Immer wieder forderte meine Mutter Maria meine Geschwister oder meinen Vater auf, sich in den Arm zu beißen und Blut in meinen Mund hineinzuträufeln.
Eric schien davon jedoch weiter nichts zu halten. „Solange der Pflock drinsteckt, hat er keine Chance.“
„Dann ziehen wir ihn raus!“, rief meine Mutter.
„Schatz, bitte“, widersprach mein Vater. „Dann ist er gleich… tot.“
„Er ist doch schon tot, so wie wir alle. Verdammt! Da muss man doch was tun können.“
Keiner antwortete.
Ich selbst war viel zu schwach, um zu reagieren. Auch ließ mich die Eröffnung, dass dies nun mein Ende sein sollte, seltsam kalt. So, als würde mich die ganze Situation gar nicht betreffen.
Meine Familie spendete weiterhin abwechselnd ihr Blut, wie ich an meiner feuchten Zunge spüren konnte. Leider konnte ich nicht schlucken, aber ich merkte sehr wohl die Tropfen, die meinen Rachen hinunterliefen und mir halfen.
Aber ewig würde meine Familie das nicht durchhalten. Und was geschah dann.
Es war eine unheimliche Stille – oder hörte ich nur die anderen nicht? – und ich genoss auf bizarre Weise meinen Zustand – irgendetwas zwischen Wachsein und Schlaf, in dem ich umherdriftete und der mir etwas Linderung verschaffte. Ich verlor auch jegliches Zeitgefühl, was mich aber nicht weiter störte.
Irgendwann – nach Minuten oder Stunden – nahmen die Schmerzen wieder zu und mir drangen die Worte meines Vater ans Ohr: „Sei doch vernünftig, Liebling. Das macht keinen Sinn mehr. Lass ihn gehen.“, beschwor mein Vater.
„Es gibt eine Möglichkeit.“, verriet Eric unerwartet und kicherte leise.
Wieder einmal war es meine Mutter, die darauf reagierte: „Was für eine Möglichkeit?“
„Ich kann ihn verfluchen und seinen Geist in seine Kleidung bannen.“ Weshalb kicherte er immer noch?
Und was ist das für ein Mist, den er da erzählt?
„Erklären Sie mir das bitte!“, erkundigte sie sich erstaunlich kühl.
„Nein!“ Er war nun wieder ernst. Selbst in meinem Ringen zwischen Leben und Tod erkannte ich die Härte in seiner Stimme.
„Schatz, ich will nicht, dass hier irgendein Zauber an unserem Sohn angewendet wird.“, widersprach mein Vater besorgt.
Ganz seiner Meinung! Am liebsten hätte ich zustimmend genickt.
„Bitte Eric, ich brauche mehr Informationen darüber.“, bat meine Mutter stattdessen und ignoriert meinen Vater einfach.
Weshalb bekam ich alles so deutlich mit, trotz meines erbärmlichen Zustands? Ob das am vampirischen Blut meiner Familie lag? Oder war da bereits irgendein Zauber am Werk?
Erics Erwiderung kam postwendend: „Alessandro wird zum Kostüm, und ich werde ihn zu mir nehmen. Er hat hübsche Haare und Zähne, diese werde ich einbinden. Solange, bis ich einen geeigneten Träger gefunden habe. Dann kommt er zu Ihnen zurück.“
Hilfe! Das ist Irrsinn! Weshalb nur hörten sie sich diesen Nonsens überhaupt an? Merkten sie denn nicht, wie euphorisch der Alte im Moment wirkte? Und dann will er mich auch noch mit zu sich nehmen?
Und weshalb konnte ich mich nicht bemerkbar machen und ihnen meine Gedanken mitteilen, wenn ich doch sonst alles genau hören konnte?
Verhinderte Eric das etwa?
Wollte er, dass genau das geschah, was er gerade vorschlug?
Wieder reagierte nur meine Mutter – dem Rest der Familie hatte es augenscheinlich die Sprache verschlagen: „Wer kommt als Träger infrage?“
Weshalb wollte sie gerade das wissen? Hatte sie überhaupt verstanden, welchen Wahnwitz der Alte gerade vorschlug?
