Der Anfang einer Geschichte sollte spannend sein und außergewöhnlich. Zumindest war es das, was man Ruben immer erzählt hatte. Doch der Anfang seiner Erzählung war keines von beidem. Nein, er war gänzlich anders.
Ruben stand mit einem großen Koffer und einer Reisetasche als Gepäck, völlig durchnässt vor dem Haus, das er später Zuhause nennen sollte. Er kannte es nicht. War nie zuvor hier gewesen. Allenfalls die Erzählungen seines Vaters hatten ihm ein Bild des Hauses, in der dieser seine schönsten Kindheitsstunden erlebt hatte, näherbringen können. Wobei ‚Haus‘ hier eindeutig das falsche Wort war, denn Kaene Manor war ein altes Cottage, welches schon an seinem Platz gestanden hatte, als seine Urgroßmutter gelebt hatte.
Auf den ersten Blick wirkte es unscheinbar und leicht vernachlässigt. Die Fassade konnte einen neuen Anstrich vertragen und der Efeu, der eben diese überwucherte, musste mal entfernt werden. Das Anwesen wirkte, als befände es sich in einer Art Winterschlaf, der schon viel zu lange anhielt.
Ruben fragte sich für einen Moment, ob er hier wirklich richtig war, doch es war das einzige Anwesen unweit des kleinen irischen Dorfes und den weiten Weg den Hügel hinunter wollte der Junge zu Fuß nicht wieder gehen. Zugegeben, er war etwas erbost darüber, dass ihn der Taxifahrer nicht bis nach oben gefahren hatte. Zumal es wie aus Eimern schüttete. Und er hatte gedacht, es würde nur in England ständig regnen. Doch Irland schien dem in nichts nachzustehen. Ruben verstand nicht, warum er bei diesem Wetter den Weg hochlaufen musste, wenngleich die Straße hinauf gepflastert war. Doch der Taxifahrer hatte darauf bestanden, ihn am Fuße des Hügels, auf dem Kaene Manor wie ein Ungeheuer thronte, abzusetzen.
Jetzt war er völlig durchnässt, weil er keinen Schirm hatte. Irgendwie passte das Wetter ja zu seiner Stimmung. Ihm war nach heulen zumute.
Als Ruben die Tränen erfolgreich hinuntergedrängt hatte und die Klingel betätigte, war ihm mulmig zumute. Er hatte sich darauf gefreut, endlich in sein neues Zuhause zu kommen, doch jetzt wusste er nicht, wie er sich fühlen sollte. Ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals.
Zuhause. Ob es wirklich eines für ihn werden könnte? Er hatte Hoffnung. Hoffnung, dass endlich alles besser werden würde. Wie könnte es denn auch schlechter werden? Es war ja schon schlimm genug. Seine Eltern waren tot. Er hatte niemanden mehr. Keinerlei weiteren Verwandten, einfach keine Menschenseele. Sein Patenonkel war alles, was ihm geblieben war. Wenngleich er ihn nicht einmal kannte. Für ihn war er ein völlig Fremder und der Einzige in einem ihm unbekannten Land, der ihm zu dieser schweren Zeit zur Seite stehen konnte. Hätte man Ruben vor einem Jahr gesagt, dass es nicht umsonst gewesen war, zweisprachig aufgewachsen zu sein, weil er einmal in der Heimat seines Vaters leben würde, so hätte er denjenigen ausgelacht.
Ruben betätigte die Klingel erneut und seufzte leise, während er über sein von jetzt an so völlig neues Leben nachdachte. Das Läuten war laut und klang, als würde es im ganzen Haus widerhallen. Es geschah aber auch nach dem zweiten Klingeln lange Zeit nichts, dann knarzte der Boden unter schweren, sich nähernden Schritten und die Tür wurde geöffnet.
