Innerlich bin ich zwiegespalten.
Ohne Eric würde Alessandro Martinelli nicht mehr existieren und dafür bin ich ihm natürlich dankbar. Andererseits hatte er mich viele, viele Jahre in seiner Gewalt, während ich hilflos in Stoff gebannt verflucht in dieser Kiste lag. Daran kann ich mich irgendwie erinnern, sonst liegt alles im Dunkeln.
Hoffentlich kommen mir da noch einige Erkenntnisse. Bei der Vorstellung, dass Eric möglicherweise weiß Gott was mit mir angestellt haben könnte, wird mir fast ein wenig übel.
Der Typ ist mächtig und deshalb werde ich ihm den Gefallen tun und Bruno notgedrungen zu ihm bringen.
Nach dem Essen.
Ich beobachte möglichst unauffällig die anderen Gäste.
Emma, eine junge Teenagerin im Alter von 16 Jahren aus Franks Bekanntenkreis, steht in einer Traube mit ihren Freundinnen. Sie tuscheln miteinander. Ich kenne sie nicht näher, aber mit ihren langen blonden Haaren und schlanken, aber nicht dürren Figur ist sie sehr attraktiv. Und hat mit Sicherheit besseres Blut als manch Raucher hier oder andere Menschen mit chronischen Krankheiten.
Trotzdem hält mich etwa davon ab, mich an ihr zu vergehen.
Mitleid?
Ich weiß es nicht, aber ich spüre Hemmungen, sie mit ihren jungen Jahren schon des Lebens zu berauben.
Vielleicht doch ein Mann? Vom Blut her spielt es keine Rolle, und dass Männer zusammen weggehen, wird sicher auch hier akzeptiert werden.
Aber es wird eher auffallen, als wenn ich mit weiblicher Begleitung die Halle hier verlasse.
Während ich mich unschlüssig durch die Menschenmenge bewege, nehme ich auf einmal einen besonderen Geruch war.
Nein, kein Parfum. Es ist der Geruch von Blut.
Ich kann es von jedem riechen, wenn ich mich konzentriere. Schließlich bewege ich mich inmitten meiner möglichen Nahrungsquelle, der Wolf mitten in der Schafsherde, sozusagen.
Aber dieser Duft zieht mich besonders an.
Entschlossen nehme ich Witterung auf. Egal wie alt oder welches Geschlecht, diese Person wird es werden. Sie wird mich nähren, mein Festmahl sein. Nicht nur zum Naschen oder für den gröbsten Hunger – ich werde sie aussagen bis auf den letzten Tropfen.
Meine Nasenflügel zittern leicht, als ich vorsichtig der Spur folge.
Und dann sehe ich sie.
Da sitzt sie, als Gespenst verkleidet, ganz alleine an einem der Tische und blickt sich gelangweilt um. Den Gläsern um sie herum entnehme ich, dass sie in einer kleinen Gruppe unterwegs ist, die anderen aber im Moment abwesend sind. Vielleicht etwas zu Essen oder Trinken holen oder auf der Toilette.
Langsam nähere ich mich.
Ja, kein Zweifel, sie ist mein Ziel. Und zweifelsfrei keine Heranwachsende mehr. Schätzungsweise etwa in meinem Alter, das dieser Körper hatte, bevor er gewandelt wurde.
Ich schleiche in ihren Kopf ein und bringe sie dazu, in meine Richtung zu blicken.
Unsere Augen treffen sich.
Ich sorge dafür, dass sie weiterhin gebannt in mein Gesicht starrt, während ich mit langsamen Schritten auf sie zugehe. Ich muss dafür auch gar nicht viel tun – sie ist auch ohne Manipulation von mir fasziniert.
Umso besser.
Und welch eine Ironie, dass sie sich als Tote verkleidet hat. Denn genau das wird sie bald sein.
„Guten Abend“, begrüße ich sie mit dunkler Stimme, als ich ihr schließlich gegenüberstehe.
Testweise ziehe ich mich wieder aus ihrem Geist zurück. Verlegen dreht sie daraufhin den Kopf zur Seite, wohl selbst peinlich berührt über „ihr“ freches Mustern.
Und der leicht rote Kopf, wie niedlich.
Unsicher räuspert sie sich. „Sprechen Sie öfters fremde Frauen an?“
Ich lächle freundlich. Sonst bin ich durchaus nicht abgeneigt, meine Blutmahlzeiten etwas hinauszuzögern, ein Vorspiel gepaart mit Vorfreude, sozusagen.
Da mein Magen jedoch schon länger knurrt, wird es diesmal nicht allzu lange gehen.
„Oh nein. Aber Sie musste ich einfach ansprechen“, süßholzrasple ich. „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle? Alessandro Martinelli“
Sie schaut ein wenig irritiert, auch angesichts meiner kleinen Verbeugung, mit der ich meine Rede abschließe.
Da sie nicht sofort reagiert, ergänze ich: „Meines Zeichens Vampir. Und wie darf ich Sie nennen, Frau Geist?“
Nun muss sie doch kurz grinsen, ehe sie antwortet: „Roswitha Bohms. Sie sind ja ganz schön dreist, Herr Alessandro.“
„Ich wollte eigentlich charmant sein. Weshalb sitzt so eine hübsche Frau wie Sie ganz alleine am Tisch?“
„Eine meiner Freundin ist schon gegangen und Jürgen und Monika holen sich gerade etwas zum Essen und Trinken“, verrät sie mir.
„Es ist unhöflich, eine attraktive Lady warten zu lassen“, schmeichle ich weiter und fange an, sie mental zu beeinflussen. „Darf ich diesen Fauxpas ihrer Bekannten ausgleichen und Sie zur Bar zu einen Trink einladen?“