„Ein Mensch. Etwa in Alessandros Alter zum Zeitpunkt der Wandlung. Ihr Sohn wird seinen Körper samt Geist übernehmen, sobald das Opfer dieses Kostüm vollständig angezogen hat. Der Sterbliche wird zu Alessandro und zum Vampir.“
„Ein Sterblicher? Das ist sehr gut.“. Noch nie hatte sie sich so hasserfüllt und rachsüchtig angehört. „Besteht die Möglichkeit, dass er meinem Sohn widerstehen kann?“
„Nein.“ Nun war Eric wieder kurz angebunden. „Wie entscheiden Sie sich? Wenn ich Alessandro verfluchen soll, muss ich bald beginnen, sonst ist es zu spät.“
Verdammt! Ich will nicht sterben, aber noch weniger in einem Stoff gefangen sein!
Und wer garantiert, dass Eric auch wirklich den richtigen Träger aussuchte? Er kannte sich mit Vampiren aus. Was, wenn er das Kostüm lediglich für sich selbst wollte?
Ich spürte nur zu deutlich, wie mächtig er war. Zu mächtig, als dass ich ihn hätte kontrollieren können. Nahm er mich in dieser veränderten Gestalt mit sich, konnte er sich selbst jederzeit die Verkleidung überstreifen und das Vampirsein ausprobieren, wann immer es ihm in den Sinn kam. Oder er würde mich an ein anderes mächtiges Wesen weiterreichen, den ich dann dienen musste.
Bitte geht nicht darauf ein!
Leider wurde dieses Stoßgebet nicht erhöht. Im Gegenteil. Ganz deutlich konnte ich die Begeisterung meiner Mutter hören: „Also wird der Sterbliche quasi die Hülle der Wirt für Alessandro sein. Und mein Sohn der Parasit, der das Sagen hat.“ Sie lachte kurz auf. „Das kling gut. Sehr gut sogar.“
Der anschließenden Diskussion meiner Familienmitglieder konnte ich leider nicht wirklich folgen, da ich mich plötzlich wieder schwächer fühlte.
Aber umso deutlicher vernahm ich nach einiger Zeit wieder meine Mutter – natürlich – die laut und deutlich die Entscheidung mitteilte: „Die Sterblichen sollen zahlen. Rache dafür, dass sie Alessandro auf dem Gewissen haben. Ich will, dass einer von ihnen aus seinem Leben herausgerissen wird. Weg von seinen Liebsten, seiner Familie, seinen Freunden. Sie alle sollen leiden. Er soll für meinen Sohn geopfert werden.“
Aber meine Angreifer waren doch hoffentlich tot, oder? Ich konnte mir nun wirklich nicht vorstellen, dass meine Familie einer von ihnen am Leben gelassen hatte.
Aber meine Angehörigen wollten Vergeltung. Was ich durchaus verstehen konnte.
Nur bitte nicht so.
Ich wollte nicht in diese Existenz gezwungen werden, eingesperrt und gefangen in diesem lächerlichen Stoff.
Vater! Mutter! Eric! Hört mich endlich, ich will das nicht!
Die Stimme des Mannes klang emotionslos und sachlich, als er befahl: „Dann hört auf, ihm Blut einzuflößen, damit ich mit meinem Ritual beginnen kann.“
Bemerkung:
Alessandro möchte diesen Zustand nicht und wird quasi dazu gezwungen – diese Idee kam mir erst während des Schreibens. Genauso wie die Möglichkeit, dass Eric mit dem Kostüm „Schindluder“ treiben könnte. Man kann sich dazu im Kopf einige Szenarien vorstellen. Was nicht heißt, dass es auch so passiert ist – wohlmöglich lag ‚Alessandro‘ tatsächlich in all den Jahren unberührt in dieser Truhe. Oder eben nicht und Eric, gegebenenfalls auch weitere, trugen sein Kostüm und sorgten unter anderem für die vielen Toten im Stadtviertel des Kostümverleihs.
Alles ist möglich und der Fantasie der Leser überlassen.