Ein letzter Blick – ja er ist wirklich fort – und ich knie mich runter. Kurz streichle ich noch einmal zärtlich über den Deckel, ehe ich mich den genannten Verschlägen widme.
Der Alte hat tatsächlich recht gehabt. Sie lassen sich leicht öffnen und langsam hebe ich den Deckel. Obwohl ich furchtbar neugierig bin, gehe ich sehr vorsichtig vor, um ja nichts zu beschädigen.
So groß die Kiste ist, sie dürfte für den Inhalt wohl nicht kleiner sein. Vollgestopft bis zum Rand.
Ganz oben liegt ein weiter, schwarzer Umhang. Nein, nicht irgendein Umhang, das ist doch eher ein Mantel, oder? Oder irgendetwas dazwischen? Ich bin mir nicht sicher, aber er wirkt auf jeden Fall sehr stilecht.
Während ich ihn heraushole, wundere ich mich, wie ein Vampirkostüm in diese Kiste kommt.
Und warum sucht die italienische Familie einen geeigneten Besitzer für Ihre Truhe? Das ergibt doch keinen Sinn. So etwas behält man oder verkauft es an den Meistbietenden.
Alles sehr rätselhaft.
Auch dieser Umhang.
Angesichts der Größe müsste er eigentlich bedeutend mehr wiegen. Aber es ist einfach, ihn herauszunehmen. Ein mattes Schwarz, der Stoff ist weder besonders dünn noch übermäßig dick. Aber er liegt sehr angenehm in der Hand und als ich ihn hochhebe, um ihn besser zu betrachten, hängt er elegant hinunter. Neugierig schwenke ich ihn leicht nach links und rechts. Der Umhang macht dadurch fließende Bewegungen – fast so, als hätte er ein Eigenleben.
Ein mysteriöses Teil. Und liegt ungewöhnlich kühl auf der Haut. Was das wohl für ein Material ist? Auf jeden Fall keines, das ich kenne.
Aber als Vampirumhang macht sich dieses Kleidungsstück sicher sehr gut. Groß, dunkel, schwarz, nicht zu schwer – ich freue mich schon darauf, ihn anzuziehen.
Was die Mädels da wohl dazu sagen werden?
Ich stelle mir vor, wie ich von hinten unbemerkt an eine junge Frau herantrete und diesen Umhang mit dem kühlen Stoff elegant über eine ihre Schultern werfe.
Sie würde sich furchtbar erschrecken und laut kreischen.
Bei der Vorstellung muss ich kichern.
Oh, Mann, jetzt höre ich mich schon fast so an wie der verrückte Alte.
Peinlich berührt höre ich damit auf.
Trotzdem, der Gedanke, als ehrwürdiger Blutsauger auf der Party zu erscheinen, gefällt mir immer mehr. Wie konnte ich nur auf diese dumme Idee kommen, mich als irgendetwas zu verkleiden?
Dieser alte Typ mag nicht ganz richtig im Kopf sein, doch darin hat er recht. Man sollte sich schon auf etwas festlegen.
Leider muss der Mantel erst mal warten. Er kommt ja erst am Schluss. Ob mir die restlichen Teile auch so gefallen werden?
Das Klügste wird sein, erst mal alles auszupacken und auf den Tisch der Umkleidekabine zu legen. Dann habe ich eine grobe Übersicht, aus was das Kostüm alles besteht und kann mir ein besseres Bild machen.
So bücke ich mich also und hole das nächste Kleidungsstück heraus. Ein rotes Rüschenhemd.
Naja, nicht so mein Stil, aber für einen Vampir wohl Standard.
Es folgen nun diverse Dinge. Manches ist wenig überraschend – wie eine schwarze Hose, das erwähnte Säckchen mit den falschen Zähnen und elegante Herrenschuhe. Mit weißen Lederhandschuhen, Perücke, Socken und Unterwäsche hätte ich jetzt aber nicht unbedingt gerechnet.
Ja, ganz recht. Unterwäsche auch.
Ob das der Grund war, warum der Alte betont hatte, alles anzuziehen?
All diese Dinge fühlen sich, wie der Umhang, seltsam kühl an. Aber nicht feucht oder klamm, wie man es vielleicht von Dingen erwartet hätte, die so lange in einem feuchten Keller in einer verschlossenen Kiste aufbewahrt wurden.
Nein, jedes Teil strahlt eine eigentümliche Kälte aus. Man kennt das ja auch ein wenig von Satin, aber dies ist ein schlechter Vergleich. Nicht alle Teile sind glatt und es ist auch eine andere Art von Kühle. Ohne dass ich es beschreiben könnte.
Sie fühlt sich auch nicht unangenehm an. Je länger ich die einzelnen Teile in der Hand halte, desto vertrauter kommt sie mir vor. Kurz bilde ich mir ein, so etwas zu kennen, eine vage Erinnerung, bevor dieser Gedanke wieder verfliegt.
Stattdessen beschäftigt mich schon wieder die Unterwäsche.
Ich kann doch nicht so etwas anziehen. Das ist doch unhygienisch, oder? Und die sieht doch eh keiner, also was soll das?
Trotzdem kann ich nicht widerstehen, ein Teil davon erneut in die Hände zu nehmen. Ich fasse nach der Unterhose. Also, um Boxershorts handelt es sich nicht, dafür ist sie zu eng geschnitten. Und auch ungewöhnlich lang.
Seltsam…
Und was ist das für ein Stoff? Wolle? Auf jeden Fall weich und angenehm, nur eben kalt. Ob das mit der Zeit die Körperwärme annimmt? Alles andere wäre ja wohl auch ungesund, oder?
Ich beginne ernsthaft, darüber nachzudenken.
Eindeutig lächerlich – ich bin neugierig darauf, eine Unterhose anzuziehen, um zu fühlen, wie sie sich anfühlt.
Färbt der Wahnsinn des Verkäufers langsam auf mich ab?
Andererseits – er hatte ja mehrfach betont, dass ich alles anziehen soll. Also hatte er sicherlich gerade daran gedacht.
Wenn ich das Kostüm vollständig anziehe, es passt und ich es dann ausleihe, habe ich sicher bessere Karten, dass er mir auch die Truhe mit dazu gibt. Natürlich nicht leihweise, dafür würde ich schon sorgen.
Ich untersuche die Unterwäsche genauer. Gerade unheimlich, wie perfekt sie ist. So, als kämen sie direkt aus dem Supermarkt. Sauber, nicht einmal der kleinste Fleck, kein Geruch, einfach nichts. Das einzig Seltsame ist eben diese Kühle.
Aber diese konnte ich ja bei allen Teilen feststellen.
Also, was soll’s?
Ich schlupfe einfach mal hinein. Wenn es nicht passt, kann ich es ja jederzeit wieder ausziehen.
Vor allem sollte ich endlich anfangen. Schließlich möchte ich ja wissen, wie ich als Vampir aussehen werde.