„Oh, hallo, du musst Ruben sein“, begrüßte ihn ein Mann Anfang dreißig. Zumindest schätzte Ruben ihn so ein. „Ich bin Gregory Kaene, dein neuer Vormund und Herr des Hauses.“
Er lächelte zuerst freundlich, was ihm einen sympathischen ersten Eindruck verlieh, doch dann veränderten sich seine Gesichtszüge und wirkten steif. Ruben überlegt es sich anders. Nein, er sah doch nicht so sympathisch aus. Außerdem war der Junge etwas irritiert. Die strenge und eher altbackene Kleidung ließ den Mann auf den ersten Blick wie mindestens fünfzig aussehen. Doch wenn man dem Hausherren ins Gesicht sah, wusste man sofort, dass dieser keine vierzig war.
„Na komm schon rein, Junge. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit“, murrte der Mann und öffnete die Tür ein wenig weiter. „Ich zeige dir das Haus und dein neues Zimmer.“
Warum war er so ungeduldig? Ruben fühlte sich nicht gerade willkommen.
Der Hausherr trat zur Seite und ließ den Jungen eintreten. Hinter ihm schloss er die Tür und ging dann vor.
Ruben folgte dem Mann durch einen geräumigen Eingangsbereich, der einer kleinen Halle glich. An den Wänden hingen ein paar Ölgemälde von Reitern bei der Jagd, älteren Herrschaften und Landschaften. Außerdem gab es eines, auf dem der Hausherr persönlich zu sehen war. Die Gesichtszüge und das strenge Auftreten erkannte Ruben sofort. Nur schien der Mann auf dem Gemälde deutlich jünger zu sein. War er schon immer so altbacken gewesen? Ein Schmunzeln huschte über Rubens Gesicht, als er sich einen kleinen Jungen in Leinenhosen und Strickweste vorstellte.
„Die Gemälde gehören schon seit Jahrhunderten in Familienbesitz“, gab Gregory mit deutlichem Stolz in der Stimme an. „Damals war es üblich, ein Porträt von sich anfertigen zu lassen, also tat ich es auch.“
Ein Beistelltisch mit einer Schlüsselschale stand neben der Eingangstür, welche man mit einem großen schweren Vorhang verdecken konnte. Vermutlich, um im Herbst und Winter die Kälte draußen zu halten. Ruben kamen sofort alte Filme in den Sinn. Spukhäuser und Gruselgeschichten. Gespenster hinter Vorhängen. Gegenüber einer langen Treppe, die nach oben zu einer Galerie führte, stand eine Kommode aus dunklem Eichenholz. Sie war bestimmt schon tierisch alt. Die Einrichtung des Hauses wirkte, wie aus einem anderen Jahrhundert. Alles war so düster und unterstützte somit nur Rubens dumpfes Gefühl der Einsamkeit in ihm.
Sie bogen am Treppenabsatz ab und betraten ein geräumiges Esszimmer. Es war recht karg eingerichtet, bis auf eine lange Tafel mit insgesamt sechs Stühlen. Eine Vitrine mit feinem Porzellan zierte eine der getäfelten Wände, ein weiteres Ölgemälde eine andere. Hatte sein Patenonkel das Haus so eingerichtet?
„Das Porzellan wird nur zu besonderen Anlässen genutzt“, teilte Gregory dem Jungen mit, der von so viel Input überfordert war.
Er war müde, erschöpft und, wenngleich beeindruckt, fühlte er sich deprimiert. Seine Eltern hatten ihr Haus modern eingerichtet und viel Wert auf moderne Kunst gelegt, die sie in jeder Ecke ausgestellt hatten. Es war alles, was Ruben je gekannt hatte. Jetzt war er hier in einem Haus, welches ihm fremder nicht erscheinen konnte. Er gehörte hier nicht her.
Allein diese Einrichtung war ihm Welten von allem Gewohnten entfernt. Eine antike Vase in der Ecke, ein altertümliches Sofa an der Wand, direkt unter einem Fenster. Ein alter Läufer führte durch den Raum. Eine ziemlich altmodische Einrichtung. Doch sein Patenonkel Gregory Kaene schien das anders zu sehen. Nach Besichtigung des Esszimmers führte Gregory den Jungen in ein ebenso altmodisch eingerichtetes Wohnzimmer. Das einzig moderne hier war ein großer Fernseher und eine recht neu erscheinende Wohnlandschaft. Danach zeigte Gregory ihm die Küche, sowie die Treppe zum Keller, die von der Eingangshalle hinunterführte und gut versteckt war.
