Der Besuch auf dem Friedhof war etwa so spannend wie Wasser beim Fließen zuzusehen. Ruben trottete lustlos hinter seinem Patenonkel her und kickte immer wieder mit der Fußspitze einen Kiesel weg. Der Friedhof war klein. Nur ein paar wenige Gräber auf einer schäbigen Wiese. Ein Gärtner arbeitete hier wohl nicht oft. Den Mittelpunkt des Friedhofes bildete eine alte Kirche aus Felssteinen. Irgendetwas störte Ruben am Erscheinungsbild des Gotteshauses. Er blieb stehen, legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. Greg lief noch ein paar Schritte weiter, dann blieb er stehen und sah sich nach seinem Schützling um.
„Was ist los?“, fragte er verwundert.
Ruben antwortete erst nach einer Weile.
„Irgendetwas stört mich an dem Gebäude“, stellte er dann fest. „Kann es sein, dass die Kirche schief steht?“
War das überhaupt möglich? Fragte er sich. Konnte eine Kirche schief stehen?
Gregs Lächeln brachte auch den Jungen zum Lächeln.
Er sah ihn an und Greg antwortete: „Die Kirche ist vorn ein Stück abgesackt. Das ist vor ein paar Jahren geschehen. Nicht weiter wild, aber es fällt einem eben auf.“
„Wie konnte das denn passieren?“
„Ich schätzte, es war Baupfusch oder so. Ich habe nicht nachgefragt.“
Sie gingen weiter bis zu einem hübsch gepflegtem Grab mit einem Grabstein aus Marmor. Ein kleiner Engel saß darauf und hielt ein Buch in der Hand.
„Elenora Jones“, las Ruben laut vor.
Sie waren angekommen. Hier lag Rubens Großmutter. Eine Frau die er nie kennengelernt hatte. Sie war noch vor seiner Geburt gestorben. Seines Wissens nach hatten seine Eltern keinen Kontakt zu ihr gehabt und sonst gab es keine noch lebenden Verwandten. Wer also pflegte das Grab so hübsch?
„Wer kümmert sich um das Grab?“, fragte der dunkelhaarige Junge.
„Der Friedhofsgärtner.“
Ruben sah sich um. Die Gräber der anderen Bestatteten sahen nicht so gepflegt aus.
„Und wer bezahlt den?“
„Ich“, kam die unerwartete Antwort.
Ruben legte die Stirn in Falten. Warum bezahlte sein Patenonkel die Pflege des Grabes seiner Großmutter?
„Warum? Kanntest du meine Großmutter?“
Gregory kniete sich vor das Grab. Er wirkte nachdenklich, als er antwortete.
„Nicht besonders, doch sie war eine gute Freundin meiner eigenen Großmutter. Es wäre ihr wichtig gewesen, dass ihre Freundin gut liegt. Nach allem was vorgefallen ist.“
Ruben kniete sich neben den älteren Mann. Er war neugierig. Doch war ihr Verhältnis so gut, dass er Gregory einfach nach den Geschehnissen fragen konnte?
„Darf ich fragen...“, er druckste herum. „Was passiert ist?“
Gregory seufzte langgezogen.
„Es geht dich zwar nichts an, aber es ist deine Großmutter, also...“ Er holte tief Luft. Für einen Moment schienen ihn Erinnerungen zu durchfluten.
Ein hübscher junger Mann durchstreifte Kaene Manor auf der Suche nach seiner Großmutter. Die ältere Dame wollte sich zurückziehen, doch auch nach Stunden war sie nicht wieder aufgetaucht. Die Familie war in Aufruhr. Ruf hallten durch das Anwesen. Wo konnte die alte Frau nur sein? Der Mann betrat die Bibliothek und dort, dort hinten an einem der Bücherregale, da stand sie. „Großmutter“, rief er. Sie drehte sich um. Dann wurden ihre Augen weiß und sie fiel. Mit letzter Kraft griff sie nach halt suchend ins Regal. Etwas klickte und als die Dame den Fußboden berührte schwang das Bücherregal nach hinten und gab den Blick in einen weiteren Raum frei.
Gregory Kaene schreckte aus seinen Erinnerungen hoch.
