Die erste Nacht im neuen Heim war ... wie sollte er es ausdrücken? Seltsam, ja, das war das beste Wort dafür. Er schlief in einem viel zu großem Bett, zudem war die zu schwere Decke, die über einem lag, wie ein riesiger Stein, bedrückend. Da war das seltsam unnatürliche Licht im Raum, welches von draußen hereinschien in dieser mondhellen Nacht. Außerdem war es der große Schrank, der ihm Angst machte, dabei war er doch längst kein Kind mehr. Und dann waren da noch die Geräusche. Diese seltsamen Geräusche, von denen er nicht wusste, wie sie einzuordnen waren. Es war unheimlich. Verdammt unheimlich, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Und dann kamen da noch andere Geräusche. Es war so, als würde jemand neben ihm stehen und atmen. Deutlich und laut. Er lag drei Stunden wach im Bett und zitterte. Nicht vor Kälte, sondern vor Angst. Er war sich wirklich sicher, er hätte jemanden atmen gehört.
Und schließlich Schritte. Nicht das Knistern von den Blättern draußen, wie wenn jemand über Laub läuft, weil Ruben das Fenster offengelassen hatte, nein, das war kein Geräusch von draußen. Es kam von drinnen. Er war sich sicher, Schritte auf dem Flur gehört zu haben. Da er Gregory vorhin, als er sich von unten ein Glas Wasser geholt hatte, zwei Zimmer weiter schnarchen gehört hatte, war dieser es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht und sonst war niemand mehr im Haus. Die Haushälterin und die Köchin verschwanden, wenn es dunkel war. Gregory hatte gesagt, es wäre ihnen hier zu unheimlich bei Nacht.
Am Morgen war er ziemlich durchgeschwitzt. Die Nacht war hart gewesen und er beschloss, erst einmal zu duschen. Eben dies tat er ausgiebig, macht sich fertig fürs Frühstück, und ging langsam und schlurfend hinunter. Er betrat das Esszimmer, setzte sich einfach an den gedeckten Tisch und hoffte, dass es niemanden stören würde. Ruben war k.o. und dass der Wecker um sieben Uhr geklingelt hatte, machte es nicht einfacher. In etwa einer halben Stunde müsste er mit dem Frühstück fertig sein und sich auf die Schule vorbereiten.
Nie war er gerne in die Schule gegangen. Aber vermutlich war es völlig normal in seinem Alter. Trotzdem nervte es ihn, hinzumüssen. In letzter Zeit wurde er richtig wütend, wenn er zur Schule musste. Allerdings war es nur noch ein Jahr. Dann hätte er sein Abitur in der Tasche. Natürlich machte er sich Gedanken darüber, ob es ihm an dieser teuren Privatschule gefiel, doch er dachte sich, es würde ihm dort sicher gut gehen. Immerhin war es bestimmt besser als auf seiner alten Schule. Zumindest redete er sich das ein. Ob die Neue wirklich so viel besser war, das würde er früh genug sehen. Er war nur froh, dass er Privatstunden mit einem Privatlehrer haben würde, um so weitermachen zu können, wie in Deutschland. Das Schulsystem hier war anders, aber Gregory hatte nicht gewollt, dass er sich allzu sehr umstellen musste. Zumindest nicht mehr als ohnehin schon.
Gregory hatte sich kurz vor knapp beim Frühstück dazu gesetzt. Gesprächig gewesen war er nicht und er hatte den Jungen auch nur wenig gefragt. Also hatte Ruben auf jede von Gregorys Fragen eher ausweichend reagiert.
Über die seltsamen Geräusche in der Nacht hatte er beim gemeinsamen Frühstück mit Gregory nicht sprechen wollen. Es war ihm zu kindisch. Vermutlich hatte er sich eh alles eingebildet, warum also seinen Vormund damit behelligen.
Um kurz vor halb sieben brach Ruben zur Schule auf. Der Taxifahrer, der ihn bereits zu Kaene Manor gefahren hatte, holte ihn am Fuße des Hügels ab. Er hatte wohl so eine Art Vereinbarung mit Gregory geschlossen und so würden sie sich von nun an täglich sehen. Ruben fluchte schon jetzt, dass er jeden Morgen den langen Weg hinunter und am Nachmittag denselben wieder hinauf laufen musste. Die Steigung war hart und er war absolut untrainiert. Ein echter Spargeltarzan, wie seine verstorbene Tante mütterlicherseits immer gesagt hatte. Aber wenigstens konnte er den Blick auf die umliegende Landschaft des Anwesens betrachten. Ein angrenzendes Waldstück auf der einen und steile Klippen zum Meer runter auf der anderen Seite. Und den Hügel hinunter konnte er weit entfernt das Dorf sehen. Bei seiner Ankunft war es ihm dank des schlechten Wetters gar nicht richtig möglich gewesen, seine Umgebung zu betrachten.
