Ruben stand an diesem Morgen früh auf und war trotzdem unpünktlich zum Frühstück unten. Er war heute etwas verträumt und hatte daher getrödelt.
Als er das Esszimmer betrat, musste er dennoch feststellen, dass sein Patenonkel nicht da war. Das Haus erschien ihm ungewöhnlich still. Kurz rief er nach Greg, doch niemand antwortete. Kaene Manor war groß, möglicherweise hatte er ihn einfach nicht gehört. Der Tisch war auch nicht gedeckt. Verschlafen die Augen reibend machte sich Ruben auf in Richtung Küche. Die Müdigkeit steckte ihm noch in den Knochen, wenngleich er diese Nacht deutlich besser geschlafen hatte. Einmal war er wach geworden, weil er sich sicher war, Schritte gehört zu haben. Doch die restliche Nacht war alles ruhig gewesen.
Die Küche war hell und freundlich eingerichtet. Jetzt, als die Morgensonne durch eines der beiden Küchenfenster auf die marmorne Arbeitsfläche fiel, wirkte sie besonders einladend.
„Guten Morgen, junger Mann“, begrüßte eine dickliche Frau mit Pausbacken und roten Locken den noch nicht ganz fitten Hausbewohner.
Sie stand am Herd und briet Spiegeleier. Neben ihr sprangen gerade zwei Scheiben Toast aus dem Toaster. Das musste die Köchin sein, schlussfolgerte Ruben.
„Ich bin Abbygale und du musst Ruben sein. Ich mache dir und dem Herrn Mittag- und Abendessen. Für gewöhnlich auch das Frühstück. Dazu musst du aber heute hier zu mir in die Küche kommen.“
Ruben nickte müde. Ihm war nicht nach Unterhaltungen. Bis 11 Uhr war er nicht zu gebrauchen. Den Morgen verbrachte er im Zombiemodus, wie er selbst zu sagen pflegte. Und ohne seinen Kakao ging ohnehin nichts. Nur war es leider genau das, was hier fehlte.
„Kann ich einen heißen Kakao bekommen?“, fragte er, als Abbygale die Toasts mit dem Spiegelei vor ihm auf den Tisch stellte.
Pikiert sah sie ihn an.
„So etwas haben wir hier nicht im Haus. Der Hausherr achtet auf seine Ernährung und trinkt morgens nur Tee.“
Ruben entgleisten die Gesichtszüge. Kein Kakao? Das sollte wohl ein Scherz sein.
„Ehrlich“, sagte er. „Ich brauche meinen Kakao.“
Die Köchin stemmte die Hände in die massigen Hüften.
„Und ich sagte, dass wir keinen im Haus haben, junger Herr.“
„Aber ich brauche ihn“, beharrte Ruben uneinsichtig.
Er war ein Morgenmuffel und für ihn musste morgens alles glattlaufen. Sonst fuhr er schnell mal aus der Haut.
„Schreib ihn auf die Liste am Kühlschrank und ich werde sehen, was ich tun kann“, gab Abbygale nach und wies mit behandschuhtem Finger auf die Kühlschranktür.
Das konnte ja ein toller Morgen werden.
„Kann ich sie etwas fragen?“
Die Köchin, die sich wieder ihren Aufgaben widmen wollte, drehte sich noch einmal zu ihm um.
„Was denn, junger Herr?“
Ruben biss von seinem Toast ab. Diese förmliche Anrede war er nicht gewohnt. Zuhause in Deutschland hatten sie zwar eine Haushaltshilfe gehabt, aber diese hatte ihn von Anfang an geduzt. Er seufzte leise. Irgendwie vermisste er Vanessa. Sie war jung und flippig gewesen und er hatte sie gemocht.
Mit vollem Mund erkundigte er sich: „Wie lange arbeiten sie schon hier?“
Abbygale schaute pikiert. Sie schien genervt von seinen Fragen zu sein. Vielleicht auch von seiner bloßen Anwesenheit. Vermutlich war sie meistens allein in der Küche zu Gange und fühlte sich daher gestört. Sie schien kurz nachzudenken, bevor sie ihm antwortete.
„Seit achtundzwanzig Jahren. Ihr Patenonkel war noch klein, als ich in den Haushalt kam. Ist lange her.“
Ruben überlegte. Wie alt mochte Gregory sein?
„Wie alt ist er jetzt?“, erkundigte sich der Junge frei heraus.
„Also wirklich“, meinte Abbygale empört. „So etwas fragt man Erwachsene nicht. Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Er ist letzten Monat zweiunddreißig geworden.“
Puh, dachte sich Ruben. Das war echt alt.
„Warum hat er keine Frau?“
Und wieder machte die ältere Dame ein unzufriedenes Gesicht.