„Meine Großmutter hatte einen Herzanfall, als ich noch sehr jung war. Ich fand sie in der Bibliothek von Kaene Manor. Sie war bereits tot, als ich sie erreichte. Deine Großmutter war über den Tod ihrer besten Freundin so bestürzt, dass sie sich das Leben nahm. Offiziell heißt es allerdings, es wäre ein Unfall gewesen. Sie musste viele Medikamente nehmen. Als alter und vergesslicher Mensch bringt man leicht mal die Dosierung durcheinander.“
Geschockt setzte sich Ruben auf den trockenen, erdigen Boden. Seine Großmutter musste einsam gewesen sein. Von seinem Vater wusste Ruben nur, dass sie eine garstige alte Dame gewesen war und ihre Familie sich deshalb von ihr abgewandt hatte. Doch sie hatte ganz offensichtlich eine Freundin finden können. Eine die ihr so viel bedeutet hatte, dass ihr all die Kraft zum Leben verloren ging, als diese starb. Seine Eltern hatten nie vom Selbstmord Elenoras erzählt. Vielleicht hatten sie sich schuldig gefühlt? Aber warum hatten sie dann nicht selbst den Friedhofsgärtner beauftragt? Nein, so groß konnten die Schuldgefühle dann doch nicht gewesen sein. Nur gerade so groß, dass sie ihrem Sohn die wahre Todesursache verschwiegen hatten.
Am Nachmittag tigerte Ruben ruhelos durch den riesigen Garten. Eine innere Unruhe hatte ihn befallen und diese wollte ihn einfach nicht loslassen. Wie viel hatten seine Eltern ihm noch verschwiegen? Was für Geheimnisse woben sich um seine Familiengeschichte? Er selbst war das letzte Mal als Kleinkind in Irland gewesen. Der Tod eines seiner Verwandten hatte seinen Dad mit ihm hier hergebracht. Doch erinnern konnte sich der Teenager daran nicht mehr. Heute hatte er keine Verwandten mehr. Er war der letzte seiner Linie. Der letzte Jones. Ein durchaus ungewöhnlicher Umstand. Doch der letzte zu sein hatte auch seine Vorteile. Er konnte tun und lassen was er wollte und die Firma seines Vaters hatte er auch nicht geerbt. Zu seinem Glück. Er hatte sich nie sonderlich für den Vertrieb von Wein interessiert. Zudem war ihm dieses Getränk nach dem Erlebnis im Keller nicht mehr sonderlich geheuer.
Als Ruben hinter dem Gewächshaus einem Trampelpfad folgte, dachte er nicht nach, wohin er ging. Er ließ sich von seinen Füßen führen und stand schließlich vor einer kleinen Wiese. In der Mitte stand ein großer Baum. Er sah an ihm hoch und entdeckte doch tatsächlich ein echtes Baumhaus. Das Holz wirkte verwittert und die Natur hatte sich bereits langsam ihren Platz zurückerobert, doch es sah alles noch stabil aus. Selbst ein Kletterseil hing herab. Sollte Ruben es wagen hinauf zu klettern? Schließlich war er kein Kind mehr? Trotzdem, als Kind hatte er sich immer eines gewünscht und nie bekommen. Dies hier wurde sicher von keinem Kind mehr benutzt und niemand würde sehen, dass er hineinkletterte. Ruben griff also nach dem Seil und kletterte nach oben.
Er hievte sich das letzte Stück mit einiger Anstrengung nach oben. Er war schon immer unsportlich gewesen. Das würde sich wohl nie ändern. Er sah auf und erschrak so heftig, dass er das Gleichgewicht verlor. Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem Rücken. Stöhnend rollte er sich auf die Seite. Verflucht! Er hörte Schritte. Dann sah Gregory von oben auf ihn herab. Er half ihm wieder auf die Beine und fragte: „Was ist passiert?“ Die Besorgnis konnte man deutlich heraushören.
Ruben klopfte sich Dreck von seinen Shorts.
„Das Baumhaus“, stotterte er. „Da ist etwas im Baumhaus!“
Der Junge war kreidebleich.
Gregory sah nach oben zur Baumkrone. Dann blickte er wieder den Teenager an.
„Hast du wieder was gesehen? Ruben, das ist nur in deiner Einbildung. Du brauchst keine Angst zu haben.“
Ruben schüttelte energisch den Kopf.
„Das war keine...!“
Er gab es auf. Was sollte es auch bringen seinem Onkel immer und immer wieder zu erzählen, dass es echt war, was er sah. Er würde ihm ja eh nicht glauben und wäre Ruben nicht derjenige gewesen, der die Schattenwesen sah, er würde es selbst für Hirngespinste halten. Also schloss er seinen Mund wieder und zuckte hilflos mit den Schultern.
Er musste wirklich elend aussehen, denn Gregory trat näher und schloss ihn fest in seine Arme. Ein Gefühl welches zwar gut war für den Jungen, sich aber dennoch seltsam anfühlte. Nur widerwillig ließ er daher die Umarmung zu.
„Ich kenne jemanden, der sich mit Trauerarbeit sehr gut auskennt“, begann Gregory schließlich das Gespräch.
Noch immer hielt er den Jungen im Arm, streichelte ihm sanft den Nacken. Eine ungewohnt vertraute Geste, die Ruben irgendwie nicht ganz einordnen konnte. Doch sie entspannte ihn und vertrieb das Bedürfnis sich von dem Älteren zu lösen.
