Am Morgen nach seinem Geburtstag wollte Ruben einfach nicht aus dem Bett kommen. Es graute ihm vor dem Frühstück mit Greg. Zudem hatte er gestern einen über den Durst getrunken und jetzt heftige Kopfschmerzen. Und an all dem Dilemma war nur Greg schuld. Er hatte diese Party für ihn geschmissen und dann hatte er...er hatte...
Ruben konnte es nicht aussprechen. Das, was zwischen ihnen geschehen war, hatte sein Herz aufgewühlt. Er konnte noch immer Gregorys einzigartigen Duft nach Mann riechen und seinen warmen Atem spüren. Die Hand auf seinem Oberschenkel. Diese Nähe. Die Empfindungen, die das Geschehen ausgelöst hatten, konnte und wollte der junge Mann nicht beschreiben.
Er zog sich die Bettdecke bis unter die Nasenspitze. Warum schlug sein Herz so rasend schnell, wenn er an gestern Abend dachte? Warum konnte er Greg jetzt nicht mehr in die Augen sehen? Warum konnte er nicht einfach vergessen, was geschehen war?
Es klopfte an der Tür. Nach einem kurzen Moment öffnete sie sich und der Butler streckte den Kopf durch den Spalt. Das dunkle, zurückgekämmte Haar, welches dem älteren Mann bereits langsam ausging, schien heute weniger gut zu sitzen. Überhaupt wirkte der Butler gestresster als sonst.
„Junger Herr“, sprach er. „Mister Kaene erwartet sie beim Frühstück.“
„Danke. Bin gleich da“, nuschelte Ruben in seine Bettdecke. Die Tür schloss sich wieder und er starrte an die Decke.
Ich kann nicht. Dachte er immer wieder. Ich kann nicht mit ihm frühstücken. Ich kann nicht mit ihm dasitzen und so tun als wäre nie etwas gewesen. Er drehte sich auf die Seite, starrte seinen Schrank an. Wenn ich jetzt nicht runtergehe, so dachte er, kommt er hoch. Ich muss runtergehen.
Aus diesem Grund schob er die Decke weg und stand auf. Weglaufen ging wohl nicht und sich verkriechen auch nicht. Außerdem war er seit gestern ganz offiziell erwachsen und erwachsene regelten ihre Dinge von Angesicht zu Angesicht und liefen weder davon, noch versteckten sie sich. Aus diesem Grund machte er sich fertig und ging hinunter ins Esszimmer.
Sein Patenonkel saß bereits an einem Ende der langen Tafel. Die Tageszeitung hatte er vor sich ausgebreitet und hielt sie hoch vor sein Gesicht wie einen Schild. Zumindest kam es Ruben so vor. Der Junge setzte sich gegenüber von ihm an den Tisch.
„Morgen“, sagte er, als er sich ein paar gebratenen Würstchen auf den Teller tat.
Hunger hatte er eigentlich keinen. Greg legte seine Zeitung weg und nahm sich etwas Rüheei.
„Guten Morgen!“, sagte er gut gelaunt. „Du bist spät. Brauchst du eine Kopfschmerztablette?“
Er schien seinen Jungen wirklich zu kennen, denn dieser nickte.
„Bates! Bring dem Jungen eine Tablette gegen seine Kopfschmerzen!“
Minuten später nur kam der Butler mit einem Glas Wasser und einer Tablette an der Tisch und reichte sie Ruben. Dieser nahm dankend an und schluckte das Medikament mit reichlich Wasser. Hoffentlich half die Tablette bald.
Das Essen verlief wie immer. Mit einem Unterschied. Sie redeten kein Wort miteinander. Konnte es sein, dass sich Greg auch Gedanken machte?
Erst als Ruben aufgegessen hatte und sich gerade verabschieden wollte, sprach Greg ihn an.
