Minutenlang schwiegen sie. Dann kam Greg zu ihm rüber und setzte sich neben ihn auf das Ledersofa.
„Weißt du“, begann Greg schließlich. „Manchmal sehen wir Menschen Dinge. Dinge, die längst vergangen sind.“
Ruben sah seinen Patenonkel von der Seite aus an.
„Was meinst du damit?“
Gregory seufzte.
„Meine Großtante erzählte mir als Jugendlicher davon. Es gibt Menschen, die solchen Dingen offener gegenüberstehen, als andere.“ Ruben hörte geduldig zu. Jedoch verstand er nicht, worauf Greg hinauswollte. „Sie gehörte zu diesen Menschen.“ Er rieb sich mit zwei Fingern den Nasenrücken. „Ich habe ihr nicht geglaubt. Ich hielt sie all die Jahre für verrückt. Doch jetzt.“ Er machte eine lange Pause, atmete tief durch. „Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.“
Das Klingeln des Telefons riss beide aus ihrer Starre. Greg stand auf und lief in den Flur. Ruben folgte ihm unsicher. Tausend Dinge gingen ihm durch den Kopf. War Gregs Großtante sowas wie ein Medium gewesen? Oder konnte sie einfach nur Geister sehen? Und hatten er und Gregory gerade eben dasselbe gesehen?
Greg nahm den Hörer in die Hand und hielt ihn ans Ohr.
„Ja“, hörte Ruben ihn sagen. Kurz darauf: „John?! Was willst du?“
Greg machte Anstalten sofort aufzulegen. Dann entschied er sich offensichtlich dagegen und ging lediglich mit dem Telefon in der Hand in Richtung Treppe. Ruben blieb zurück. Offenbar wollte Greg nicht, dass er etwas von dem Telefonat mitbekam und das würde er akzeptieren. Es würde schon seine Gründe haben.
Grübelnd machte er sich auf dem Weg in die Küche, um sich einen Apfel zu holen. Mittag essen würden sie erst nach dem Termin beim Anwalt. Ruben hoffte, dass es schnell gehen würde. Er hatte ohnehin keine Ahnung von diesem Kram. Vermutlich würde er nur irgendwo unterschreiben und dann war die Sache erledigt.
Er biss in seinen Apfel, da kam Greg auch schon wieder nach unten.
„Wir müssen los“, sagte er kurz angebunden und machte sich auf den Weg zur Garage.
Ruben lief lustlos hinterher. Zumindest konnten sie mit dem Cabrio fahren, so warm war es. Ein Lichtblick am Horizont.
Sie fuhren tatsächlich mit dem dunkelblauen Cabrio. Gregory fuhr selbst. Er wollte sein Auto keinem Fahrer überlassen. Viel zu gern fuhr er selbst, hatte er Ruben erklärt. Sie fuhren den Hügel, auf dem Kaene Manor thronte hinab und weiter ins nächste Dorf. Von hier aus war es nur noch ein Stück bis zur Kanzlei von Mister Chester. Das Haus, vor dem sie wenig später parkten, war eigentlich ein ganz normales Wohnhaus. Die Kanzlei war in der ersten Etage untergebracht, während Mister Chester seine Wohnung im Dachgeschoss hatte. Der Vorgarten war gut gepflegt und es führte ein kleiner schmaler Kiespfad hinter das Haus. Man konnte hinten einen großen Apfelbaum mit einer Schaukel erkennen. Vermutlich hatte der Anwalt Kinder.
Als sie die Stufen der Verander hinaufgingen, wurde ihnen von einem kleinen, schlanken Mann Mitte dreißig bereits die Tür geöffnet. Sein schütteres Haar war streng zurückgekämmt, der altmodische Anzug saß locker. Mister Chester wirkte etwas ungehalten. Vermutlich waren sie zu spät.