„Es ist kein Psychologe, aber etwas in der Art. Er arbeitet bei der Feuerwehr und ist für Unfallopfer da.“
Die Information sickerte in Rubens Kopf, langsam wie Wassertropfen die durch ein undichtes Dach tröpfeln.
„Keine Therapie“, murmelte er nur. „Nie wieder.“
„Ich rede nicht von einer Therapie, Junge. Du könntest mit ihm reden. Ihm erzählen, was du durchgemacht hast. Ihm sagen, was du gesehen hast. Manchmal reicht das schon aus.“
Ruben dachte einen Moment nach. Sein Patenonkel meinte es offenbar nur gut mit ihm. Doch eigentlich wollte Ruben nicht mehr reden. Nach dem Unfall, bei dem seine Eltern starben, hatte er fast ein Jahr jede Woche zwei Therapiestunden gehabt. Er hatte so viel geredet wie in seinem gesamten bisherigen Leben nicht. Er hatte dank der vielen Therapiestunden den Aufenthalt bei der Heimeinrichtung fast nur am Rande miterlebt. Nach dem Unfall musste er erstmal irgendwo hin, bis alle Formalitäten geklärt waren. Er war zu jung und zu traumatisiert gewesen, um allein zu leben. So zumindest die Einschätzung des Gerichts. Und natürlich war er durcheinander, zutiefst erschüttert und traurig, doch das Verhältnis zu seinen Eltern war nie wirklich gut gewesen. Ruben erinnerte sich noch gut an die vielen Male, in denen er zu seiner Mutter kam und um Rat bat und sie ihn kurz und knapp abarbeitete wie eine lästige Haushaltsaufgabe. Und da sein Vater nie daheim war, hatte es für den Jungen nie jemanden gegeben, mit dem er reden konnte. Klar hatte er die Therapie genutzt, doch da er es nicht gewohnt war jemandem sein Herz auszuschütten und es doch ganz schön viel war, was auf ein mal auf ihn einprasselte, war er erleichtert gewesen, als die Therapie endete und die Therapeutin es nicht mehr zwangsläufig für nötig hielt eine weitere therapeutische Maßnahme in Anspruch zu nehmen. Der Rest würde die Zeit heilen. Nur noch alle paar Monate suchte er nun eine Therapeutin auf. Das sollte reichen. Brauchte er nun also jemanden mit dem er reden konnte? Nein. Ganz bestimmt nicht.
Er löste sich von Gregory und antwortete: „Danke fürs Angebot, aber ich hab genug geredet. Ich komme schon klar.“
Gregory sah ihn skeptisch an.
„Bist du dir sicher?“
Ruben nickte, warf einen letzten Blick zum Baumhaus und machte sich auf den Weg zurück zum Anwesen.
Der Abend verlief gewöhnlich. Abendessen, gemütliche Unterhaltung mit Gregory und danach ein heißes Bad. Das, was in der Nacht folgte, war jedoch ungewöhnlich.
Ruben erwachte, weil er etwas gehört hatte. Dieses Mal schien es ein natürliches Geräusch zu sein. Er setzte sich im Bett auf und lauschte. Nein, nichts. Kein Laut. Müde legte er sich wieder hin und drehte sich auf die Seite. Doch gerade als er die Augen wieder geschlossen hatte, hörte er es erneut. Er sprang aus dem Bett. Eine Katze! Ganz klar. Doch wo war die Katze? Da, wieder ein Maunzen. Der Junge zog sich seinen Bademantel über. Er hatte das Fenster offen gelassen, doch musste nun feststellen, dass er nachts noch recht kalt wurde. Er trat zum Fenster, um es zu schließen und warf einen Blick nach unten in den Garten und da war sie. Eine weiße Katze mit rötlichen Flecken. Sie war schlank und sah hungrig aus. Aus großen Augen sah sie ihn klagend an.
„Hey, wer bist du denn?“, rief er der Katze zu.
Als Antwort erhielt er nur ein Maunzen.
„Du bist bestimmt hungrig.“
Rasch schlüpfte Ruben in seine Hausschuhe und schnappte sich seine Taschenlampe aus der Nachttischschublade. Nach allem, was er im Haus schon erlebt hatte, gab sie ihm gefühlt ein wenig mehr Sicherheit. Er lief zur Tür, öffnete sie und späte in beide Richtungen den Gang hinaus. Mulmig war ihm ja schon, hier nachts allein im Haus herumzugeistern. Aber die Katze hatte Hunger und er wollte ihr den Dosenthunfisch aus der Kammer in der Küche holen. Der war zwar für sein Thunfischsandwich am Nachmittag gedacht, aber die Katze konnte damit sicher mehr anfangen. Also nahm der Junge seinen Mut zusammen und machte sich auf den Weg in die Küche.