„Ich hab noch ein Geschenk für dich. Bin gestern nicht mehr dazu gekommen es dir zu geben.“
Ruben setzte sich wieder und sah seinen Patenonkel interessiert an. Es war das erste Mal seit dem Vorfall im Baumhaus, dass er ihn direkt ansah. In seinem Bauch kribbelte es. Diese Rehbraunen Augen. Er könnte augenblicklich in ihnen versinken.
„Was ist es?“, fragte Ruben mit einem Kloß im Hals.
Greg stand auf, begab sich zur Kommode im Flur und kam mit ein Paar Bögen Papier zurück. Diese Reichte er seinem Patenkind.
Ruben nahm die Schriftstücke entgegen und überflog sie. Das Beamtendeutsch jedoch konnte er nicht ganz verstehen. Es schien etwas mit dem Anwesen zu tun zu haben. Doch was genau? Was waren das für Papiere? Fragend sah er den Älteren an.
„Was ist das?“
Greg lächelte sanft und erklärte: „Das sind Unterlagen über den Besitz dieses Anwesens. Es steht darin, dass wenn ich sterbe, Kaene Manor an dich übertragen wird.“
Ruben stand der Mund offen. Greg überließ ihm das Haus?
„Einfach so?“, fragte er.
„Einfach so. Ich habe nur eine Bitte.“ Er setzte sich auf einen Stuhl neben Ruben und sah ihn ernst an. „Ich möchte, dass du bei mir bleibst. Auch nachdem was ich getan habe.“
Ruben verstand nicht ganz.
„Was du getan hast?“
Greg seufzte und rieb sich die Stirn mit zwei Fingern.
„Es tut mir leid, dass ich dich gestern fast geküsst hab, Junge“, sagte er dann geknickt. „Ich weiß nicht was da in mich gefahren ist, es ist nur so, dass du...ach vergiss es.“
Doch Ruben wollte nicht vergessen.
„Was?“, fragte er. „Dass ich was?“
„Es ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, ob du mir verzeihen kannst.“
Entschuldigte er sich gerade wirklich für diesen Fastkuss? Hatte er wirklich ein schlechtes Gewissen deswegen? Ruben konnte es nicht glauben. Und dann auch noch die Übertragung des Hauses. Er musste dringen nachdenken.
„Lass mich...lass mich bitte darüber nachdenken“, bat er.
Greg sah etwas geknickt aus, nickte aber.
„Sicher“, sagte er. „Aber lass dir nicht zu lange Zeit. Morgen steht der Termin beim Anwalt. Da musst du unterschreiben, dass du das Haus übernimmst. Vorausgesetzt, du willst es.“
„Natürlich“, sagte der junge Mann und stand vom Tisch auf. Er wollte zum Baumhaus. Allein sein. Seine Gedanken Streuner mitteilen.
Am Nachmittag erst verließ er das Baumhaus wieder. In Abgeschiedenheit hatte der Katze von dem berichtet, was beim Frühstück geschehen war und war sich darüber klargeworden, dass er den Fastkuss einfach nur vergessen wollte. Ihn und alles was dazugehörte. Alle seltsamen Gefühle. Das Geschenk würde er annehmen. Wie konnte man ein solches Angebot auch ausschlagen? Und bleiben wollte er natürlich auch. Greg zu verzeihen war einfach, denn es gab nichts, was er ihm verzeihen musste. Manchmal machte man eben Dinge, die man sonst nicht machen würde und gestern war eine besondere Situation gewesen.
Ruben beschloss eine Runde schwimmen zu gehen.
Er schnappte sich ein Handtuch aus seinem Zimmer, zog sich rasch seine Badehose an und schlüpfte in seine Badelatschen. Auf seinem Weg durchs Haus kam es ihm ungewöhnlich still vor. Nicht einmal Bates war zu hören, wie er irgendwelche Aufgaben verrichtete. Die Stille war erdrückend, füllte das ganze Haus bis in seine Grundmauern. Ruben fühlte sich unsicher, unwohl und seltsam beobachtet. An der Terrassentür angekommen, drehte er sich noch einmal um. Es war ihm so, als hätte er etwas im Augenwinkel gesehen. Doch als er hinter sich blickte, war alles beim Alten.