Die Schule war in Ordnung, wie er feststellen musste. Die Lehrer waren nett und die Klassenkameraden schienen zumindest nicht völlig scheiße zu sein. Der Unterricht war gut und er kam zurecht und eigentlich gefiel es ihm dort. Schön, er hatte nach wie vor keine Lust auf Lernen, aber es gab nur wenig Hausaufgaben. Ruben hatte die Hoffnung, das eine Jahr hier in Irland gut zu überstehen. Wie es danach weitergehen sollte, das wusste er noch nicht. Aber war das denn wichtig? Er lebte im Hier und Jetzt, nicht im Morgen und auch nicht im Gestern. Er konnte sich gut vorstellen, dass Gregory einen kleinen Plan für seine Zukunft in der Tasche hatte. Nur für den Fall, dass Rubens nicht funktionieren würde. Ruben musste mit Gregory darüber reden. Wenngleich er es nicht wollte. So verantwortungsbewusst war er wenigstens.
Als die Schule an diesem Tag endete, wurde er von demselben Taxi abgeholt und nach Hause gefahren, wie auf dem Weg zur Schule hin. Robert, so hieß der Fahrer, schien nicht sehr gesprächig, dafür aber neugierig auf den Jungen, den er von nun an jeden Tag zur Schule fahren und wieder nach Hause bringen musste. Und so sprachen sie dann doch ein wenig.
Ruben erzählte knapp, woher er eigentlich kam, wie das Leben in Deutschland so war und warum er jetzt hier lebte. Bei dem seltsamen Kauz, der doch trotz seines geringen Alters so zurückgezogen lebte, wie ein betagter Mann. Ruben kam nicht umhin, sich ein wenig über Gregory Kaenes Art und Weise zu sprechen und sich zu bewegen, zu amüsieren. Er hatte nie einen Mann erlebt, der so wenig wie andere in seinem Alter war. Und wie der Taxifahrer kundtat, verließ er auch selten das Anwesen, ging in die Stadt oder unternahm etwas. Er blieb eigentlich immer auf Kaene Manor.
Dieses Haus. Es war den Menschen im Dorf unheimlich. Keiner konnte sagen warum, aber nur die wenigsten trauten sich auch nur in seine Nähe. Robert schloss das mit ein. Allein in den letzten drei Jahren hatte sieben Mal die Belegschaft gewechselt. Ob es an Gregory lag oder an dem Haus, konnte Robert dem Jungen nicht sagen. Doch die Leute im Dorf waren nach seiner Aussage eh etwas seltsam. Sie lebten in ihrer eigenen kleinen Welt und jeder und alles, was anders war, war für sie ein Fremdkörper.
Ruben war seltsam froh, als Robert ihn am Fuß des Berges hinaus ließ. Skeptisch blickte er die Straße zum Dorf entlang. Was das wohl für Menschen waren, die dort lebten?
Als Ruben am Nachmittag seine Hausaufgaben erledigt hatte, stromerte er durch das Haus. Die langen Gänge und vielen leeren Zimmer machten ihn unruhig. Er war so gut wie allein in diesem riesigen Haus. Keine Ahnung wo Gregory war. Die Köchin hatte ihn mürrisch gegrüßt, als er an der Küche vorbeigekommen war, und die Haushälterin war im Esszimmer beschäftigt. Er hatte also Zeit für sich.
Sein Weg führte ihn unbewusst in die Bibliothek. Als Ruben die Flügeltür öffnete, erstreckte sich ein gigantischer Raum mit getäfelten Wänden vor ihm, Sonnenlicht fiel durch die großen Fenster und brach sich auf dem Parkettboden. Die Wände waren voll mit Regalen. Bücher wohin das Auge blickte. Ein großer Kronleuchter mit Glühbirnen in Kerzenform baumelte von der Zimmerdecke. Die Bibliothek war wahrlich pompös.
Ruben ließ den Blick schweifen. Zwei mit grünem Stoff bezogene Ohrensessel standen in der Mitte des Raumes. Ein ebenso grüner Teppich bedeckte einen großen Teil des Fußbodens. Zwischen den Sesseln befand sich ein kleiner Beistelltisch aus dunklem Holz. Eine altmodische Lampe stand darauf. So ergab sich eine perfekte Leseecke. Ruben hatte schon immer gerne gelesen. Eine Bibliothek hatte er nie sein Eigen nennen können. Er begann zu strahlen. Das hier war ein Paradies!
