Am Freitagabend saß Ruben ausnahmsweise mal nicht allein beim Abendessen. Gregory saß ihm gegenüber und beobachtete ihn beim Essen. Die verbissenen Gesichtszüge zeugten von Stress oder Sorgen. Was genau es war, konnte Ruben nicht sagen. Aber es interessierte ihn auch nicht wirklich. Ihm brannte etwas auf der Seele. Im Haus war es die ganzen Tage über ruhig. Nur in den Nächten hörte er regelmäßig Geräusche. Er fragte sich, ob sein Patenonkel vielleicht Nachts aktiver war oder einfach schlafwandelte. Da sich der Teenager tagsüber meist langweilte und im Haus ein Klavier entdeckt hatte, wollte er nun seinen Mut überwinden und Gregory fragen, ob er ihm vielleicht Klavierstunden bezahlen würde. Doch er hatte auch Angst vor Zurückweisung. Was wenn Gregory geizig war oder ihn nicht mochte und deswegen kein Geld für ihn ausgeben wollte? Allerdings hatte er ihm auch angeboten Nachhilfe zu bekommen.
Ruben räusperte sich.
„Das Klavier oben, funktioniert es noch?“
Gregory sah ihn verwundert an.
„Sicher. Ich müsste es stimmen lassen, aber es ist noch funktionstüchtig. Ich habe nur seit Jahren nicht gespielt.“
„Du hast mal Klavier gespielt?“, fragte Ruben erstaunt.
Er hatte den grimmig dreinschauenden Schnösel nicht für musikalisch gehalten. Nie hörte man Musik im Haus. Oder überhaupt irgendetwas.
„Das ist lange her“, antwortete Gregory.
„Meinst du, ich könnte Unterricht bekommen?“, fragte Ruben unsicher. Sicherheitshalber legte er sein Besteck an den Tellerrand. Bereit sich bei einer Ablehnung direkt in sein Zimmer zu verkriechen. Er wollte nicht, dass Gregory noch einen seiner Gefühlsausbrüche mitbekam. Auf keinen Fall sollte sein Patenonkel denken, er wäre ein verweichlichtes Kind.
Gregory sah ihn prüfend an. Er hob eine Augenbraue, runzelte die Stirn und setzte zum Spreche an. Dann schloss er ihn wieder und setzte kurze Zeit später erneut an.
„Wenn du es wirklich lernen willst, dann besorge ich dir einen Lehrer.“
Ruben, der sich innerlich schon auf eine Ablehnung gefasst gemacht hatte, sprang auf. Übermütig wollte er zu seinem Patenonkel hinüberlaufen, um ihn zu umarmen, entschied sich aber im letzten Moment anders.
Mit einem leisen: „Super. Danke!“, setzte er sich wieder und aß weiter.
Warum hatte er das tun wollen? Sie kannten sich doch gar nicht und er hatte nie sonderlich das Bedürfnis nach Körperkontakt gehabt. Der Teenager schob sein Verhalten auf die Pubertät und schob sich ein Stück Fleisch in den Mund.
Nach dem Essen verzog Ruben sich in sein Zimmer. Er hatte sich ein Buch aus der Bibliothek geschnappt und wollte nun ein wenig entspannen. Mit seiner Liebe zur Literatur hatte er sich immer als Außenseiter gefühlt. Niemand hatte dasselbe Interesse und deshalb mied man ihn. An seiner alten Schule hatte er nie Anschluss finden können. Sobald er erzählt hatte, dass seine Hobbys Lesen, Fotografie und Zeichnen war, wandten sich alle gelangweilt ab. Und auch an seiner neuen Schule schien sich niemand für dieselben Dinge zu interessieren wie er. Zudem war Ruben verschlossen seit dem Tod seiner Eltern und zog sich generell lieber zurück. Da war es schwer an ihn ranzukommen. Also bemühte sich der dunkelhaarige Junge auch gar nicht mehr. Viel lieber genoss er seine Einsamkeit. Zelebrierte sie fast schon. So auch heute. Schnell war er daher in dem Buch versunken, ließ sich von der fantastischen Welt gefangen nehmen und vergaß darüber die Zeit.
Ruben schreckte hoch, als er Schritte auf dem Flur hörte. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits fast 01.00 Uhr war. Gingen jetzt wieder die unheimlichen Geräusche los? Dieses Mal konnte er sich nicht unter der Bettdecke verkriechen, denn er hatte sich weder in seinen Schlafanzug geworfen, noch war er bereits im Bett. Er saß auf seinem Ohrensessel und starrte angespannt die Tür an. Rums. Was war das? Das Polter schien von einem der Zimmer auf dem Gang zu kommen. Dann hörte Ruben eine Zeit lang nichts mehr. Gerade wollte er sich wieder mit seiner Lektüre beschäftigen, da hörte er einen leisen Aufschrei. Unterdrückt, als würde man der Person den Mund zuhalten. Ansonsten war alles still im Haus. Ruben beschlich Angst. Als dann auch noch ein leises Lachen erklang und es so wirkte, als wäre es in seinem Zimmer, da legte er panisch das Buch beiseite und floh ins Badezimmer. Musste er nicht eh duschen?
