Es war ein heißer Sonntag, als Ruben verschlafen das Esszimmer betrat und sich an den Esstisch an seinen Platz setzen wollte. Doch dort saß schon jemand. Etwa zwei Schritte vor dem Stuhl aus dunkelbraunem Holz, mit dem blauen Samtbezug auf der Sitzfläche und den hübschen Verzierungen an den Armlehnen und der Rückenlehne, blieb er verwundert stehen. Auf seinem Platz saß ein Mann, der beinahe so aussah wie Greg. Nur war es nicht Greg. Sein Haar war weniger lang, sein Gesicht voller und seine Augen hatten nicht das gewisse Funkeln, welches Ruben in Gregorys Augen fast jeden Tag erblicken konnte. Nein, das hier war nicht Greg.
„Wer sind sie?“, fragte der junge Mann verdattert und schaute den Mann, welcher gerade seine Zeitung beiseitelegte, mit großen Augen an.
Sein Gegenüber musterte ihn. Eine Augenbraue zuckte in die Höhe. Dann streckte er eine Hand aus.
„Jonathan Kaene“, stellte er sich vor. „Und du bist?“
„Er ist mein Junge“, hörte Ruben Gregs Stimme von der Eingangshalle her.
Er drehte sich in Richtung Flügeltür und dort stand Greg. Sein Haar trug er mit einem Band zusammengebunden, die Hände in die Hüften gestemmt. Mit wenigen Schritten kam er näher.
„Dein Junge?“, fragte Jonathan und sah ihn verdattert an.
Greg kam näher, setzte sich an seinen üblichen Platz und nahm sich Rührei.
„Ich bin noch nicht dazu gekommen es dir zu erzählen“, meinte er gelassen an den anderen gewandt. „Aber dies ist ja wohl nicht sehr verwunderlich. Immerhin warst du sehr spontan mit deinem Besuch.“ Der leicht erboste Unterton war für Ruben mehr als deutlich. Jonathan jedoch überging ihn entweder einfach oder er hatte ihn nicht bemerkt.
„Ich sagte dir bereits bei unseren Telefonaten, dass mich nichts mehr drüben gehalten hat“, erwiderte er. „Zudem es wohl erlaubt sein dürfte nach Hause zurückzukehren.“
Die beiden Männer schienen vergessen zu haben, dass Ruben noch immer neben seinem Stammplatz stand, unsicher, was er tun oder wie er reagieren sollte.
Greg faltete eine Stoffserviette auseinander und legte sie sich demonstrativ auf seinen Schoß.
„Nun“, sagte er. „Dies ist jetzt mein Haus und ich denke es wäre angebracht gewesen, dich mindestens eine Woche im Voraus anzukündigen. Dann hätte ich dich auch bereits über Ruben aufgeklärt. Carls Junge. Er lebt jetzt hier.“
Jonathan verzog das Gesicht in absoluter Verwirrung.
„Carl Jones Sohn? Warum? Was hat er hier zu suchen?“
Der erboste Unterton beim Namen von Rubens Vater war dem Jungen nicht entgangen.
„Seine Eltern starben bei einem Autounfall. Ich bin sein Patenonkel und habe mich in der Pflicht gesehen ihn aufzunehmen“, erklärte Gregory Kaene ruhig. „Würdest du dich mehr dafür interessieren, was hier in deiner Abwesenheit geschieht, dann wüsstest du es, Bruder.“
Ruben fühlte sich langsam wie bei einem Theaterstück. Eine Szene zwischen verfeindeten Staatsoberhäupter oder so ähnlich. Bissige Kommentare, untergeschobene Vorwürfe. Was war vorgefallen, dass Greg so ungut auf seinen Bruder zu sprechen war.
Ruben räusperte sich und schob sich einen Stuhl zurecht, auf den er sich dann setzte. Bates hatte für drei Personen gedeckt. Rubens Problem war, er saß in der Mitte der langen Tafel und fühlte sich dennoch wie unsichtbar.
Gregory sah ihn jetzt jedoch an.