„Hier geht es zum Weinkeller, zur Waschküche und einem Lagerraum, aber du wirst dort nie hinunter müssen. Es ist das Reich meiner Haushälterin.“
Ruben erwiderte nichts. Ihm war nicht nach Reden zumute und Gregory schien sich nicht daran zu stören. Der Kloß in seinem Hals wurde immer größer, umso mehr er von dem Haus sah.
Durch das Wohnzimmer ging es nach draußen auf die Terrasse, die mit einem großen Pool endete. Wenigstens etwas Modernes in der Tristheit der Vergangenheit. Der Regen hatte mittlerweile aufgehört und es kam sogar die Sonne raus. Ruben atmete tief durch. Dieses Haus schien ihm die Luft zum Atmen zu nehmen. Der Frühling präsentierte seine schöne Seite. Ein Blick in den weitläufigen Garten zeigte, dass Ruben lange brauchen würde, um das Anwesen nebst immensem Grundstück komplett zu erkunden.
„Schwimmst du oft im Pool?“, fragte der Junge neugierig und um die angespannte Stimmung zu lösen.
„Jeden Tag“, antwortete sein neuer Vormund mit Stolz.
Damit war das Gespräch leider auch schon beendet und Gregory führte ihn die große Wendeltreppe hinauf. Ruben hatte nie ein so riesiges Haus gesehen. Wenn allein die untere Etage so gigantisch war, wie würde es dann erst die Obere sein? Die schiere Größe der Zimmer des Erdgeschosses ließen viel erwarten.
Sie liefen über knarzende Stufen hinauf und Ruben staunte schon jetzt nicht schlecht, denn oben ging es nicht weniger weitläufig weiter. Ein langer Flur führte links und rechts tiefer ins Haus. Die Galerie zierten weitere Ölgemälde. Wenn man hinunter über die Brüstung sah, konnte man die Eingangshalle sehen. Es war eben ein echtes Herrenhaus. Irgendwie erschien Ruben die Vorstellung von nun an hier zuhause zu sein plötzlich nicht mehr so düster.
Sie bogen links ab. Der Flur schien Ruben unendlich, mit unzähligen Zimmern, wenngleich er das Ende des Ganges noch sehen konnte.
Eine Tür neben ihm wurde aufgestoßen und er trat in den vor ihm liegenden Raum.
Das Zimmer war groß und karg eingerichtet. Ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch. Alles in dunklem Holz. Massiv, wuchtig. Eine weitere Tür ging von diesem Raum ab, vermutlich führte sie in ein angrenzendes Badezimmer. Der Fußboden war aus altem Parkett, die Wände wie überall im Haus getäfelt. Mit dem einzigen Unterschied, dass die obere Hälfte tapeziert war. Blassblau mit weißem Blumenmuster. Nicht gerade Rubens Geschmack. Allein die dunklen Möbel. Bah.
„Hier ist dein neues Zimmer.“ Gregory wandte sich zum Gehen, blieb dann aber noch einmal stehen, schien sich die nächsten Worte gut zu überlegen, drehte sich erneut zu dem Jungen um und sagte: „Du kannst mich Greg nennen.“
„Okay“, antwortete Ruben. „Dann bist du also mein Patenonkel.“
Der Mann, der sich als Greg vorgestellt hatte, lachte. „Natürlich bin ich das. Was denkst du denn? Du kannst in Ruhe auspacken. Dein Gepäck scheint schwer zu sein. Ich warte im Esszimmer auf dich. Falls du vorher irgendetwas brauchst, kannst du einfach rufen. Und du kannst ruhig ein Bad nehmen oder duschen. Es muss ziemlich ungemütlich sein, in der nassen Kleidung.“
Mit diesen Worten verschwand Greg und ließ Ruben allein zurück. Die restlichen Zimmer im oberen Bereich des Hauses zeigte er ihm nicht. Aber das störte den Jungen keineswegs. Er war ohnehin erschöpft vom Flug und wollte sich gerne etwas ausruhen.
