Immer nur Hausaufgaben! Das war es, was Ruben durch den Kopf ging, als er an einem Freitagmittag nach Hause kam. Warum wollten seine Lehrer kein Verständnis für seine Situation aufbringen? Warum wollte das überhaupt niemand? Er hatte vor Kurzem seine Eltern verloren und jetzt wohnte er bei seinem Patenonkel in einem fremden Land! Es war schwer für ihn. Verdammt schwer! Warum wollte das niemand begreifen?
Genervt stapfte er ins Esszimmer, schmiss seine Schultasche in die nächstbeste Ecke und setzte sich an den reich gedeckten Tisch. Es roch nach leckerem Hackbraten und Soße. Doch nicht mal dafür hatte er momentan was übrig. Dabei war dies doch seine Lieblingsspeise. Er ließ sich vom Butler, den Gregory auf Anraten der Haushälterin eingestellt hatte, das Essen auftun.
„Hattest du einen schlechten Tag?“
Ruben sah auf. Am anderen Ende des langen Tisches saß sein Patenonkel und sah ihn fragend an. Der Teenager hatte ihn nicht mal wahrgenommen.
„So viele Hausaufgaben“, murrte Ruben. „Und ständig wissen alle alles besser!“
„Was weiß wer besser?“
„Na die Lehrer! Einfach alles!“
Er stocherte mit der Gabel in seinem Essen rum.
„Die Hausaufgaben sind wegen deiner Fehlzeiten so viele“, erklärte ihm Gregory.
„Und dafür kann ich was?!“, schnaubte Ruben. „Ich hab keinen Bock mehr auf diese verkackten Hausaufgaben!“
Gregory blieb ruhig, obwohl man ihm anmerkte, dass ihm diese Unterhaltung gegen den Strich ging.
„Ich kann dir bei den Hausaufgaben helfen“, bot er an, um die Situation zu entschärfen, doch Ruben reagiert ungehalten.
Er schmiss die Gabel auf den Tisch und wischte sich mit einer ruppigen Bewegung mit dem Handrücken den Mund ab.
„Ich brauche deine Hilfe nicht!“, schrie er fast. „Ich brauche niemanden!“
Mit diesen Worten sprang er auf und rannte in sein Zimmer.
Nachdem Ruben drei Stunden an seinen Hausaufgaben gesessen hatte, war es eindeutig genug. Was sollte er mit diesem angefressenen Wissen überhaupt anfangen? Bei den Prüfungen kotzte er es doch eh wieder aus und hatte es im nächsten Moment schon vergessen. Genervt schmiss er seinen Kugelschreiber in die nächste Ecke. Scheißtag! Dachte er. Zu viele Hausaufgaben, Mitschüler, die ihn ignorierten und Lehrer die ihn einfach noch nervten. Er sehnte sich nachhause zurück. In sein echtes zu Hause in Deutschland. Bald war er 18. Dann konnte er endlich das machen, was er wollte. Lernen, wann er wollte, wohnen, wo er wollte, wichsen wann er wollte. Bei Letzterem hatte ihn gestern leider der neue Butler erwischt. Seid dem, traute er sich nicht mehr Hand an sich anzulegen. Verflucht! Dabei brauchte er dringend etwas was ihn entspannte. Kurz sah er seinen Vater vor Augen, wie er sich ein Glas Whisky eingoss und beim Trinken die Augen schloss. Wenn er sein Gläschen getrunken hatte, war er meist entspannter gewesen und hatte sich manchmal sogar dazu durchgerungen mit seinem Sohn etwas zu machen. Wenn sein alter Herr Entspannung bei einem Gläschen fand, dann vielleicht auch Ruben.
Als er die Kellertreppe runterstapfte war Ruben etwas mulmig zumute. Er fühlte sich seltsam beobachtet. Doch die Bediensteten waren längst weg und er hatte Gregory oben in der Bibliothek gesehen. Er hatte in dem kleinen Gedichtband mit der Widmung gelesen, die Ruben selbst bei seiner Ankunft in Kaene Manor entdeckt hatte. Rubens Patenonkel hatte traurig ausgesehen, doch der Junge wusste nicht, ob es eine gute Idee war ihn darauf anzusprechen. Also setzte er seinen Plan um und durchsuchte das Haus nach Alkohol. In der Küche und im Esszimmer war keiner gewesen und auch in der Bibliothek und im Arbeitszimmer hatte Ruben nichts finden können. Der Keller war der letzte Ort, an dem Ruben welchen vermutete.