Sofort ging er zu einem der Regale. Es stach heraus, da in ihm Bücher standen, die nicht so alt aussahen wie die anderen. Moderne Einbänder zierten die Buchrücken. Als Ruben eines aus dem Regal zog, fiel ihm sofort auf, wie abgegriffen dieses recht dünne Buch war. Es passte irgendwie nicht in die Moderne der anderen Bücher in diesem Regal. Scheinbar hatte man es schon oft gelesen. Der 17-Jährige wusste genau, wie es war, wenn man ein Buch ausgelesen hatte, das einem wirklich gut gefiel. Manchmal begann er dann sofort es von vorn zu lesen. Das Werk, welches er nun in den Händen hielt, schien dasselbe Schicksal innezuwohnen wie Rubens eigene Lieblingsbücher. Es musste also gut sein.
Mit dem schmalen Buch in der Hand setzte sich Ruben in einen der Ohrensessel und knipste die kleine Lampe an. Die erste Seite war schmutzig und er entdeckte eine Widmung. Für meinen geliebten Greg, stand dort in geschwungener Schrift. Unterzeichnet war nur mit C. Das war wohl der Grund, weshalb Gregory dieses Buch so oft gelesen hatte. Es war ihm von einer Verehrerin geschenkt worden. Ruben blätterte weiter bis zu den ersten echten Zeilen.
„Solang die roten Rosen blühen, solang das Gras noch grün. Solang die Vögel singen, wird mein Herz nur dir gebühr‘n.“
Es handelte sich scheinbar um ein Gedichtband. Gregory wirkte immer so steif. Nie hätte Ruben vermutet, er würde so etwas Zartes wie Gedichte mögen, doch die Seiten waren abgegriffen. Er hatte nicht nur die Widmung immer wieder gelesen. Es stecken also noch Überraschungen in dem feinen Herrn. Vielleicht war es aber auch nur die Erinnerung an seine einstige Geliebte, die Gregory dazu brachten, das Buch immer wieder zu lesen. Eventuell steckte eine dramatische Liebesgeschichte dahinter.
Da Ruben kein großer Fan von Gedichten jeglicher Art war und auch nicht vor hatte, einer zu werden, stand er auf, stellte das Buch wieder zurück ins Regal und tigerte neugierig an weiteren Reihen von Buchrücken entlang. Ab und an nahm er sich ein Buch heraus, blätterte darin und stellte es wieder zurück an seinen angestammten Platz.
In dieser Bibliothek fand man wirklich alles. Von Sachbüchern über Fantasyromanen bis hin zu Büchern über Religion und Lebensratgebern. Er überlegte, mit welcher Abteilung er anfangen sollte, und entschied sich schlussendlich für Krimis und Thriller. Damit hatte er schon immer mal beginnen wollen. Bisher hatte er kein einziges Buch dieser Art gelesen. Aber Detektivgeschichten hatten ihm als Kind immer gefallen. Was sprach also dagegen? Er las die Titel und entschied sich dann für ein besonders abgegriffenes Buch. Er war der Meinung, dass nur die guten Bücher wirklich gerne gelesen wurden, also konnte er mit seiner Wahl nicht falschliegen. Mit dem neusten Schatz in seiner Hand ging er wieder zu dem grünen Ohrensessel und setzte sich.
Der Nachmittag war unfassbar schnell vergangen. Ruben hatte die ganze Zeit gelesen. Das Buch war gut gewesen und so war er erst aufgeschreckt, als ihn die Haushälterin Mary gegen 18 Uhr ansprach. Er war so in das Buch vertieft gewesen, dass er sie nicht hatte hereinkommen sehen. Die eher schüchterne junge Frau mit dem blonden Haar und den hübschen blauen Augen, hatte ihm schüchtern mitgeteilt, dass das Abendessen auf dem Tisch stand. In einem so feinen Herrenhaus hatte sich Ruben immer einen Butler vorgestellt. Einen der zur Essenszeit an die Tür klopfte und sagte: Das Mahl ist angerichtet, Sir. Na ja. Zumindest wurde es ihm mitgeteilt.
Nun saß er mit seinem Patenonkel beim Essen. Es gab ein Fischgericht, welches Ruben nicht kannte und dessen Namen er sofort wieder vergaß, da er kein großer Fischliebhaber war. Unhöflich wollte er aber nicht sein, weshalb er trotzdem etwas aß. So schlecht wie erwartet schmeckte es dann gar nicht. Eigentlich war es sogar recht lecker.