Er begrüßte sie beide unwirsch und bat sie herein. Sie liefen durch einen schmalen Flur, mit dunkler Tapete und Täfelungen und betratet schließlich das Büro des Anwalts. Gregory entschuldigte sich für ihr zu spätes Erscheinen und setzte sich unaufgefordert in einen der beiden Ledersessel, die vor dem Eichenschreibtisch standen. Ruben tat es ihm gleich.
Mister Chester schien es eilig zu haben, denn er legte Papiere vor, erklärte Dinge, die Ruben ohnehin nicht verstand und ließ sie beide gefühlte hundertmal unterschreiben. Am Ende wechselte ein Check den Besitzer und Ruben verließ mit Gregory wieder das Haus. Der junge Mann war sichtlich froh, wieder draußen zu sein. Erst als sie wieder im Auto saßen und sich auf dem Rückweg befanden, sprach er wieder.
„Steht heute noch irgendwas an?“, erkundigte er sich.
„Nein, aber ich dachte, wir könnten das Mittagessen heute nach außerhalb verlegen.“
„Nach außerhalb?“
Ruben sah seinen Patenonkel von der Seite aus an.
„Ja“, antwortete dieser. „Hier im Ort gibt es ein wunderbares Restaurant. Wir könnten in Ruhe etwas essen gehen und etwas besprechen.“
Das war es also, dachte Ruben. Greg wollte ihm etwas Unangenehmes sagen und verhindern, dass er weglief, wenn es ihm nicht passte. Verdammt. Er kannte ihn einfach zu gut!
„Okay“, meinte er schließlich, dennoch. „Dann lass uns essen gehen.“
Wenige Minuten später saßen sie in einem kleinen Restaurant. Es war recht gut besucht, aber für sie beide war noch ein Tisch frei. Sie setzten sich und Ruben betrachtete die Umgebung. Sie saßen draußen auf einer geräumigen Terrasse, welche mit hohen Hecken umrandet war. Schlicht, aber wenigstens an der frischen Luft. Als der Kellner die Karte brachte, begann Greg das Gespräch.
„Mein Bruder Johnathan hat vorhin angerufen. Er wird innerhalb der nächsten Wochen bei uns einziehen. Zumindest vorerst. Er wird nicht bleiben.“
Ruben schaute von der Karte auf.
„Du hast einen Bruder?“, fragte er.
„Ja. Er ist ein paar Jahre älter als ich.“
Ruben dachte nach. Wenn er älter war als Greg, warum gehörte ihm dann nicht Kaene Manor?
„Warum gehört dann dir das Haus?“, fragte er also neugierig.
Gregory lehnte sich in seinem Stuhl zurück und seufzte.
„Unsere Eltern haben darauf bestanden, dass ich es bekäme und er hat sich nicht beschwert. Er wollte damals wohl nur eines. Weg von mir.“
Ruben merkte schnell, dass es kein gutes Thema war, um nachzuhaken. Also beließ er es dabei.
„Weiß er von mir?“, fragte er lediglich.
Greg sah ihn lange an.
Dann antwortete er: „Nein. Es ging ihn nichts an.“
Die Aussage hinterließ einen faden Beigeschmack auf Rubens Zunge. Er fühlte sich unwichtig. So, als wäre er halt plötzlich da gewesen und Greg hatte es hingenommen. Und war es nicht genau so gewesen?
„Hey“, sprach Gregory ihn an. Er sah ihm tief in die Augen und griff über den Tisch hinweg nach seiner Hand. „Damals kannte ich dich noch nicht. Heute weiß ich, dass du zu mir gehörst. Ich werde es ihm bei unserem nächsten Telefonat sagen.“
Rubens Herz schlug schnell bei dieser Aussage. Er gehörte zu ihm! Natürlich war es nicht so gemeint, wie der Junge dies gern gehabt hätte, aber es war ein Anfang. Und vielleicht, musste er den winzigen Funken Hoffnung, ja doch nicht aufgeben.
