Pünktlich zu Beginn der Ferienzeit hatte es Ruben erwischt. Er war das erste Mal so richtig verliebt. Ein Junge aus seiner Schule, der ihm bisher noch gar nicht aufgefallen war, war sein Schwarm geworden. Wenn er ihn sah, schlug sein Herz schneller, seine Finger wurden schwitzig und er bekam weiche Knie. Trotzdem hatte er sich getraut ihn zu sich einzuladen.
Jetzt gingen sie durch die Gänge in Kaene Manor und Ruben zeigte David sein Lieblingszimmer. Er setzte sich sogar kurz ans Klavier und spielte ein klassisches Stück. Zu Rubens Enttäuschung blieb sein heimlicher Schwarm unbeeindruckt.
Dabei konnte niemand an ihrer Schule Klavier spielen. Es gab ein Mädchen in Rubens Parallelklasse, welches Geige spielte, doch sonst schienen seine Mitschüler recht unmusikalisch. Sah man mal von der Popmusik aus dem Radio ab und dem Hip Hop den die Jungs manchmal auf dem Schulhof auf ihren Handys abspielten.
Das Desinteresse an Rubens Leben zog sich leider durch den ganzen Ferientag hindurch. Immer wieder versuchte Ruben den Mitschüler zu einer spaßigen Aktivität zu überreden oder ihn anderweitig von sich zu überzeugen, doch David zeigte ihm die kalte Schulter. Als er dann schließlich wieder mit seinem Fahrrad zurück ins Dorf fuhr, war Ruben traurig und frustriert. War er denn wirklich so langweilig? Seine Stimmung war in den Keller gesunken und hob sich auch in den nächsten Tagen nicht.
Erst an seinem 18. Geburtstag lächelte er wieder. Zum Frühstück war Greg nämlich endlich mal aus seinem Arbeitszimmer gekommen und hatte sich zu ihm gesetzt. Es gab Pancakes mit Ahornsirup und Nussnougatcreme und Sahne. Der Tisch war hübsch dekoriert mit Kerzen, Süßigkeiten und Luftschlangen und an den Stühlen hingen Luftballons. Ruben war sich zwar sicher, dass dies nicht das Werk seines Patenonkels war, dennoch freute er sich wie ein kleines Kind darüber.
Begeistert griff er nach den Pancakes.
„Gefällt dir dein Geburtstagsfrühstück?“
Ruben nahm eine Gabel Pancake mit Ahornsirup und antwortete mit vollem Mund: „Bescher alsch in meiner Kinheit.“
Gregory verkniff sich ein Lachen.
Dann meinte er streng: „Mit vollem Mund spricht man nicht!“
Schließlich konnte er sich sein Lachen allerdings nicht mehr verkneifen. Ruben grinste ihn an.
„Ich bin jetzt 18“, sagte er dann stolz. „Ich kann jetzt selbst entscheiden, wann ich rede.“
Natürlich war diese Aussage nicht ernst gemeint.
„Na dann wirst du ab heute wohl allein essen.“
Sie lächelten sich an und aßen gemeinsam ein paar Pancakes.
Den Tag verbrachten Ruben und Gregory am Pool, wobei der Ältere ständig abhaute, um etwas zu erledigen und so lümmelte Ruben mehr als nur ein mal auf der Liege am Pool und widmete sich einem neuen Buch. Das Wetter war traumhaft und er genoss die wärmenden Strahlen der Sonne auf seiner Haut. Nie hatte er sich erträumen lassen, dass er sich einmal so wohlfühlen würde, hier auf Kaene Manor. Und auch bei seinem Patenonkel hatte er anfänglich starke Zweifel, doch nun waren sie enge Freunde und er hatte absolutes Vertrauen in ihn. Der Junge genoss die Nähe zu dem älteren Mann sehr und hoffte immer auf ein wenig mehr Zeit mit ihm.