Zitternd stieg er in die Duschkabine. Was ging in diesem Haus vor? Tagsüber herrschte Totenstille, aber Nachts hörte er Dinge. Schritte, Flüstern. Und dann das Heute. Erst hatte er gedacht, sein Patenonkel würde spät ins Bett gehen, dann vermutete er einen Einbrecher oder ähnliches, doch das Lachen direkt in seinem Zimmer...das konnte doch nicht... Nein. Er glaubte nicht an Geistergeschichten. Schließlich war er kein kleiner Junge mehr. Er war fast erwachsen. Nur noch wenige Monate dann war er 18. Endlich volljährig und er konnte hier ausziehen. Vorausgesetzt er fände eine Ausbildung. Er würde sicher nicht studieren und hier ewig festsitzen, in diesem gruseligen Haus.
Die Nacht verging nur langsam und Ruben wachte mehrmals durch undefinierbare Geräusche auf. Dementsprechend erschlagen fühlte er sich am nächsten Morgen, als er in die Küche schlurfte. Als er durch die Tür kam und sich auf seinen Stammplatz setzten wollte, saß dort allerdings schon jemand. Ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern. Sein weißes Hemd spannte über seinen Muskeln. Der Mann war bestimmt 190 cm. Die Berge an Muskeln beeindruckten Ruben. Als er sich ihm gegenüber auf den einzigst noch freien Stuhl setzte, sah der Fremde ihn mit eisblauen Augen an.
„Oh“, machte er und fuhr sich mit der Rechten über sein raspelkurzgeschorenes Haar. „Du bist bestimmt Gregs Junge. Ich wusste nicht, dass du so früh auf bist.“
Ruben musterte ihn von oben bis unten. Gregs Junge? Er war bestimmt kein Junge mehr und schon gar nicht Gregorys.
„Hab nicht viel geschlafen. War früh wach“, erwiderte er nur.
„Entschuldige, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Gordon. Ein...ähm.. Freund deines Onkels.“
„Patenonkel“, korrigierte der Teenager rasch. „Wir sind nicht verwand.“
Gordon lachte auf.
„Nein, eindeutig nicht. Du bist zu dürr und deine Augen eindeutig zu grün.“
„Und wer bist du?“, fragte Ruben missmutig.
Er war es nicht mehr gewöhnt morgens Gesellschaft zu haben. Vor allem keine unbekannte.
Gordon biss von seinem Toast ab und trank einen Schluck Kaffee, bevor er antwortete.
„Ich bin Gordon, ich bin der Steuerberater von Mister Kaene und sein langjähriger Freund“, antwortete der Hühne und sah Ruben eindringlich an. „Möchtest du noch etwas wissen oder ist deine Neugierde damit befriedigt?“
Ruben antwortete bissig: „Ja, will ich. Was machst du hier am frühen Morgen und wie alt bist du?“
Ruben dachte gar nicht daran, der Höflichkeit zu folge und den Fremden zu siezen. Schließlich sprach dieser ihn auch mit du an.
„Ich bin mir sicher, dass dich nichts davon etwas angeht, Bursche. Aber wenn du es so genau wissen willst, ich war gestern Abend in der Nähe und habe Greg deshalb einen Besuch abgestattet. Es wurde spät, also blieb ich. Ach und ich bin 38.“
Ruben hatte wirklich nicht erwartet, dass der Fremde so offen zu ihm war und ihm seine Fragen einfach beantworten würde. Einen Moment lang überlegte er, ob er diese Offenheit ausnutzen und ihn über seinen Patenonkel ausfragen sollte. Gleichzeitig wunderte er sich allerdings über seine eigenen plötzliche Neugierde für den Mann, der ihn bei sich aufgenommen hatte und beließ es bei den wenigen Fragen. Es war ja auch nicht so, dass es ihn etwas anging. Wenn Gregory ihm irgendwann selbst von sich erzählen würde oder er auf Rubens Fragen antworten würde, ja, dann würde Ruben sich sicher freuen, aber er würde nicht hinter dessen Rücken über ihn tratschen, nur um an Informationen zu kommen. Er war einsam und wollte seinen Patenonkel daher kennenlernen, doch dieser Weg, den er gerade bereit war einzuschlagen, war nicht gerade förderlich für ein gutes Verhältnis mit Gregory und gerade dieses strebte der Junge doch insgeheim an. Er wollte nicht mehr allein sein in diesem riesigen Haus und der andere schien ihm schon verschlossen genug. Wenn er von seinen Freunden und Angestellten jetzt auch noch hören würde, dass sein Schützling sie über ihn ausquetschte, würde das sicher kein gutes Licht auf seinen Schützling werfen. Ruben nahm also die wenigen Informationen, die er bekommen hatte und gab sich damit zufrieden. Er würde eben seine Schüchternheit überwinden müssen und Gregory selbst kennenlernen müssen. Er war gerade mal eine Woche hier auf Kaene Manor. Und nicht nur Ruben brauchte Zeit um sich an den anderen zu gewöhnen. Auch der 32-jährige Autor musste sich daran gewöhnen jetzt nicht mehr allein in dem Anwesen seiner Familie zu leben. Sicher war er nur so abweisend und zog sich immer zurück, weil er es nicht gewohnt war, jemanden außer der Angestellten im Haus zu haben. Noch dazu war Ruben noch ein Teenager. Die Pubertät war noch nicht gänzlich vorüber und nach dem Tod seiner Eltern hatte der Junge psychologische Probleme. Das war ihm selbst bewusst. Er war schon immer schüchtern und zurückhaltend gewesen, aber seit... Nun, er war nicht mehr derselbe wie früher. Er hatte es im Haus seiner Eltern nicht mehr ausgehalten. All die Erinnerungen. Als man ihm dann mitteilte, er könne nach Irland, der Heimat seines Vaters, da hatte der Junge zugesagt, ohne wisse zu wollen, wo er leben würde, oder bei wem. Seine Koffer waren schnell gepackt gewesen.