Er ging also die spärlich beleuchtete Kellertreppe hinunter und blinzelte in den dunklen Gang. An der Wand tastete er nach einem Lichtschalter. Hoffentlich saß daneben keine Spinne, dachte er. Er hasste diese Krabbelviecher. Zu viele Beine.
Ein Knacken neben ihm ließ ihn aufschrecken. Das Licht ging an, flackerte und erlosch wieder. Scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße. Wieder ein Knacken. Wo kam das her? Ruben betätigte erneut den Lichtschalter. Das Licht ging flirrend an. Erleichtert atmete der Teenager aus. Angespannt lauschte er. Nichts. Absolute Stille. Der Gang führte in zwei Richtungen. Welche sollte er wählen? Einem Instinkt folgend entschied er sich für die Rechte und bog in den Gang. Er betrat einen großen Kellerraum mit Regalen. Als er das Licht eingeschaltet hatte, sah er, dass er im Vorratsraum gelandet war. Überall standen Kisten und Säcke und an der Wand stand sogar eine riesige Kühltruhe. Eine weitere Tür befand sich an der gegenüberliegenden Wand. Ruben packte die Neugierde und er ging hindurch. Der Weinkeller! Hier würde er mit Sicherheit etwas finden, was ihm genügen würde. Selbst, wenn es nur eine Flasche Wein wäre. Schlimmer als Whisky konnte der ja nicht sein.
Ruben schaltete das Licht an und erstarrte. Vor ihm hockte ein Schatten. Er blinzelte. Der Schatten war verschwunden, doch vor ihm auf dem Boden sah er eine Kiste neben einer ausgebreiteten Decke. Auf ihr stand eine Kerze. Kissen und eine weitere Decke waren auf dem Boden verteilt. Eine Weinflasche war umgefallen und ausgelaufen. Das rote Nass bildete eine Pfütze, die sich stetig weiter ausbreitete. Hier war eben noch jemand gewesen. Ruben sah sich verschreckt um. Die Pfütze berührte seine weißen Socken, färbte sie rosa. Sein Herz schlug schnell. Als er wieder vor sich blickte, war nichts von dm was er gesehen hatte mehr da. Nur aufgeräumte Weinregale. Keine Kisten, keine Decke, kein verschütteter Wein. Nichts. Was zum Teufel?! Der Junge zitterte. Dann nahm er die Beine in die Hand und rannte nach oben.
Am Samstagmorgen stand Ruben nicht auf. Er blieb einfach in seinem Bett liegen, die Decke über der Kopf gezogen, mit einem Buch und einer Taschenlampe. Die halbe Nacht hatte er gelesen. Nicht einmal umgezogen hatte er sich und als der Butler an seine Tür geklopft und ihm mitgeteilt hatte, das es nun Frühstück gäbe, da hatte er die Decke nur enger an sich gezogen. Keine zehn Pferde würden ihn dazu bringen nochmal das Bett zu verlassen. Nicht nach gestern Abend. Nicht nachdem er seine rosa verfärbte Socke gesehen hatte. Es war echt! Da unten war etwas gewesen! Eine dunkle Gestalt. Ein Schatten, ein... Nein. Er würde dieses Wort nicht mehr aussprechen. In diesem Haus ging etwas vor sich, was er nicht erklären konnte. Natürlich hatte er sich gefragt, ob er vielleicht einfach nur verrückt wurde, doch dann sah er auf seine linke Socke und hatte den Beweis vor sich, dass dem nicht so war. Er hatte diese Dinge tatsächlich gesehen.
Es klopfte und Ruben zuckte zusammen. Was wenn es das war, was er in der vergangenen Nacht im Keller gesehen hatte?
„Ruben?“, hörte er eine leise Stimme.
Es war Gregory. Seine Stimme erkannte der verängstigte Junge sofort. Sie war ihm vertraut geworden.
„Ich fühl mich nicht gut“, log er. „Ich glaub ich bin krank.“
Das Bett neben sich bewegte sich. Gregory hatte sich auf die Kante gesetzt.
„Du bist ein schlechter Lügner.“
Ruben schaltete die Taschenlampe aus und klappte das Buch zu. Die Decke ließ er da wo sie war.
„Ich fühl mich wirklich nicht so gut“, versteifte er sich auf seine Lüge.
Er konnte doch nicht einfach erzählen, was er gestern im Keller erlebt hatte. Außerdem musste er dann ja auch erklären, warum er überhaupt dort unten gewesen war.