Das erste Mal schaute er sich in seinem neuen Zimmer um. Es wirkte trist, nicht wirklich bewohnt. Doch er würde es sich schön einrichten. Vielleicht konnte er die Tapete streichen und ein paar Möbel durch neuere ersetzen.
Ruben stellte sein Gepäck neben dem Bett ab, streckte sich ausgiebig, ging zum Fenster. Er schob die schweren dunklen Vorhänge beiseite und öffnete es. Tief atmete er die frische Luft ein. Hier drinnen kam es ihm so stickig vor. Stickig und finster. Als ob etwas Dunkles in diesem Haus wäre. Etwas, was ihn mit seinen Schatten umarmen wollte. Ruben fröstelte es bei dieser Vorstellung. Er sehnte sich nach seinem alten Zimmer, mit den hellen Möbeln und dem Blick auf die Straße. Zumindest war der Ausblick hier schöner.
Der Blick, den er genießen konnte, war atemberaubend. Anders konnte er es nicht ausdrücken. Die weite Gartenlandschaft mit Wiesenblumen und kleinen Büschen hatte er bereits von der Terrasse aus bewundern können. Doch erst von hier oben konnte er sehen, wie weitläufig das Grundstück war.
Mitten im Garten befand sich ein großer Brunnen, der fast als Teich hätte durchgehen können. Kitschig, aber irgendwie auch schön. Weiter hinten konnte Ruben etwas ausmachen, das aussah, wie ein riesiger Irrgarten. Er konnte es kaum glauben. Ein Labyrinth im Garten. Das war schon dekadent und protzig! Wie bei feinen Leuten. Solche wie seine Eltern es gewesen waren.
Das Fenster geöffnet, streckte er sich und beschloss, nachdem er ausgepackt hatte, nach unten zu gehen. Immerhin wartete sein Ziehvater auf ihn. Er mochte zwar keinen besonders netten Eindruck auf Ruben machen, aber eventuell irrte er sich ja. Vielleicht war er eigentlich ein liebenswerter Kerl, der einfach nur einen schlechten Tag hatte. Zumindest hoffte Ruben dies. Er öffnete seinen Koffer und begann sich umzuziehen. Duschen würde er später.
Als er das Esszimmer betrat, saß Greg steif an einem Ende der langen Tafel. Er legte ein Buch zur Seite, als Ruben näher kam und sich direkt neben ihn setzte.
„Ich freue mich, dass du hier bist.“
Ruben wusste nicht, was er sagen sollte. Ganz aufrichtig wirkten diese Worte nicht. Eher so, als würde Gregory irgendeiner Pflicht nachkommen, die er nicht mochte. So wie Ruben den Mathematikunterricht in der Schule.
„Danke, dass Sie mich aufgenommen haben“, brachte er schließlich hervor.
Was hätte er denn sonst sagen sollen.
Und Gregory erwiderte: „Du hast niemand mehr und, um ehrlich zu sein - ich habe es deinem Vater versprochen. Außerdem hattest du keine große Wahl. Du brauchst gerade jetzt jemanden, der nur für dich da ist, und das hättest du in deiner Heimat nicht bekommen. Und allein zu sein würde dir in deiner Situation auch nicht helfen. Außerdem denke ich, deine Eltern wären böse gewesen, hätte ich es zugelassen, also habe ich dich aufgenommen. Mein Haus hat mehr als genug Platz und ich bin hier allein. Ich könnte ein wenig Gesellschaft und Abwechslung vom eintönigen Alltag gebrauchen.“
Wenn man den ganzen Tag allein war, dann brauchte man die wohl, dachte sich der 17-Jährige. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was man in so einem Haus allein hätte tun sollen.
„Was machst du denn beruflich?“, fragt er neugierig.
„Ich bin Autor. Von Kriminalromanen größtenteils, aber ich schreibe auch Erwachsenenliteratur und Horror.“
Damit schien das Gespräch schon wieder beendet zu sein. Ruben kam sich seltsam vor. Dieses große Haus, dieser komische Kauz. Er wusste einfach nicht, wie er sich fühlen sollte. Doch am ehesten fühlte er sich verlassen und einsam. In seinem Herzen klaffte ein Loch, welches wohl nie wieder gefüllt werden konnte. Völlig allein in diesem riesigen Haus, welches von außen aussah, als wäre es unendlich groß, mit einem Mann, den er doch eigentlich gar nicht kannte.