„Entschuldige bitte, Ruben“, sprach er, mit deutlich ruhigerer Stimme. „Ich habe dir von John bereits erzählt. Er ist frisch aus den Staaten zurück und möchte nun hier in der Nähe ein Grundstück erwerben. Solange wird er bei uns wohnen.“
Jonathan gab ein belustigtes Grunzen von sich.
„Ein Grundstück erwerben? Gott, du bist so versnobt. Wie sprichst du denn mit dem Jungen? Als wärst du achtzig! Du musst dringen auch mal woanders leben. Irgendwo wo, wo du lernst, wie man heutzutage spricht.“
Genervt sah Greg zu seinem Bruder.
„Mir gefällt meine Art zu sprechen. Stört sie dich, Ruben?“, wandte er sich mit dem letzten Satz an seinen Schützling.
Ruben hatte das Gefühl, er konnte in diesem Falle keine richtige Antwort geben. Einerseits wollte er es bei Jonathan nicht gleich vergeigen, da er ja nicht wusste, wie lange er mit ihm unter einem Dach leben musste, andererseits wollte er gerade zurzeit bei Greg auf gar keinen Fall auch nur einen Fehler machen, jetzt wo sie sich nähergekommen waren und ihre Bindung noch so zart war. Also entschied er sich für einen Mittelweg.
„Mir ist es egal, wie Greg mit mir spricht“, sagte er, nahm sich seinen Becher Kakao und trank einen großen Schluck.
„Nun, wenn das so ist“, meinte John und widmete sich seinem bereits voll beladenen Teller.
Das Gespräch war damit beendet und es kehrte gefräßige Stille ein. Nur unterbrochen von dem Geräusch welches das Besteck auf dem Teller verursachte.
Es vergingen mehrere Wochen, die Temperaturen sanken langsam wieder auf ein angenehmes Maß und Jonathan Kaene wurde zu einem selbstverständlichen Bestandteil Rubens Lebens. Morgens saß er oft allein mit ihm beim Frühstück, bevor dieser zur Arbeit in die nächste Stadt aufbrach. Was genau er eigentlich beruflich tat, war Ruben nicht klar, er hatte nur erfahren, dass Jonathan in einer Kanzlei tätig war. Es hatte ihn aber auch nicht sonderlich interessiert.
Beim Mittagessen saßen sie ebenfalls meist zu zweit. Greg war meist in seinem Arbeitszimmer und schrieb an einem neuen Roman. Ruben vermisste ihn, unterhielt sich aber prächtig mit dem älteren der Kaene-Brüder, weshalb er sich mit dem Fehlen seines Patenonkels abgab. An einem Mittwoch schließlich, dem wohl wirklich letzten heißen Tag des Jahres hatte Jonathan sich extra freigenommen. Er wollte etwas mit dem Jungen unternehmen und so saßen sie schließlich und zur großen Überraschung von Ruben, auf dem Rücken zweier Pferde. Es waren Hannoveraner, wie der junge Mann erfuhr. Schöne Tiere, wie er fand. Reiten konnte Ruben nicht wirklich gut. Nur als Kind hatte er ein paar Stunden Unterricht gehabt. Doch der Ausritt im Schritt war etwas, was er durchaus bewerkstelligen konnte.
Die frische Luft genießend ritt er neben dem deutlich älteren Mann und warf ihm ab und zu ein Lächeln zu.
„Hast du schon eine Idee, was du jetzt, nachdem die Schule vorbei ist, machen willst?“, fragte ihn Jonathan schließlich.
„Nein“, antwortete Ruben. „Aber ich möchte gerne etwas in der freien Natur machen.“
„Du bist doch so fleißig im Gewächshaus zu Gange“, warf Jonathan ein. „Wie wäre es mit Gärtner? Eine kurze Ausbildung an der frischen Luft. Und hier in der Gegend gibt es sogar einen Ausbildungsbetrieb.“
Ruben überlegte. Vielleicht war das tatsächlich eine gute Idee.
„Meinst du, ich könnte mal ein Praktikum dort machen?“, fragte er dann den Älteren.