„Auch wenn dich das nichts angeht, ich schätze, er hat einfach noch nicht die Richtige gefunden.“
Der Teenager überlegte. Etwas passte da doch nicht zusammen. Die Widmung in dem Gedichtband fiel ihm wieder ein.
„Aber er hatte einmal eine, die er geliebt hat, oder?“, fragte er neugierig.
Abbygale schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Herd zu.
„Nicht das ich wüsste. Ich hab ihn jedenfalls nie mit einer Frau gesehen.“
Nie mit einer Frau gesehen? Bedeutete das, dass Gregory schwul war?
Darüber dachte Ruben selbst dann noch nach, als er sich auf dem Weg den Hügel hinunter machte, um zur Schule gefahren zu werden.
Der Tag in der Schule verlief gut und Ruben konnte sich nicht beschweren. Der Unterricht machte ihm zwar keinen Spaß, doch er kam gut mit und verstand alles. Es hatte etwas Gutes, zweisprachig aufgewachsen zu sein. Dennoch war es hier anders als in Deutschland und man würde keine Rücksicht auf den jungen Herrn nehmen, sollte ihm Stoff fehlen.
Trotzdem vermisste Ruben die Schule zu Hause nicht und als er nach dem Mittagessen seine Hausaufgaben gemacht hatte, beschloss er, sich ein bisschen den weitläufigen Garten anzusehen. Bisher hatte er ihn nur aus dem Fenster seines Schlafzimmers sehen können. Das wollte er schleunigst ändern.
Der Kiesweg knirschte unter seinen Füßen, als er den gewundenen Pfad entlang lief. Den ganzen Tag schon war er allein im Haus und die Stille hatte ihn langsam unruhig werden lassen. Die frische Luft tat mehr als gut. Seine Füße trugen ihn fast von allein zu dem kleinen Gewächshaus, welches unter Efeu verborgen am Rande der Grundstücksgrenze lag.
Die Scheiben waren schmutzig und die Tür aus den Angeln gehoben. Ruben wunderte sich etwas. Das gesamte Haus war in einem äußerst gepflegten Zustand, bis auf den Efeu, der sich am Gebäude entlangrangelte, doch ein so wunderbarer Ort wie dieser wurde so vernachlässigt? Neugierig betrat er das Gewächshaus und stieg über vertrocknete Pflanzen und Wurzeln hinweg. Die Bodenfliesen waren teilweise gebrochen und das Dach war löchrig. Hier hatte schon seit Jahren niemand mehr etwas angepflanzt. Rubens Vater hatte Blumen immer gemocht. Oft genug hatte sein lieber Sohn ihn damit aufgezogen.
Jetzt wünschte sich Ruben, er hätte ihn öfter im Garten geholfen. Hätte er doch wenigstens versucht, dieselbe Begeisterung dafür aufzubringen wie er. Jetzt war es zu spät. Ruben hatte doch noch so viel mit ihm erleben wollen. Er hatte wirklich versucht, eine Bindung zu ihm aufzubauen, aber es war schwer, wenn der Vater immer arbeiten war. Ein dicker Kloß bildete sich in Rubens Hals. Nein. Er würde nicht weinen. Auf keinen Fall. Er war kein Kind mehr. Er hatte genug Tränen vergossen. Vielleicht konnte er Gregory dazu überreden, den Gärtner anzuweisen, das Gewächshaus wieder auf Vordermann zu bringen. Dann könnte er selbst etwas anpflanzen. Er konnte die verlorene Zeit nicht zurückbekommen, doch er konnte es für sich selbst wieder gut machen. Wenigstens ein kleines bisschen.
Ruben stromerte noch ein wenig über das Grundstück, entdeckte sonnige Plätzchen und schattige Orte und genoss die frische Luft.
Als er wieder ins Haus kam, war er fast Zeit fürs Abendessen. Die Sonne begann unterzugehen und warf ihre letzten Strahlen auf den Rasen und durch die Fenster auf den Parkettfußboden. Die Zeit war deutlich schneller vergangen als gedacht und Ruben beschloss, vor dem Essen noch seine E-Mails zu checken. In die Chatgruppe seiner ehemaligen Klasse konnte er nicht mehr schauen. Er hatte sie verlassen müssen, als er nach Irland gegangen war. Und von seinen Freunden aus Deutschland war sicher keine Nachricht gekommen. Die Hoffnung, dass sie sich jetzt, da er fort war, noch für ihn, den seltsamen Jungen mit dem sie eh nie viel anfangen konnten, interessierten, war gleich null. Das war ihm klar. Er nahm sich sein Handy und suchte Empfang. Gregory musste doch WLAN haben. Er mochte altmodisch sein, aber er hatte einen Flachbildfernseher, einen modernen Kühlschrank und Ruben erwartete nicht, dass er seine Romane mit der Schreibmaschine tippte. Außerdem hatte er ihn schon mit einem Smartphone telefonieren sehen. Demzufolge gab es im Haus gewiss einen WLAN-Anschluss.