Und was war das eigentlich für ein angenehmes Gefühl, wenn Greg in der Nähe war? So ein Gefühl hatte der Teenager bei keiner anderen Person.
Er widmete sich wieder seinem Buch, als neben ihm die Gartenliege quietschte.
„Warum verrätst du mir nicht endlich warum du mich heute ständig allein lässt?“, fragte Ruben. „Hat es was mit meinem Geburtstag zu tun?“
Er bekam keine Antwort. Dann quietschte die Liege erneut. Die Luft schien plötzlich zu flimmern. Ein kalter Luftzug streifte den Jungen. Er sah auf. Aus den Augenwinkeln konnte er noch gerade so eine Gestalt erkennen. Dann war wieder alles beim alten. Ruben saß da und bewegte sich nicht mehr.
„Hey, was ist denn los, Junge? Du siehst so blass aus?“
Greg kam um den Pool rum und setzte sich auf die freie Gartenliege. Ruben starrte noch immer in die Richtung, aus der er die Gestalt gesehen hatte.
„Ein Schatten. Schon wieder“, murmelte er nur.
Er wusste mittlerweile, dass er seinem Paten so etwas erzählen konnte, ohne dass dieser ihn sofort für verrückt hielt. Dennoch hielt er sich mit Details über seine Sichtungen zurück. Nicht, dass Greg ihn doch noch zu irgendeinem Psychoheini schickte.
Greg wandte sich zu ihm, legte ihm väterlich eine Hand auf die Schulter und sagte mit sanfter Stimme: „Ist okay, Ruben. Du brauchst keine Angst zu haben. Oder hat dir bisher irgendeiner dieser Schatten etwas getan?“
Ruben schüttelte den Kopf.
„Nein, ich hab sie einfach nur gesehen oder gehört.“
„Gehört?“, fragte Gregory verdutzt.
Ruben nickte.
„Im Baumhaus. Da war Vaters Lachen.“
„Carls? Bist du dir sicher?“
„Ja“, meinte der junge Mann. „Ich würde seine Stimme immer wiedererkennen.“
„Nun, wie ich schon sagte, d u verarbeitest seinen Tod.“
„Vermutlich hast du recht“, meinte Ruben um das Thema zu beenden. „Kommst du mit in den Pool?“
Am Abend hatte Ruben die Anweisung bekommen für ein paar Minuten auf seinem Zimmer zu bleiben. So langsam war ihm klar, was die Geheimniskrämerei heute sollte. Greg hatte eine Überraschung für ihn. Doch was konnte es sein, was so viel Aufwand machte? Unten rumpelte es. Plante Gregory etwa eine Party? War es das, was er den ganzen Tag über vorbereitet hatte? Der Butler war ebenfalls den halben Tag umhergehuscht und hatte kaum Zeit für seine üblichen Aufgaben gehabt. Es konnte sich also bei der Überraschung nur um eine Party handeln. Doch Ruben kannte kaum jemanden. Wen sollte Greg also eingeladen haben? Eine Party zu zweit war doch langweilig. Fieberhaft überlegte Ruben, als es an seiner Zimmertür klopfte und der Butler exakt 3 Sekunden wartete, bevor er die Tür einen Spalt breit öffnete und sich räusperte.
„Der junge Herr kann jetzt nach unten gehen. Eine Überraschung wartet auf ihn im Esszimmer.“
Mit diesen Worten schloss der ältere Herr wieder die Tür und Ruben zupfte noch schnell seine Kleidung und sein Haar zurecht. Wenn ihn dort unten tatsächlich eine Party erwartete, dann wollte er doch wenigstens gut aussehen, auch wenn er nicht wusste für wen. Und ohnehin. Gut aussehen wollte er nur für Gregory.