Von seinem Patenonkel Gregory Kaene hatte er nur aus Unterhaltungen seiner Eltern gewusst. Es waren allesamt Streitgespräche gewesen, erinnerte sich Ruben. Worüber sie sich genau gestritten hatten, wusste er nicht und es ging ihn ja auch nichts an.
Er frühstückte in Ruhe, verabschiedete sich von dem überraschenden Besuch und zog sich mit seinem Buch in den Garten zurück. Die Liege am Pool hatte er mittlerweile für sich eingenommen. Sie stand fast immer in der Sone und war daher der perfekte Platz zum Lesen und Hausaufgaben machen. Außerdem war er hier möglichst weit vom Haus entfernt und das gefiel Ruben. Das Haus. Es machte ihm zusehends Angst. Er war sich sicher, irgendetwas Seltsames ging darin vor. Natürlich wusste er selbst, wie verrückt es war und langsam glaubte er auch, dass er sich diese seltsamen Dinge nur einbildete. Dass seine Psyche ihm etwas vormachte. Vielleicht um den Tod seiner Eltern nicht verarbeiten zu müssen, denn etwas zu verarbeiten bedeutete auch sich dem zu stellen und das konnte der Teenager noch nicht. Es war gerade erst drei Monate her. Noch zu frisch für Ruben. Er hatte noch zu sehr von Augen wie sein Kindermädchen zu ihm gekommen war und ihm mitteilte, dass etwas Schlimmes passiert war und dass er jetzt stark sein müsse. Julia war eine Freundin der Familie und da sie seit Kindertagen an Rubens Seite gewesen war und ihm regelmäßig bei den Hausaufgaben geholfen hatte, hatten seine Eltern ihr nie gekündigt. Klar, so mussten sie sich nicht um den Jungen, der gerade zu einem Mann heranwuchs nicht kümmern. Das hatten sie ja eh nie gut gekonnt.
Das Verhältnis zum Vater war angespannt gewesen. Es war nicht so, dass Ruben nicht versucht hatte eine normale Bindung aufzubauen. Es hatte nur einfach nicht funktioniert. Vielleicht waren die wenigen Interessen, die sein Vater hatte einfach nicht mit denen seines Sohnes kompatibel gewesen. Vielleicht hatte er es aber auch nie gewollt, dass sie ein gutes Verhältnis aufbauten. Manchmal hatte Ruben das geglaubt. Heute dachte er eher, er selbst hätte es mehr versuchen sollen.
Nachdenklich schlug er sein Buch auf. Das vernachlässigte Gewächshaus kam ihm in den Sinn. Er hatte ganz vergessen Gregory danach zu fragen. Sein Vater hätte dieses Gewächshaus geliebt. Wie lange es wohl schon in diesem Zustand war. Vielleicht könnte Ruben es mit Hilfe des Gärtners wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzen? Seinem Vater eine letzte Botschaft senden? Seine Therapeutin, zu der er ein paar Wochen hatte gehen müssen, hatte gesagt, er müsse einen Abschluss für sich finden. Etwas was für ihn persönlich eine Bedeutung hatte. Vielleicht war es genau das. Das Gewächshaus, welches er vom Gefühl her sofort mit seinem Vater in Verbindung setzte. Vielleicht würde er etwas dort pflanzen. Eine Rose? Nein, das erschien ihm zu viel des guten. Veilchen? Nein, die waren zu altbacken. Vielleicht, so überlegte der Teenager, Vergissmeinnicht?