Die Jahre gingen dahin, und so langsam gewöhnte auch ich mich an meine Existenz.
Eric war schon lange ausgezogen, schaute aber immer wieder sporadisch und unerwartet bei uns vorbei. Vermutlich wollte er einfach nach dem Rechten sehen.
Ich hatte mich mittlerweile gut im Griff. Jedoch plagte mich die große Gier nach Blut immer noch dann und wann - unterschwellig haderte ich immer noch damit, zu was ich geworden war.
Wenn mir dies auch erst jetzt, mit diesem neuen Körper, erst richtig klar geworden ist.
Meist jedoch verlief alles gut. Ich hatte inzwischen eine gute Balance zwischen Konserve und Frischnahrung gefunden und reiste meist einige Kilometer in die Nachbarorte, wenn mich das Bedürfnis nach menschlichen Hälsen überkam. Da ich sehr gut darin war, die Gedanken der Sterblichen zu manipulieren, konnte ich mich gut an ihnen laben, ohne unnötiges Aufsehen zu erregen. Wenn notwendig, pflanzte ich dem Umfeld zusätzlich falsche Erinnerungen ein. Die verschwundenen Personen waren dann nicht verschollen, sondern in der Erinnerung der Verwandten und Freunde einfach länger verreist oder hatten angekündigt, sich in der großen weiten Welt umzusehen. Das alles hatte immer gut funktioniert und somit gab es keine Veranlassung, unruhig oder ängstlich zu werden.
Da alles immer so problemlos funktionierte, wurde ich tragischerweise leichtsinnig.
Ich hatte mich am Abend zuvor mit Anna Hahnenkampf zu einem, wie ich zumindest annahm, heimlichen Stelldichein verabredet. Ihre Eltern waren angeblich unterwegs und würden erst spät nach Mitternacht wieder zurückkommen.
Eine gute Gelegenheit also, sich mit ihr direkt in ihrem Elternhaus zu treffen. Anna war eher vorlaut, sehr verwöhnt und meckerte viel – da ich allerdings nur dieses eine Treffen mit ihr vorhatte, störte mich das nicht weiter. Für die junge Frau sollte es nach meinem Plan kein weiteres in ihrem Leben mehr geben.
Unglücklicherweise hatte ich davon abgesehen, die Gedanken ihrer Eltern zu manipulieren. Meiner Meinung nach lohnte sich die Mühe nicht, sie zuvor aufzusuchen, zumal sie eh außer Haus waren.
Ein Fehler, der sich bitter rächen sollte.
Es war kurz also nach Mitternacht, als ich vor ihrer Haustüre stand. Seltsamerweise war diese nicht abgeschlossen, sondern nur angelehnt.
So oder so – ich nahm es als Aufforderung, in das Gebäude hineinzutreten. Offensichtlich wollte Anna sich von meiner Ankunft überraschen lassen.
Oh ja, das würde nicht die einzige Überraschung für sie werden. So dachte ich zumindest.
Auf leisen Sohlen schlich ich hoch im ihr Zimmer. Es brannte nirgendwo Licht, was aber letztlich für mich ja kein Hindernis war. Wir Vampire sehen im Dunkeln ausgezeichnet. Voller Vorfreude fasste ich an die Türklinke, um die Türe zu ihrem Zimmer zu öffnen und einzutreten.
Keine zwei Schritte, und eine schwere Gestalt stürzte auf mich zu. So überrumpelt war ich, dass ich mich im ersten Moment nicht wehrte, sondern mich zu Boden drücken ließ. Gleichzeitig wurden Licht gemacht, so dass man mich nun gut sehen konnte.
Erst als ich schon unten lag, reagierte ich endlich und schnellte mach oben. Sofort sendete ich einen telepathischen Hilferuf an meine Familie, denn ich spürte, dass ich in großer Gefahr war.
Als Blutsauger habe ich enorme Kräfte und kann einen Sterblichen ohne weiteres problemlos besiegen. Hier waren es jedoch ein gutes duzend Männer, die nun alle auf mich zustürmten und mich wieder zu Boden pressen wollten. Wütend drehte ich mich um die eigene Achse, verteilte links und rechts Fauststöße und wand mich wie ein Aal aus den Griffen dieser Männer, die mich immer wieder festzuhalten versuchen.
Das anschließende Handgemenge dauerte sicher nur wenige Minuten, auch wenn es mir wie eine Ewigkeit vorkam. Immer wieder gelang es mir, meine Gegner kurzfristig außer Gefecht zu setzen. Aufgrund der vielen Angreifer und des engen Raums erwischte ich sie jedoch nicht richtig, so dass sie leider nicht ernsthaft verletzt wurden und recht rasch wieder weiterkämpfen konnten. Aber der Ausruf „Auf den Boden mit ihm! Der Holzpfahl!“, der von Annas Vater kam – ich kannte diese näselnde, hohe Stimme nur allzu gut – trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei.
Die Falle, die man mir gestellt hatte, war zugeschnappt.
Eigentlich hätte ich trotz ihrer Übermacht diesen Kampf gewinnen müssen. Nur leider verlor ich in einem kurzem Moment unglücklich das Gleichgewicht und taumelte. Sofort wurde ich auf die Erde gerissen und jemand schrie erneut nach dem Holzpflock.
Dann ging alles ganz schnell. Schon spürte ich diesen verdammten Keil, den man mir halb in mein Herz rammte und mein Kopf schien zu explodieren vor Schmerz. Auch wurde mir schwarz vor Augen. Ziemlich sicher habe ich auch laut geschrien.
Zur gleichen Zeit schien es aber im dem Raum noch enger zu werden.
Die Männer schrien und irgendetwas hinderte meinem Mörder daran, den Pflock noch weiter nach vorne zu bewegen. Kampflärm drang an mein Ohr, welches ich jedoch nur gedämpft wahrnahm. Obwohl der Angriff auf mein Vampirherz nicht richtig durchgeführt worden war, spürte ich, wie meine Kräfte zu schwinden begannen und ich in ein undefinierbares Nichts abzudriften begann. Mein Leben begann, aus mir herauszufließen.
Bis sich etwas änderte.
Immer noch zu schwach, um die Augen zu öffnen, zu sprechen oder mich zu bewegen, fühlte ich mich plötzlich ein wenig besser. Wie durch Watte drangen bekannte Stimmen zu mir und ich spürte ein wenig Feuchtigkeit auf meiner Zunge.
„Schluck, Alessandro, das wird dir guttun“, hörte ich meine Mutter verzweifelt bitten.
„Damit verzögern Sie sie das Unvermeidliche nur. Sie können ihn nicht retten.“
Das war doch Eric, der da sprach, oder?
War damit also mein Ende gekommen?