Jonathan nickte.
„Bestimmt. Ich werde, wenn wir zu Hause sind mal für dich anrufen und nachfragen, wenn du möchtest.“
Ruben war begeistert. Endlich konnte er Greg sagen, dass er sowas wie einen Plan hatte. Und er würde ihm nicht ewig auf der Tasche liegen.
„Sehr gerne!“, antwortete er daher mit einem Strahlen im Gesicht. „Danke, dass du das für mich machst.“
Jonathan lächelte ihn von der Seite aus an.
„Keine Ursache“, meinte er. „Hast du Lust auf ein Wettreiten?“
Gregory reagierte auf die Nachricht, dass sein Junge Wohl bald ein Praktikum im Ort anfangen würde leider nicht so, wie Ruben es sich vorgestellt hatte. Er grummelte vorsichhin, meinte, er hätte Ruben lieber bei sich im Haus und müsse sich den Betrieb erst einmal in Ruhe ansehen. Seinem Bruder hatte er einen mehr als bösen Blick zugeworfen, als dieser ihm beim Abendessen von der guten Neuigkeit berichtete.
„Dann solltest du vielleicht mehr Zeit mit Ruben verbringen, anstatt nur zu arbeiten!“, kam der Vorwurf aus Jonathans Mund, noch ehe Ruben enttäuscht reagieren konnte.
Das Abendessen schmeckte ihm plötzlich nicht mehr und überhaupt hatte er gar keinen Hunger mehr.
Er entschuldigte sich und begab sich eilig in sein Zimmer. Warum konnte sich Greg nicht für ihn freuen? Das waren doch gute Nachrichten. Andererseits wollte er ihn scheinbar einfach nur gerne bei sich wissen, was gut war. Aber Jonathan hatte recht. Gregory nahm sich in letzter Zeit viel zu wenig Zeit für Ruben. Dem Jungen fehlten gemeinsame Fernsehabende, bei denen sie kuschelten und ab und an auch Küsse austauschten. Sei dem der ältere Kaene eingezogen war, gab es überhaupt keine Zärtlichkeiten mehr. Nur ab und an ein Klaps auf den Hintern oder ein Kuss auf den Kopf. Es fühlte sich nicht gerade an, als ständen sie am Beginn einer echten romantischen Beziehung. Greg schien ihm absichtlich aus dem Weg zu gehen und Ruben verstand nicht weshalb. Hatte er etwas falsch gemacht? War es der regelmäßige Besuch der Kirche und die Gespräche mit Vater Clemence? Oder verbrachte er zu viel Zeit mit Jonathan? Ruben fühlte sich nicht wohl, wenn Greg so abweisend zu ihm war und ja, so fühlte es sich für ihn an. Als würde Gregory ihn abweisen. So konnte er jedenfalls nicht weitermachen. Ja, er wollte nichts riskieren und Greg nicht vor den Kopf stoßen, aber er konnte auch nicht mit dem Gefühl, nicht mehr interessant für ihn zu sein leben. Also trat er hinaus in den Flur, als er die Tür eines der Zimmer auf dem Gang hörte. Greg wollte vermutlich zu Bett gehen und die Situation wollte er nutzen, um mit ihm in aller Ruhe zu reden.
Als Ruben jedoch auf den Flur trat, war keine Menschenseele zu sehen und kein Licht brannte. Zudem war kein Lichtschein unter einer der Türen zu erkennen. Nein, Greg war offenbar noch unten. Genau wie sein Bruder.
Ruben schloss die Tür hinter sich und blickte den langen Korridor entlang. Die Türen zu den einzelnen Zimmern schienen geschlossen, bis auf eine. Neugierig tapste er den Gang entlang. Genau vor dem Zimmer mit der offenstehenden Tür blieb er stehen. Es war eines der ungenutzten Räume. Die Möbel waren mit weißen Laken abgedeckt, die Fensterläden geschlossen. Da es draußen bereits dunkel war, drang kein Licht von draußen hinein, auch nicht durch die Lamellen der Fensterläden. Nur der Schein der Flurbeleuchtung erhellte den vorderen Teil des Raumes.