Als Abbygale um die Ecke kam, nutzte er die Chance und fragte sie. Die Antwort kam schnell und im Vorbeigehen. Das WLAN-Passwort hinge am Kühlschrank. Er könne es nutzen. Froh über diese Nachricht flitzte Ruben in die Küche und gab den Code ein. Als er endlich sein E-Mail-Postfach öffnete, wunderte er sich nicht. Gerade einmal eine Mail. Sie war von einem seiner Schulkameraden aus Deutschland und las sich so, als wäre er von seiner Klassenlehrerin dazu verdonnert worden, sie zu schreiben. Wenngleich er wusste, dass dieser die Mail sicher nur aus Höflichkeit geschrieben hatte, wollte Ruben ihm antworten und von seinem neuen Zuhause erzählen. Er setzte sich an den Küchentisch und begann zu tippen.
Hey,
ich bin gut angekommen in diesem Kaff. Hier gibt es weit und breit nichts. Ein Taxi bringt mich jeden Morgen zur Schule und holt mich wieder ab. Schon cool. Mein Patenonkel heiß Gregory. Gregory Kaene. Wie sein schickes Haus. Der Mann muss Kohle haben. Dieses Herrenhaus ist echt ein riesiges Anwesen. Wir haben hier sogar einen Pool! Ich bin hier meist den ganzen Tag allein mit der Haushälterin und der Köchin. Keine Ahnung was Gregory so macht den ganzen Tag oder wo er ist. Im Haus scheint er nicht zu sein. Dabei arbeitet er als Autor doch zuhause. Wie du schon gelesen hast, haben wir hier eine eigene Köchin. Sie ist etwas älter, aber sie kann gut kochen. Allerdings scheint sie mich nicht zu mögen. Vielleicht mag sie aber auch nur meine Fragen nicht. Was soll ich sagen, ich will halt alles wissen, über den Ort, den ich jetzt zu Hause nennen soll und über den Mann, mit dem ich gezwungenermaßen zusammenlebe. Das Haus ist schon alt. In einem gepflegten Zustand, aber alt. Von meinem Zimmer aus kann ich den Garten und den Pool sehen. Schwimmen war ich aber nicht. Dazu ist es zu kalt. Der Sommer ist hier noch nicht so richtig angekommen. Morgens ist es immer etwas frisch. Was ich von Gregory halten soll weiß ich nicht so recht. Mit seinem streng zurückgebundenen Haar und der etwas zu großen Nase und den schmalen Lippen, wirkt er auf mich steif und streng. Aber er bemüht sich, glaube ich, mich kennenzulernen. Allerdings sollte er manche Fragen lieber für sich behalten. Es geht ihn nicht alles etwas an. Das Anwesen ist sehr abgelegen und so komme ich nicht allein in die Stadt. Ich müsste Gregory darum bitten, mich zu bringen, oder mir das scheinbar einzige Taxi hier rufen. Mir fehlt echt ein Fahrrad. Allein der Friedhof und die Kirche sind zu Fuß zu erreichen und ich weiß nicht, was ich da soll. Ich weiß, dass meine Großtante und meine Uroma dort begraben liegen, doch ich habe sie beide nie gekannt und somit keinen Grund, ihre Gräber zu besuchen. Die Kirche juckt mich schon gar nicht und Gregory geht nicht zum Gottesdienst, weshalb ich echt keinen guten Grund sehe, es zu tun. Nur leider wird es hier sicher auf Dauer zu langweilig und irgendetwas muss ich ja tun. Morgen werde ich mich noch mal im Haus umsehen. Da es so groß ist, werde ich sicher noch viel entdecken. Mehr gibt es hier nicht zu erzählen und ich bin mir sicher, du möchtest keinen langweiligen Schulkram wissen. Man liest sich vielleicht mal wieder.
Bye
Es hatte gut getan, diese Mail zu schreiben, und wenngleich Ruben es nicht gern zugab, er wollte jemandem erzählen, wie es ihm ging. Er war einsam hier draußen und fühlte sich das erste Mal in seinem Leben allein. Daran änderte auch die Dienerschaft des Hauses nichts.