Der Junge seufzte. Seit dem Tod seiner Eltern war so unglaublich viel passiert, das er verarbeiten musste. Er hatte seine wenigen Freunde verlassen müssen, seine gewohnte Umgebung. Sie hatten ihm nie besonders viel bedeutet, und doch waren sie wenigstens Personen, die er kannte und mochte. Jetzt waren sie hunderte entfernt. Er hatte keine Chance, wieder zu ihnen zu kommen, würde hier versauern. Zumindest das komplette nächste Jahr. Dann, vielleicht, würde er zurückkehren und sie waren nicht mehr die, die er kannte.
Ruben versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken. Scheiße! Dachte er. Fuck, das ist ein neues Leben. Ein völlig neues Leben. Er merkte nicht, wie eine Träne seine Wange hinab kullerte und in seinem aufgestellten weißen Kragen verschwand. Sein Pullunder wurde ihm plötzlich zu eng, schnürte ihm die Luft ab. Er hatte das Gefühl nicht mehr atmen zu können.
„Hey, Junge du musst nicht traurig sein. Ich bin da“, sagte Gregory freundlich.
War er das wirklich? Ruben konnte es sich kaum vorstellen. Immerhin, er hatte ihn scheinbar nur zu sich geholt, um nicht allein sein zu müssen. Und um kein schlechtes Gewissen zu haben.
„Ich ...“, stotterte der Braunhaarige. „Ich würde gerne in mein Zimmer gehen, wenn das in Ordnung ist.“
Ihm war es furchtbar peinlich, hier in Tränen auszubrechen.
Gregory nickte.
„Geh ruhig. Um 18 Uhr gibt es Abendessen und so lange kannst du dich hier gerne ein wenig umsehen. Aber die verschlossenen Räume sind für dich tabu. Hast du verstanden?“
„Natürlich“, antworte Ruben, der gerade nicht mehr sonderlich aufnahmefähig war und sich nur noch in seinem Bett verkriechen wollte.
„Guter Junge“, lobte Gregory ihn wie einen Hund. „Dann dürfte alles klar sein.“
Mit diesen Worten stand Rubens neuer Vormund auf und verschwand aus dem Raum. Ruben blieb zurück. Hatte Gregory etwa pikante Geheimnisse?, ging es Ruben durch den Kopf. Einen Moment unentschlossen, was er jetzt tun sollte. Dann entschied er sich, einfach nach oben zu gehen und seinen Schrank einzuräumen.
Lange hatte er damit allerdings nicht zu tun. Viel Gepäck hatte er nicht. Nur den großen braunen Koffer, den sein Vater ihm hinterlassen hatte. Und der war nicht mal voll. Den größten Teil seiner Sachen, all den alten Ballast, hatte er zusammen mit seinem vergangenen Leben zurückgelassen. Nur wenige, ihm persönlich wichtige Dinge hatte er mitgenommen. Ein paar Bücher, seine Kleidung, Erinnerungen an eine unbeschwerte Zeit. Nicht viel. Nur eben das für ihn Nötigste. Alles andere erinnerte ihn nur daran, was er verloren hatte.
Er setzte sich auf sein neues Bett und seufzte. Die Matratze war fest und unbequem. Nicht so wie seine Eigene in seinem alten Zuhause.
Er hatte ein gutes Leben gehabt. Ein Schönes. Er hatte in einem ruhigen Viertel von Kiel gelebt, in einem großen Haus mit Köchin und Haushälterin und einem Kindermädchen. Es war ihm gut gegangen und es hatte ihm an nichts gefehlt. Abgesehen von der Liebe seine Eltern. Doch wenngleich sie ihm nie die Aufmerksamkeit geschenkt hatten, nach der er sich immer gesehnt hatte, war Ruben nicht einsam gewesen. Niemals. Doch jetzt, hier in diesem fremden Land, in diesem alten Haus, mit diesem für ihn unbekannten Mann, da fühlte er sich einsam und allein.