„Na komm schon. Erzähl mir bitte, was wirklich los ist. Sonst bist du doch immer pünktlich beim Frühstück und danach im Gewächshaus beschäftigt.“
Der Teenager zog die Decke von seinem Kopf und sah Gregory an. Er lebte hier schon so lange. War hier aufgewachsen. Zumindest etwas Seltsames musste ihm doch aufgefallen sein in diesem Haus.
„Glaubst du an Geister?“, fragte Ruben leise, so als könnten ihn die seltsamen Gestalten hören.
Gregory sah ihn lange an.
Dann antwortete er: „Manchmal sehen wir Dinge, die nicht da sind. Vielleicht sind wir übermüdet, vielleicht ist es auch nur der Wunsch jemanden wiederzusehen, den man verloren hat.“
Ruben schüttelte energisch den Kopf. Er wusste einfach, dass sein Patenonkel falsch lag. Das, was er gesehen hatte, war echt gewesen. Keine Einbildung. Da war er sich mehr als nur sicher.
„Ich habs gesehen, Greg“, murmelte er. „Unten im Weinkeller. Kissen und Decken. Eine Kerze und verschütteter Wein. Und dann war da eine Gestalt. Ein Schatten. Ich habs gesehen!“
Durch Gregorys Gesicht zog ein dunkler Schleier. Dann veränderte sich seine Miene. Wurde streng.
„Was hast du dort unten gemacht? Wolltest du dich etwa betrinken? Mit Wein?“
„Es tut mir leid! Ich wollte nur...ich...ach ich weiß auch nicht.“
Ruben sah auf seine Hände. Wäre es kindisch sich jetzt wieder unter der Bettdecke zu verkriechen?
Gregorys Züge wurden wieder weicher. Liebevoll strich er ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Ruben lehnte sich instinktiv in die Berührung.
„Ich weiß, es ist hart für dich. Die Umgewöhnung fällt schwer, aber du machst dich sehr gut. Wenn du magst, kannst du mein Rad nehmen und unten ins Dorf fahren. Oder zum Friedhof. Deine Großmutter liegt dort.“
Ruben seufzte. Es war bestimmt schön hier mal herauszukommen, doch was sollte er im Dorf? Da gab es nicht mal ein Shoppingcenter oder eine Bücherei. Und der Friedhof interessierte ihn auch nicht sonderlich. Warum sollte er seine Großmutter besuchen? Er hatte sie schließlich nie gekannt.
„Ich könnte dich auf dem Friedhof begleiten“, schlug Gregory vor. „Wir könnten in der Kirche eine Kerze für die Verstorbenen anzünden. Vielleicht gibt dein Geist dann auch Ruhe.“
Ruben wusste, dass der Ältere es gut meinte und wusste es zu schätzen. Auch, wenn er soeben Rubens Geistererscheinung als Einbildung abgetan hatte. Da fiel es ihn wieder ein. Seine Socke! Sie war rosa verfärbt vom umgestoßenen Wein. Sie war der Beweis dafür, dass Ruben wirklich etwas gesehen hatte. Gregory musste ihm einfach glauben!
Rasch kroch er unter der Decke hervor und zeigte ihm seine Socke.
„Da“, rief er. „Der ausgeschüttete Wein ist bis zu meinen Füßen gelaufen! Das ist der Beweis!“
Gregory schüttelte den Kopf.
„Das bedeutet doch nur, dass du in verschütteten Wein getreten bist, Ruben. Wahrscheinlich hat die Haushälterin aus Versehen etwas verschüttet und im Dämmerlicht nicht das ganze Ausmaß dessen gesehen. Ich werde die Glühbirnen auswechseln lassen.“
Ruben war fassungslos.
„Warum glaubst du mir nicht? Ich hab etwas gesehen!“
Gregory blieb ruhig.
„Ich glaube dir ja“, sagte er. „Du hast etwas gesehen. Vermutlich deine Eltern. Dein Gehirn hat dir etwas vorgespielt, um ihren Tod zu verarbeiten. Das nennt man Trauerarbeit. Das ist völlig normal.“
Ruben wollte etwas erwidern, doch er ließ es bleiben. Es hatte keinen Zweck Gregory von etwas zu überzeugen, was er nicht wahrhaben wollte. Er ließ es auf sich beruhen und stimmte einem Besuch auf dem Friedhof zu. Auch wenn es nur war, um Gregory zufriedenzustellen.