Erst am späten Nachmittag kamen beide wieder zurück zum Anwesen. Sie hatten lange geredet und sich schließlich dazu entschlossen, noch eine Spritztour mit dem Wagen zu machen. Ruben genoss die Zeit mit Greg und war zum ersten Mal seit ewigen Zeiten wieder richtig gut gelaunt. Er fühlte sich befreit und pudelwohl. Greg war toll. Er hatte sich ganz und gar seinem Schützling gewidmet und sogar einen Anruf von seinem Bruder weggedrückt. Dem Jungen bedeuteten diese gemeinsamen Momente alles. Sie schweißten sie näher zusammen und lösten Glücksgefühle in ihm aus. Der Tag konnte nicht besser werden.
Der Rest des Tages verlief ruhig. Ein paar Runden im Pool, ein wenig lesen und ein gemeinsames Schachspiel. Das hieß, eigentlich spielte Greg gegen sich selbst, da Ruben nie zuvor Schach gespielt hatte und alle Bemühungen es ihm beizubringen nichts brachten. Doch der junge Mann versuchte es mit vollem Eifer.
Das Abendessen fiel an diesem Abend schlicht aus. Es gab Coddle, ein traditionell irisches Gericht mit Kartoffeln, Zwiebeln und in diesem Falle Wurst. Ruben mochte diese Suppe lieber mit Speck, aber an diesem Tag war es ihm egal. Er aß ohnehin nicht viel davon, weil er noch vom späten Mittagessen gut gesättigt war.
Zu dreiundzwanzig Uhr zog er sich schließlich mit einem Buch in der Hand in sein Zimmer zurück. Er hatte gebadet und sich in Boxershorts auf das breite Fensterbrett gesetzt. Hier saß er nun, mit seinem Buch in der Hand und genoss die Stille, welche sich breitgemacht hatte.
Zumindest so lange, bis er ein Geräusch hörte. Zuerst versuchte er, es zu ignorieren, doch dann wurde es lauter. Es klang wie ein Kratzen auf Holz. Unruhig rutschte er auf der Fensterbank hin und her. Es klang, als wäre etwas in seinem Zimmer! Ruben bekam es mit der Angst zu tun. Der ganze Raum wirkte plötzlich bedrohlich. Was konnte das sein? Er legte das Buch zur Seite, stand auf und suchte mit den Augen unruhig das Zimmer ab. Täuschte er sich oder war es gerade kälter geworden? Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Dann war es still. Totenstill. Einen Moment lang stand er einfach regungslos vor dem Bett. Dann setzte er sich schließlich auf die Kannte und wartete. Er war sich nicht sicher, ob es wirklich vorbei war. Als er schließlich erneut das Kratzen vernahm, durchliefen ihm kalte Schauer. Es klang, als wäre es direkt unter seinem Bett. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Matratze sich neben ihm eindrückte, so als Würde sich jemand zu ihm setzen.
Blitzschnell war er aufgestanden. So schnell, wie er an diesem Abend aus seinem Zimmer floh, war er noch nie gerannt. Seine Beine trugen ihn direkt zum Schlafzimmer des Hausherren. Sie war nur angelehnt, also hatte Greg keinen Besuch.
Ruben klopfte harsch an die Tür aus dunklem Holz. Nur Sekunden später war er auch schon im Zimmer. Ein „Herein“ hatte er nicht abwarten können. Viel zu aufgewühlt war er dazu.
Er blieb vor dem großen Bett in Queenszize stehen und sah Gregory ängstlich an. Dieser starrte zurück. Ein Buch in der einen, ein Glas Rotwein in der anderen Hand. Er trug kein Schlafoberteil. Ruben konnte nicht verhindern, dass er beinahe lüstern den Mann vor ihm betrachtete. Dann fiel ihm wieder ein, weshalb er hier war.