Er öffnete die Tür, schlüpfte hindurch und lief nach draußen. Wahrscheinlich war er nur angespannt und bildete sich deshalb Dinge ein. Er hatte schon seit einiger Zeit nichts Übernatürliches mehr wahrgenommen. Warum sollte sich das jetzt plötzlich ändern?
Am Pool angekommen, breitete der Junge sein Handtuch auf einem der Liegestühle aus, setzte sich und streckte die Beine aus. Das Wetter war herrlich, der Sommer endlich auch hier angekommen und Ruben hatte beschlossen den Tag zu genießen. Ein wenig in der Sonne dösen, ein Buch lesen, oder zwei, vielleicht ein paar Bahnen schwimmen. Mehr würde er heute nicht tun. Auch nicht über seinen Patenonkel nachgrübeln.
Einige Minuten später betrat Greg den Poolbereich. Er sagte nichts. Legte nur sein Handtuch auf die Liege neben seinen Schützling und stieg dann in den Pool.
Ruben, welcher mit dunkler Sonnenbrille auf der Liege lag, vermutete, Gregory, dachte, er schliefe. Und warum sollte er ihm zeigen, dass es nicht so war? Er genoss doch gerade die Stille so. Also beobachtete Ruben, wie Greg ein paar Bahnen schwamm. Die Muskelstränge an Armen und dem Rücken bewegten sich unter der Haut und faszinierten den jungen Mann. Seine Augen klebten förmlich an der Rückseite des Älteren. Er konnte sich nicht davon losreißen. Was war nur los mit ihm?
Greg schwamm mehrere Bahnen, dann stieg er wieder aus dem Wasser. Ein berauschender Anblick für den Jungen. Das Wasser, welches vom muskulösen Körper tropfte, die enge Badehose, welche kaum Platz zum Träumen ließ, als das war das pure Aphrodisiakum für Ruben. Er starrte seinen Paten mit offenem Mund an. Was für ein Mann, dachte er sich. Wie sich dieser Körper wohl anfühlen musste?
„Na, doch wach?“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen.
„Was?“, fragte er verwirrt.
„Hast du geschlafen?“, fragte Greg, nahm sich ein Handtuch vom Beckenrand und rubbelte sich die etwas zu langen dunklen Haare trocken und setzte sich auf die Liege neben Ruben.
„Ein wenig“, log der Junge.
„Wenn du neidisch bist, solltest du ein wenig trainieren“, sagte Greg, und Ruben wusste erst nicht worum es ging. Dann verstand er. Er hatte die Lüge durchschaut und wusste genau, dass Ruben ihn angestarrt hatte. „Ich hab diesen Körper durchs Schwimmen. Du könntest mit mir trainieren. Und wir könnten gemeinsam laufen gehen.“
In Rubens Kopf ratterte es. Er war leicht irritiert. Sein Patenonkel hatte scheinbar nicht bemerkt, dass Rubens Blicke mehr lustvoll als bewundernd gewesen waren. Gott sei Dank. Er räusperte sich.
Dann setzte er die Brille ab und meinte: „Ich glaub nicht, dass das bei mir einen Effekt hätte.“
Greg lächelte ihn offen an.
„Selbst wenn es keinen Effekt auf deine Muskelmasse hat, so würde es dir trotzdem guttun. Und wir beide würden etwas gemeinsam tun. Denk darüber nach.“
Er lehnte sich in seinem Liegestuhl zurück und schloss die Augen.