Die nächsten Tage vergingen wie im Schneckentempo. Die Schule langweilte Ruben und da Gregory nie aufzufinden war, war es viel zu ruhig. Bei einer seiner weiteren Erkundungen des Hauses hatte er ein kleines Musikzimmer entdeckt mit einem großen Flügel. Er hatte überlegt, Gregory zu fragen, ob es möglich war, Unterricht zu bekommen, aber er kannte seinen Patenonkel nicht gut und hatte Angst vor Abweisung. Überhaupt fürchtete Ruben sich in letzter Zeit vor vielem. Davor, in der Schule zu versagen, zum Beispiel. Mathematik machte ihm Schwierigkeiten. Die Zahlen sprangen immer vor seinen Augen auf und ab und ließen sich nicht beruhigen. Sein Lehrer sagte immer, dass Mathematik einfach wäre, da alles so logisch sei, doch das traf auf Ruben scheinbar nicht zu. Früher hatte er zwar auch schon Probleme damit gehabt, aber jetzt so kurz vor dem Abitur schien der Stoff noch mal deutlich anzuziehen und er zweifelte ehrlich, dass er es packen würde.
Jetzt saß er mit seinen Mathehausaufgaben am Rand des Pools und hoffte, die frische Luft würde ihm guttun und beim Lernen helfen. Wie gern würde er eine Pause einschieben und einfach in das kühle Nass eintauchen. Noch war es allerdings zu kalt. Aber was sprach denn dagegen, seine Füße hineinzuhalten? Rasch zog er Schuhe und Socken aus, krempelte die Hose ein wenig hoch und ließ seine Füße ins Wasser tauchen. Scheiße war das kalt!
Eine Weile schaute er hinaus in den Garten und ließ die Beine baumeln. Es war traumhaft schön hier. Der Rasen war kräftig grün, die Blumen blühten, und ein großer Baum spendete ein wenig Schatten.
Die Vögel zwitscherten laut, obwohl es schon später Nachmittag war. Ruben blickte auf das Wasser des Pools. Kristallklar schimmerte es und er konnte das Muster der Bodenfliesen erkennen. Die Spiegelung zeigte ihm sich selbst, wie er da saß und grimmig schaute. Doch dann tauchte plötzlich noch ein anderes Gesicht neben seinem auf. Ein Mann mit langem Haar. Ruben hatte gar nicht mitbekommen, dass er nicht mehr allein war.
Er drehte sich um und meinte: „Hallo, ich hab sie gar nicht gesehen, ich ...“
Er stockte. Da war niemand. Nur er selbst war hier draußen am Pool. Es war auch sonst keiner in der Nähe. Hatte er sich das zweite Spiegelbild nur eingebildet? Fing er jetzt schon an Dinge zu sehen?
Ihm fröstelte langsam. So warm war es eben noch nicht. Schnell packte der Teenager seinen Kram zusammen und huschte durch den weitläufigen Garten ins Haus. Das war unheimlich gewesen.
Auf dem Weg hinein stolperte er fast in einen großgewachsenen Mann mit einer großen Heckenschere in der Hand und einem Strohhut auf dem Kopf.
„Entschuldigung“, murmelte Ruben rasch und wollte schon an dem Mann vorbei ins Haus laufen, da hielt dieser ihn an der Schulter zurück.
„Haben sie einen Moment, junger Herr?“
Ruben nickte verdattert und wandte sich zu ihm um. Wieder so eine förmliche Anrede wie bei feinen Herrschaften. Der Mann schien nicht älter als Mitte zwanzig zu sein. Er war groß, schlank und hatte kurze rotblonde Locken. Der Fremde trug Latzhosen in gelbem Cord und ein weißes Shirt. Seine Gummistiefel waren grün und schmutzig. Er lächelte ihn freundlich an.
„Du musst Ruben Jones sein. Der neue Schützling von meinem Arbeitgeber. Ich habe dich eben beim Gewächshaus herumstromern sehen. Gefällt es dir?“
Ruben nickte. Was wollte der Mann nur von ihm?
„Ja, schon“, antwortete er. „Nur schade, dass es so vernachlässigt ist.“
„Das ist es tatsächlich, ja, da stimme ich dir zu. Aber vielleicht hast du ja mehr Glück bei Mister Kaene. Ich versuche ihn schon seit seiner Rückkehr nach Kaene Manor dazu zu überreden, das Gewächshaus wieder auf Vordermann bringen zu lassen, aber er ist echt stur, was das Thema angeht. Vielleicht schaffst du es ja, ihn zu überreden.“
„Wissen Sie, warum er sich so dagegen sträubt?“, fragte Ruben neugierig.
Der Gärtner schüttelte den Kopf.
„Hat bestimmt etwas mit seiner Vergangenheit zu tun. Kann ich aber auch nicht wirklich sagen.“
Ruben nickte verständnisvoll.
„Ich frag ihn mal, ob sie loslegen dürfen“, meinte er und verabschiedete sich.
Vielleicht konnte er am Abend mal mit Gregory über das Gewächshaus sprechen? Immerhin war das ja auch sein eigener Wunsch. Und was konnte es schaden? Andererseits wiederum fragte sich Ruben, ob das überhaupt etwas bringen würde. Eventuell würde Gregory nur wütend werden? Unsicher lief er ins Haus.