Der Junge, der kein Junge mehr war, betrat das Esszimmer und staunte. Alles war geschmückt mit Ballons und Girlanden. Der Esstisch und die dazugehörigen Stühle waren weg, stattdessen standen zwei lange Tische an den Seiten des Raumes. Sie waren mit allerlei Leckereien beladen. Ruben konnte eine riesige Schale mit grüner Götterspeise ausmachen und mehrere Schüsseln mit Chips, Erdnussflips, und Käsebällchen. Daneben standen weitere leckere Kleinigkeiten. Selbst ein Mettigel war dabei. Wie altmodisch, dachte Ruben. Was ihn jedoch wesentlich mehr verwunderte waren, die vielen Menschen, die den Raum beinahe vollständig ausfüllten. Er erkannte ein paar seiner Schulkameraden und Menschen aus dem Dorf. Und mitten drin stand Greg. Er lächelte ihn unsicher an.
„Willkommen auf deiner Geburtstagsparty!“, begrüßte er ihn und schaltete mittels Fernbedienung die Stereoanlage an, aus der beinahe augenblicklich schallend laute Popmusik dröhnte.
Rubens Herz schlug schnell. Viel schneller als gewohnt. Die Musik erschien ihm viel zu laut. Einen Moment starrte er nur fassungslos in die Menschenmenge, die sich hier in ihrem Esszimmer eingefunden hatte, dann packte ihn blanke Panik. Er setzt nur noch einen Fuß vor den anderen, bahnte sich seinen Weg durch die Gäste dieser Party und rannte schließlich aus dem Haus. Am Pool vorbei, zum Gewächshaus und nach hinten rum zu seinem einzig echtem Rückzugsort, dem Baumhaus.
Streuner begrüßte den jungen Mann schnurrend oben angekommen. Erst jetzt kehrte wieder Ruhe in Ruben ein. Er grüßte die Katze, in dem er ihr über den Kopf streichelte und ließ sich auf seine Matratze fallen. Erinnerung überrollten ihn wie eine Lawine. Erinnerungen an eine Party, zu der er damals in der Mittelstufe einmal eingeladen war und die in einem Desaster endete. Er wurde gedemütigt und ausgelacht. Weil er anders war. Weil er sich anders verhalten hatte. Er hatte nie zu ihnen gehört. Zu den Kids denen alles in den Schoß fiel. Zu denen, die nur ihre Eltern bitten mussten und schon bekamen sie alles. Ja, seine Eltern waren gut betucht gewesen und es gab Familienvermögen, welches er in ein paar Jahren bekommen würde, doch es gab einen hohen Preis. Seine Eltern hatten sich nie richtig um ihn gekümmert. Ihr Verhältnis war angespannt gewesen. Geprägt von den Streitigkeiten der Eltern und dem nicht da sein. Den Großteil seiner Kindheit hatte Ruben Kindermädchen gehabt. Jemanden der mit ihm gespielt und Hausaufgaben gemacht hat. Selbst, wenn er krank gewesen war, waren seine Eltern nie für ihn da gewesen. Sein Dad war immer in der Firma, welche nach seinem Tod natürlich nicht an seinen einzigen Sohn ging, sondern an den Geschäftspartner. Nach seiner Ansicht hätte Ruben ja eh kein Interesse gehabt. Und seine Mutter war ständig nur am Zeichnen und Mahlen. Das Interesse für ihren Sohn ging so ziemlich gen Null. Ruben hatte sich früh damit abgefunden. Hatte Trost in seinen Büchern gefunden. Welten in denen er sich sicher und geborgen fühlte. Sein persönliches Happy End, wenn alles schieflief und er niemanden hatte außer sich selbst.
Erst mit dem Einzug nach Kaene Manor hatte sich das geändert. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich geborgen und sicher und verstanden gefühlt. Er hatte sogar geglaubt Gregory würde wissen was er dachte und fühlte und was er sich wünschte. Scheinbar hatte er sich geirrt.
Ein Rascheln und das Geräusch näher kommender Schritte rissen Ruben aus seinen Gedanken. Dann hörte er das Knarzen der Strickleiter, die er letzte Woche erst angebracht hatte und Gregs Kopf erschien am Eingang des Baumhauses.