Gregory saß dem 17-Jährigen gegenüber. Immer wieder sah er zu ihm herüber mit prüfendem Blick. Schließlich begann er das Gespräch.
„Wie war dein Tag? Ist die Schule gut gewesen?“
Ruben wusste nicht recht, was er antworten sollte.
Am Ende sagte er einfach die Wahrheit: „Ist okay. Ist halt Schule. Bin froh, wenn es vorbei ist.“
Gregory nickte. Er wirkte, als wäre er mit der Antwort zufrieden.
„Wenn du Schwierigkeiten mit dem Lernstoff bekommen solltest, dann besorge ich dir einen Nachhilfelehrer.“
Eine Weile herrschte Schweigen. Niemand schien zu wissen, wie er auf den anderen reagieren sollte. Es war für beide eine komplett neue Situation, die erst gemeistert werden wollte. Gregorys strenger Blick ließ Ruben unruhig werden. Erwartete er, dass Ruben das Gespräch weiterführte?
„Wohnst du schon lange hier?“, bemühte sich Ruben, die Unterhaltung wieder ins Rollen zu bringen.
Gregory nickte erneut.
„Es ist mein Elternhaus. Hier bin ich aufgewachsen und nach ihrem Tod blieb ich.“
„Warst du auch mal weg? Ich meine, hast du mal woanders gelebt?“
„Ich lebte eine Zeit lang in London. Habe dort ein kleines Apartment bewohnt. Ich brauchte eine andere Umgebung, um Inspiration für meine Arbeit zu finden.“
Ruben wurde neugierig. Das Schreiben hatte ihn schon immer fasziniert. Wie fand man seine Ideen? Wie die richtigen Worte?
„Und? Hat der Umgebungswechsel geholfen?“, fragte er.
„Das hat er“, meinte Gregory begeistert. Er schien gerade ein wenig lockerer zu werden. Ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich kam wieder, als ich genug hatte von London, mein Buch fertig war und meine Eltern gestorben waren. Das Haus ging an mich über. Mir hat es hier immer gefallen.“
Eine wichtige Frage brannte Ruben noch auf dem Herzen. Er stellte sie sich, seit er erfahren hatte, dass Gregory Kaene sein neuer Vormund sein sollte.
„Woher kanntest du meine Eltern?“
Gregory, der gerade seine Gabel zu Mund führen wollte, hielt in der Bewegung inne. Er wurde steif, schien innerlich mit sich zu hadern.
Dann antwortete er: „Ich lernte deinen Vater zu Schulzeiten kennen. Wir wurden schnell Freunde.“
Ruben war sich sicher, dass es da noch mehr zu erzählen gab, doch die etwas verhaltene Antwort seines Patenonkels brachte ihn dazu, das Thema vorerst ruhen zu lassen.
„Hast du schon Freunde gefunden?“, durchbrach Greg die entstandene Stille.
Ruben schüttelte den Kopf. Wie stellten Erwachsene sich das vor? Wir kennen uns drei Stunden? Na dann, lass uns Freunde sein! Selbstverständlich war das nicht so.
Der 17-Jährige meinte also flapsig: „Natürlich nicht. Kenne ja noch niemanden.“
Sein Patenonkel sah ihn mit stechendem Blick an. Ihm gefiel Rubens Tonfall scheinbar so gar nicht.
„Nun“, sagte er. „Du solltest dir welche suchen, denn ohne Freunde wird es hier draußen ganz schön einsam.“
„Ich habe Freunde!“, sagte Ruben angriffslustig. „Die sind nur nicht hier.“
Die Wahrheit sah etwas anders aus. Er hatte nur zwei echte Freunde. Na ja. Gehabt. Er glaubte nicht, dass er diese Freundschaften aufrechterhalten wollte. So nahe hatten sie sich nie gestanden. Aber das musste er dem seltsamen Kauz ja nicht gleich auf die Nase binden.
„Gut“, kam es gelassen vom Hausherren. „Und wie steht es sonst mit sozialen Kontakten? War das Verhältnis zu deinen Eltern gut?“
Der plötzliche Themenwechsel gefiel Ruben ganz und gar nicht. Es ging Gregory gar nichts an, wie er mit seinen Eltern zurechtgekommen war! Energisch schmiss er sein Besteck neben den Teller.
„Das geht dich nichts an!“, fauchte er, sprang auf und stürmte aus dem Raum.
Er sah noch, wie Gregory unzufrieden das Gesicht verzog und sich erhob, da hatte er das Zimmer schon verlassen.
Warum ging er so schnell in die Luft, wenn Gregory sich für sein Leben interessierte?