Und Ruben dachte darüber nach. Er wollte Zeit mit Gregory verbringen, so viel Zeit wie nur irgend möglich. Das Bedürfnis danach war trotz der widerstrebenden Gefühle, die in ihm auftauchten, nicht verraucht und so machte es durchaus Sinn, zuzusagen und das hoffentlich regelmäßige Training mit dem Älteren dankend anzunehmen. Einige Minuten jedoch, sah er den anderen nur von der Seite aus verstohlen an. Er sah gut aus. Zu gut für seinen Geschmack und er wusste, er sollte so nicht empfinden. Nicht für den Mann, der ihn bei sich aufgenommen hatte und ihn wie einen Sohn behandelte. Wobei. Hatte er das ja wirklich getan? Mal abgesehen davon, dass er ihm bei den Hausaufgaben geholfen hatte, hatte er sich nie wirklich väterlich ihm gegenüber verhalten. Doch wenn Ruben ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er dies auch nie wirklich gewollt. So schlecht das Verhältnis zu seinem verstorbenen Vater auch gewesen war, so wenig konnte irgendjemand ihn ersetzen und das hatte der Junge auch nie gewollt. Wirklich nicht. Nicht zuletzt auch, weil das Verhältnis zu seinem Patenonkel so viel besser war, als es zu seinem Vater je gewesen war. Um nichts in der Welt hätte Ruben es einzutauschen gewollt. Nein. Es war gut so, wie es war. Ob es nun darum ging, dass es so gar nicht väterlich war oder darum, wie es im Allgemeinen war. Er genoss die starke Bindung, welche sie beide verband und welche er mit seinem Vater wohl niemals gehabt hätte. Egal wie groß die Mühen seinerseits darum gewesen waren oder gewesen wären, würde Carl Jones noch leben. Es machte ohnehin keinen Unterschied. Das hier und jetzt zählte und wenn Ruben das hier und jetzt nicht genießen würde und sich von Gefühlen, die er nicht haben sollte, die gute Beziehung zu seinem Patenonkel kaputt machen ließe, dann wäre er ja wohl ziemlich dumm.
Also setzte der Junge sich auf, nahm die Sonnenbrille ab und sagt: „Wann fangen wir denn mit dem Training an?“
Greg sah ihn verwundert an. „Wie wäre es mit morgen früh?“, fragte er. „Jetzt wo die Schule vorbei ist und du nur noch für deine Abschlussprüfung büffeln musst, hast du ja Zeit.“ Er setzte sich auf und lächelte zufrieden. „Über eine Sache müssen wir aber noch reden. Verzeihst du mir meinen Ausrutscher?“
Ruben schluckte. Totschweigen ging wohl nicht.
„Da gibt es nichts zu verzeihen“, antwortete er nach einer kurzen Pause. „Du hast nichts getan, was ich nicht gewollt hätte.“
Greg sah ihn an. Lange und mit einem Gesichtsausdruck, den Ruben nicht wirklich deuten konnte. War es Schuld? Verärgerung über diese unbedacht ausgesprochenen Worte? Die Spannung, die plötzlich zwischen ihnen herrschte, war spürbar. Doch es war keine Spannung wie die, welche bei ihrem Fastkuss geherrscht hatte. Ruben hatte Angst vor den folgenden Worten.
„Ich hätte dich nicht in die Situation bringen dürfen, in der du so etwas willst. Ich bin viel zu alt, als dass ich dich küssen dürfte, Ruben. Und ich möchte nicht, dass du anders darüber denkst. Ich bin froh, dass du mir verziehen hast, aber bitte sieh meinen Fehler. Da gibt es nichts Positives an dieser Sache. Ich hätte das nicht tun dürfen und du solltest nicht wollen, dass ich es tue.“ Ruben wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Greg fuhr sich mit der Hand durchs Haar und atmete tief durch. „Bitte, lass mich für einen Moment allein, Ruben. Ich muss...“, er suchte offenbar nach den richtigen Worten, „nachdenken“, sagte er.
Ruben stand langsam auf, schnappte sich sein Handtuch und seine Sonnenbrille und ging rüber zur Terrasse. Im Gehen drehte er sich noch einmal um, sah zu seinem Patenonkel herüber. Ein dicker Klos saß in seinem Hals fest und wollte nicht verschwinden. Dann dreht er sich um und, betrat das Haus.