„Darf ich hochkommen?“
„Nein!“, murrte Ruben. Dann fiel ihm ein, dass er nun rein technisch gesehen kein Teenager mehr war und sich seinen Problemen besser stellen sollte und korrigierte: „Ja, darfst du.“
Gregory zog sich mühsam ins Baumhaus und setzte sich neben seinen Jungen. Ihre Schultern und Oberschenkel berührten sich, weil das Baumhaus eben doch recht schmal war.
„Ich hab dir deinen Geburtstag versaut, oder?“, fragte der Ältere schuldbewusst. „Ich glaube, ich kenne dich noch nicht gut genug, um dir eine Party schmeißen zu können, die dir gefällt.“
Er wirkte geknickt. So als hätte er sich die größte Mühe gegeben und wäre dennoch gescheitert und das stimmte ja sogar irgendwie. Er hatte daneben gelegen, aber das war nicht seine Schuld.
Ruben sah ihn von der Seite aus verstohlen an.
Dann sagte er leise: „Es war gut gemeint. Und, nein, du hast ihn nicht versaut.“
„Aber das Gegenteil von gut gemacht ist gut gemeint.“
„Es ist nicht deine Schuld. Es ist meine. Ich hatte falsche Erwartungen und ...“, er brach ab. Nein, die Vergangenheit konnte bleiben, wo sie war. Sie war abgeschlossen und er würde sie nicht wieder hervorholen, indem er Gregory von der missglückten Party in seiner Schulzeit berichtete.
Doch sein Patenonkel war einfühlsamer als gedacht und fragte nach.
„Und was? Böse Erinnerungen?“
Ruben war verblüfft.
„Woher weißt du?“
„Ich kenne dich wohl doch gut genug. Deine Reaktionen verraten mir viel. Dein Blick, wenn du schlechte Erinnerungen hast, ist mir sehr wohlbekannt“, erklärte Greg und legte eine Hand beruhigend auf Rubens Oberschenkel.
Er schien die innere Unruhe, die den jungen Mann befallen hatte aufzufallen.
„Ist es okay, wenn ich nicht darüber rede?“
Greg nickte.
„Natürlich. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich immer für dich da sein werde. Du kannst mit mir über alles reden. Egal was es ist."
„Egal was?“, fragte Ruben leise und sah ihm in die Augen. Greg nickte. „Dann kann ich dir mal was erzählen?“ Erneut nickte Greg. Ruben sah auf die Hand, auf seinem Oberschenkel. „Es gibt da einen Jungen an meiner Schule“, begann er etwas unsicher. „Ich mag ihn sehr, aber er scheint sich nicht wirklich für mich zu interessieren.“
„Du meinst David?“
Ruben nickte.
„Er scheint mich langweilig zu finden.“
Eine Hand wanderte in Rubens Nacken. Finger begannen ihn zu kraulen.
„Hey“, meinte Gregory. „Sieh mich an, Ruben.“ Ruben sah zu ihm. „Du bist ein großartiger junger Mann mit ganz wunderbaren Eigenschaften. Wenn dieser Junge dich langweilig findet, dann ist er deine Gefühle für ihn nicht wert.“
Zum Ende hin wurden die Worte immer leiser.
Etwas zwischen ihnen hatte sich verändert. Die Luft um sie herum schien merkwürdig aufgeladen. Rubens Herz schlug laut und schnell. Aus irgendeinem Impuls heraus beugte er sich vor. Seine Lippen waren nur einen Zentimeter von Gregs entfernt. Ruben konnte seinen heißen Atem spüren. Dann hörte er ein Maunzen und ein warmer Katzenkörper drängte sich zwischen sie. Gregory zog sich sofort zurück. Einen Moment murmelte er etwas wie „Katze“, dann stand er auf, entschuldigte sich hastig und verließ das Baumhaus.
Ruben blieb verwirrt und überrascht zurück. Streuner hatte sich auf seinem Schoß zusammengerollt und schnurrte glücklich.