„Ich...“, stotterte er. „Da war etwas unter meinem...öhm...in meinem Zimmer. Da war etwas in meinem Zimmer.“
Ein Monster unter dem Bett erschien ihm dann doch zu kindlich. Sein Patenonkel würde ihn sicher auslachen und ihn für ein Kind halten und dann hätte er nie eine Chance bei ihm. Oh, Gott, was dachte er da nur schon wieder?
Zu seiner Überraschung wurde er nicht sofort wieder weggeschickt.
Stattdessen fragte ihn Gregory ruhig: „Soll ich Bates sagen, er solle eines der Gästezimmer bereitmachen?“
Wenn er das gewollt hätte, hätte Ruben ihn selbst fragen können. Und der Junge wusste, dass Greg dies durchaus bewusst war. Was bedeutete, er wollte den folgenden Satz gern von ihm hören.
Ruben biss sich auf die Unterlippe.
Dann fragte er, mit laut klopfenden Herzen: „Kann ich die Nacht nicht einfach bei dir schlafen?“
Greg lächelte, stellte sein Glas auf einen Beistelltisch neben dem Bett und legte das Buch ebenfalls beiseite. Dann hob er die Bettdecke an und wies ihm, zu ihm zu kommen.
Ruben zögerte einen winzigen Moment, bevor er zu ihm eilte und sich neben ihn ins Bett legte.
Als sein Kopf das Kissen berührte und Greg ihn liebevoll zudeckte, wurde ihm erst bewusst, wie nahe, sie sich gerade waren. Zu nahe für jemanden wie Ruben, der gerade dabei war seine Gefühle zu bekämpfen und gleichzeitig den Wunsch hegte, sie würden eines Tages erwidert werden. Er schluckte trocken. Neben ihm legte sich Greg nun hin. Dann griff er über ihn und schaltete das Licht aus. Nur noch der Vollmond warf nun seinen Schein in das Zimmer. Minuten vergingen, in denen nichts geschah. Erst dann bewegte sich wieder etwas. Es war Greg, der sich auf die Seite, mit dem Gesicht in Rubens Richtung legte. Er war ihm, trotz der Größe des Bettes, so nahe, dass er seinen Atmen auf der Schulter spüren konnte. Rubens Herz schlug schneller, sein Atem beschleunigte sich. Er begann zu zittern. Die Aufregung, die sich in ihm breitmachte, konnte er nicht verhindern. Warum musste er auch darum bitte, bei ihm bleiben zu dürfen? Warum hatte er nicht einfach den Butler um einen Schlafplatz im Gästezimmer bitten können. Heiße Schauer liefen ihm über die Haut. Oh, Gott, dachte er. Bitte lass mich keine Erektion bekommen!
„Alles in Ordnung?“, kam es leise von der Seite.
Ruben nickte. Dann fiel ihm ein, dass Greg das nicht gut sehen konnte und sagte: „Ja, alles bestens.“
Greg rückte näher, zog die Decke ein Stück höher. Ruben dachte, er müsste sterben. Entweder das oder er würde vor Scham im Boden versinken, denn er bemerkte, wie sein Glied sich zu regen begann. Er sah Greg an, sah, dass dieser ihn auch ansah. Dann geschah das, was Ruben sich so sehr erhofft hatte. Eine Hand legte sich an seine Wange und weiche Lippen legten sich auf die seinen. Ruben schloss die Augen und genoss. Der Kuss war sanft, nichts weiter, als eine seichte Berührung und mindestens so schnell vorbei, wie er begonnen hatte. Ruben spürte ihm nach. Zitternd, erschauernd.
Er ließ die Augen geschlossen, als er Greg sagen hörte: „Träum süß.“
Danach raschelte die Bettdecke und die Matratze bewegte sich. Greg hatte sich umgedreht.
Ruben öffnete die Augen und starrte an die Zimmerdecke. Wann genau seine Atmung sich wieder normalisiert hatte und sein Glied sich ebenfalls, konnte er nicht sagen.