Ruben tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn und knipste das Licht an. Im hellen Schein der Glühbirne konnte er ein großes Doppelbett mit zwei Nachttischen, eine Kommode, einen Spiegel und einen massiven Kleiderschrank ausmachen.
Ruben betrat den Raum. Irgendetwas störte ihn hier. Er wusste nur nicht, was es war. Mit klopfenden Herzen trat er zur Kommode, welche, wie auch alle anderen Möbelstücke, abgedeckt war, zog das weiße Laken runter und öffnete die oberste Schublade. Sie war leer. Was hatte er auch erwartet? Dieses Zimmer wurde scheinbar seid ewigen Zeiten nicht mehr genutzt. Trotzdem war es dem jungen Mann, als wäre etwas in diesem Raum. Würde ihn von irgendeiner dunklen Ecke aus beobachten. Er blickte in den Spiegel und erschrak.
Hinter ihm im Bett, die Laken zerwühlt, saß eine alte Frau mit weißem langen Haar. An ihrer Seite, auf der Bettkante saß ein junger Mann mit langem dunkeln Haar, welches er zu einem Zopf gebunden hatte. Er hielt die Hand der Frau.
Panisch drehte ich mich um, doch dort war nichts. Das Bett war noch immer mit Tüchern verhängt und es befand sich außer ihm selbst niemand im Raum.
Rasch lief Ruben aus dem Zimmer. Das Licht ließ er brennen. Viel zu aufgewühlt von dem, was er eben gesehen hatte. Etwas was er vor sehr langer Zeit in einem Buch aus der Bibliothek von Kaene Manor gelesen hatte, kam ihm in den Sinn.
-Manchmal, wenn ein Mensch stirbt, sucht die Seele zu lange nach dem Übergang ins Jenseits. Wenn dann ein Spiegel in der Nähe ist, kann es passieren, dass die Seele, das, was sie im Spiegel sieht, für das Jenseits hält und hineingeht. In diesen Fällen ist die Seele für immer in ihm gefangen und ein Teil von ihr erlebt den Augenblick des Todes immer und immer wieder.-
Ein Schauer lief Ruben über den Rücken, als er daran dachte. Was, wenn es wahr war? Wenn es tatsächlich gefangene Seelen in diesem Haus gab und er gerade eine alte Erinnerung gesehen hatte? Zudem war ihm der junge Mann an der Seite der alten Frau so bekannt vorgekommen.
So in seinen Gedanken vertieft, bemerkte er Gregory gar nicht, der den Flur entlanglief, auf dem Weg in sein Schlafzimmer. Erst, als sie fast zusammenstießen und dieser ihn daher ansprach, bemerkte der Junge ihn.
„Entschuldige“, meinte er. „Ich hab dich nicht gesehen.“
„Das hab ich gemerkt“, antwortete sein Patenonkel. „Was hast du in Großmutters Zimmer gemacht?“
Ruben sah zu ihm auf.
„Das war das Zimmer deiner Großmutter?“, fragte er erstaunt.
Konnte es etwa sein, dass sie es war, die er gesehen hatte? Aber wer war der junge Mann an ihrer Seite? Konnte es Greg gewesen sein?
Greg nickte.
„Ja, sie hat dort sehr viel Zeit verbracht, bevor sie starb, war lange Zeit bettlägerig. Dann hat sie sich wieder erholt, aber schließlich...“
Er sprach nicht weiter. Zu sehr schien ihn die Erinnerung an die Vergangenheit zu schmerzen und Ruben bohrte nicht weiter nach. Für ihn war ohnehin alles klar. Er hatte eine Erinnerung gesehen. Damit konnte er leben. Womit er allerdings nicht leben konnte, war Gregs abweisende Art in der letzten Zeit.
„Greg“, begann er daher. „Können wir reden. Über...na ja, uns?“
Greg schaute sich verstohlen um.
„Ja, aber nicht hier“, sagte er dann, griff nach Rubens Hand und zog ihn mit sich.