopf.
„War mal bei vierzig Sekunden, aber mittlerweile bin ich nur noch bei einer Minute.“
Sie lächelte leicht und hob den Blick. „Kannst du ihn auch lösen?“
„Ja, aber ich habe seit Monaten keinen mehr gelöst“, bemerkte Lia lachend. Sie fragte sich, ob sie ihn noch unter einer Minute schaffen würde. Wahrscheinlich eher nicht. Sie beobachtete Isabelle aus dem Augenwinkel, die ihren Blick durchs Schulzimmer schweifen liess und hier und da ein wenig länger hinschaute.
Heute trug sie einen übergrossen schwarzen Hoodie, auf dem vorne „F.R.I.E.N.D.S“ stand. Sie hatte dunkelgrüne Chucks an und ihre Haare hatte sie zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden.
Lia bemerkte, dass sie Isabelle vielleicht ein wenig zu sehr musterte und wendete schnell den Blick ab.
In diesem Moment kam Aria ins Schulzimmer und grüsste die beiden. „Oh, du kannst den auch?“, bemerkte sie mit einem Leuchten in den Augen. Sie setzte sich neben Lia und stellte ihre Tasche ab.
„Ja, aber ich löse ihn nur zwischendurch mal.“ Isabelle zuckte mit den Schultern und die Melancholie, die sie umgab, stimmte auch Lia irgendwie traurig.
Je länger sie Isabelle betrachtete, desto mehr fragte sie sich, was diese wohl verbarg.
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Mittlerweile waren schon fünf Monate vergangen und Aria und Lia waren ihre neuen besten Freundinnen.
Sie waren einfach auf derselben Wellenlänge.
So gut wie jeden Tag trafen sie sich und gingen shoppen, schauten Filme oder quatschten einfach nur.
Es gab sogar Tage an denen Isabelle fast vergessen konnte, was in Hamburg passiert war.
Doch eben nur fast.
Milo und Isabelle sassen vor dem kleinen Fernseher und schauten sich einen Film an. Sie hörten Papa in seinem Schlafzimmer telefonieren und wussten beide, dass Mama am anderen Ende der Leitung war.
Seine Stimme klang müde, gleichgültig.
„Nein Sandra, ich kann dir nicht noch mehr zahlen. Ich habe fast kein Geld mehr. Ich mache täglich Überstunden, um überhaupt die Miete zahlen zu können.“
Ihr war klar, dass sie nicht mehr so viel Geld hatten, aber dass es so schlimm war, wusste sie nicht.
Mama hatte Papa so gut wie alles Geld bei der Scheidung abgeknöpft, das einzige was ihm geblieben war, war das eine Auto.
Ansonsten hatte sie alles für sich beansprucht.
Das Haus, das zweite Auto, das ganze Geld.
Die beiden beendeten ihr Gespräch und Papa kam ins Wohnzimmer. Er raufte sich die Haare und die tiefen Ringe unter seinen Augen waren kaum zu übersehen.
„Hey ihr beiden. Wie geht’s denn so?“, fragte er und bemühte sich um ein Lächeln.
„Ganz gut“, antwortete Milo. Er schaute ihren Vater etwas verwirrt an, aber Isabelle sah auch die Wut in seinen Augen. Sie alle hatten mit den neuen Umständen zu kämpfen. „Papa, geh ins Bett. Wir machen den Abwasch und räumen auf“, sagte sie und stellte den Fernseher aus.
„Seid ihr sicher?“ Er wirkte verunsichert, aber sie sah, dass er fast im Stehen einschlief. Sie und ihr Bruder nickten, und Julian verzog sich mit einem „Gute Nacht! Ich hab’ euch lieb“ in sein Zimmer zurück.
Schweigen räumten Isabelle und Milo den Tisch ab und stellten das Geschirr in die Spülmaschine.
Milo wünschte seiner Schwester eine Gute Nacht und ging ebenfalls in sein Zimmer.
Isabelle setzte sich aufs Sofa und dachte nach.
Die Erinnerungen der Vergangenheit tauchten wieder auf. Liessen sie nicht los.
Sie sah ihre Mutter, die ausholte.
Der stechende Schmerz, der sich in ihrer Wange ausbreitete.
Das stetige Gefühl von Hass, wenn sie ihre Mutter anschaute. Ihr Wunsch, sie würde endlich aus ihrem Leben verschwinden.
Aber insgeheim war da immer der Wunsch gewesen, dass ihre Mutter sie so vergöttern würde, wie sie Nina vergötterte.
Ganz tief in ihr drin, wünschte sie sich, dass sie bei ihrer Mama an erster Stelle stand, und nicht ihre kleine Schwester.
Eine Erinnerung nach der anderen übermannte Isabelle, belasteten sie.
Sie kniff die Augen fest zusammen, drängte die Fetzen der Vergangenheit zur Seite.
Nachdem sie ihre Zimmertür hinter sich zugemacht hatte, suchte sie sich irgendeine Playlist auf Spotify raus und liess die Musik ertönen.
In ihrem Bett liegend, fing sie an zu weinen. Lautlose Schluchzer und grosse Tränen, die ihr aus den Augenwinkeln rollten.
Wieso konnte sie nicht einfach eine normale Familie haben?
Wieso konnte sie nicht einfach normal sein?
Bei diesem Gedanken tauchte Arias Gesicht in ihrem Kopf auf. Ihre dunklen Haare und die dunkelblauen Augen.
Wie ihre Haut gekribbelt hatte, als sich ihre Hände zufällig gestreift hatten.
Ihr war durchaus bewusst, dass Aria mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent hetero war, aber sie konnte ihre Gefühle nicht loswerden. So oft hatte sie es schon versucht, doch sie verschwanden einfach nicht.
Sie hatte Lia zwar erzählt, dass sie auf Frauen und auf Männer stand und diese hatte ihr erzählt, dass sie auf Frauen stand, aber dass sie in Aria verliebt war, darüber hatten sie nicht gesprochen.