Er ließ sich nach hinten auf die Matratze plumpsen und sah an die Decke. Ruben konnte nicht verhindern, dass ihm die Tränen liefen. Ein dicker Kloß setzte sich in seiner Kehle fest und er kam nicht dagegen an. Und dann heulte er wie ein Schlosshund. Geweint hatte er bisher nicht eine Träne. Seit seine Eltern tot waren, hatte er nur noch funktioniert. Er hatte funktioniert, als das Jugendamt mit der Polizei vor der Tür stand und sein Kindermädchen ihm erzählt hatte, dass seine Eltern tot waren. Er hatte nicht geweint, als die Beerdigung war und er hatte nicht geweint, als ihm mitgeteilt wurde, dass sein Patenonkel Gregory ihn aufnehmen würde, weil er in seiner Verfassung nicht für ein betreutes Wohnen geeignet war. Und er hatte auch nicht geweint, als er ins Flugzeug stieg und nach Irland flog. Aber jetzt weinte er bitterlich. All die Tränen, die nicht vergossen worden waren, mussten raus und Ruben ließ es zu, bis er zu erschöpft vom Weinen war und sein Körper sich das holte, was er gerade am meisten benötigte. Schlaf.
Dementsprechend war es recht spät, als er erwachte. Die Sonne war bereits dabei, unterzugehen, als er sich entschloss, das Haus auf eigene Faust zu erkunden.
Er betrat den düsteren Flur, schaute sich nach beiden Seiten um, und überlegte, in welcher Richtung er sich zuerst umsehen sollte. Schließlich bog er nach links ab und versuchte es an der Tür neben seinem Zimmer. Er drückte die Klinke herunter und trat ein. Es war ein ebenso großer Raum, wie sein eigenes Gemach. Hell, mit einem Flügelfenster, welches das Zimmer mit Tageslicht flutete. In der Mitte des Raumes stand ein großes Bett, wie seines in Kingsize, aus dunklem Holz, mit einem Himmel aus Seide oder Samt. Genau konnte er es nicht sagen, da er sich nicht mit Stoffen auskannte. Das Bett war nicht bezogen, das Zimmer allen Anschein nach unbewohnt. Ein Kleiderschrank stand geöffnet in einer Ecke des Raumes. Es interessierte Ruben nicht weiter, weshalb er kehrtmachte und wieder auf den Flur trat.
Neugierig setzte er seine Erkundungstour fort, entdeckte weitere Schlafzimmer, leere Räume, verschlossene Türen, die seine Neugierde verstärkten, ein Musikzimmer und sogar eine Bibliothek. Er freute sich schon darauf, in den unzähligen Regalen auf der Suche nach großen Schätzen zu stöbern.
Dann stieß er auf eine Tür, welche nur angelehnt war. Erst wollte er hineingehen, entschied sich jedoch im letzten Moment anders. Er konnte den Schatten vorbeihuschender Beine sehen. Sie gehörten vermutlich dem Hausherren. Schließlich hörte er gedämpft dessen Stimme, und sein erster Gedanke war, wieder zu gehen. Aber Gregorys Flüstern verleitete ihn, zu bleiben. Wollte der Mann etwas vor ihm verbergen? Er schien mit jemandem zu telefonieren.
„Ja, er ist angekommen ... Nein, mehr wie sein Dad ... Natürlich tut er das ... Hab ich, Gordon ... Nein, ich ... Ich habe mich unter Kontrolle!“
Unter Kontrolle? Was sollte das heißen? Ruben versuchte, näher zu rücken, und stieß die Tür dabei fast auf, als er das Gleichgewicht verlor.
„Warte, da war was. Ruben?“
Er richtete sich schnell auf und huschte den Flur entlang zurück in sein Zimmer. Hinter sich schloss er die Tür. Puh! Das war knapp. Was für ein Gespräch hatte er da belauscht? Er hatte sich unter Kontrolle. Unter Kontrolle. Was hatte das zu bedeuten? Die Frage schwirrte ihm noch im Kopf rum, als es 18 Uhr wurde und er zum Essen ins Esszimmer ging. Ich habe mich unter Kontrolle!