In der Bar
Warme, abgestandene Luft hängt zwischen den alten Bodendielen und der tiefen Holzdecke fest. Das letzte Mal wurde sie von einem frischen Windzug durchbrochen, der einen eintretenden Gast begleitet hatte. Genau dieser Gast hängt mittlerweile auf seinem Stuhl, den Bierkrug auf dem Oberschenkel abgestützt und mit halb geschlossenen Augen droht er, das letzte bisschen Körperspannung zu verlieren und einfach auf den Boden zu fallen. Weiter hinten im Raum sitzt der zweite Mann, grübelnd nach vorn gelehnt, da. Er stützt die Ellenbogen auf die Tischplatte und starrt seine gefalteten Hände an. Sein schwerer, brauner Mantel hängt über der Stuhllehne und als der Mann, ohne den Blick zu bewegen, in die Manteltasche greift, holt er eine kleine hölzerne Schachtel heraus. Mit den Daumen streicht er über das zierlich geschnitzte Holz und lässt den Verschluss mit einem leisen Klick aufspringen. Vier Zigarren liegen noch darin und nach einigen Sekunden wählt der Mann eine aus. Vorsichtig verschließt er sein Kästchen wieder und zieht ein Taschenmesser aus der Hosentasche um den Kopf der Zigarre abzuschneiden. Er schiebt sein Kästchen etwas zur Seite und lässt die Flamme seines Feuerzeugs in leichten Kreisen unter dem Fuß der Zigarre wandern. Mit einem langen Atemzug, saugt er den edlen Geschmack in sich auf und behält ihn einige Sekunden in Lunge, Hals und Mund bis er die dicke Luft in der Bar um eine zarte Rauchnote erweitert.
Die Barfrau schaut kurz auf, wirft dem Rauchenden einen strafenden Blick zu - sagt aber nichts. Sie schiebt ihren breiten Körper hinter der Bar entlang um einige Gläser einzuräumen, die sie gerade geputzt hat. Ihre Schritte werden dabei vom gequälten Stöhnen der Bodendielen begleitet. Ihr zu tiefer Ausschnitt lässt einen Blick auf ihren vom Alter erschlafften Körper zu. Kaum jemand bestellt direkt an der Bar und bleibt dort sitzen, in der Regel bevorzugen es die wenigen Gäste, sich in die Schatten der dürftigen Beleuchtung zurückzuziehen.
Vergilbte Tierschädel, die knapp unter der dunklen Decke hängen, beobachten die Szenerie aus ihren schwarzen Augenhöhlen, als sich plötzlich ein schmaler Lichtschein durch den Raum wagt. Ein junges Mädchen steht in dem Schein und tritt zögerlich herein. Für einen Moment sieht man noch dicke Staubflocken umher tanzen, dann fällt die Tür wieder ins Schloss und verschluckt das Licht. Das Kind sieht sich mit großen Augen um. In ihrem Aufzug wirkt sie völlig falsch an diesem Ort. Ihre fliederfarbene Shorts und das geblümtes T-Shirt heben sich allzu deutlich von den dunkelbraunen Wänden ab. Zusätzlich trägt sie einen viel zu großen Rucksack, den sie sich bis in den Nacken geschnallt hat. In diesem Moment rutscht der Betrunkene von seinem Stuhl und bleibt regungslos auf dem Boden liegen. Nur die Bewegung seines Brustkorbs verrät, dass er noch am Leben ist.
„Kinder haben hier nichts zu suchen. Geh nach Hause, Kleine“, meckert die Barfrau und will sich gerade hinter der Theke hervor zwängen um das Mädchen wieder hinauszuschicken. Das Kind schüttelt bloß den Kopf und schaut zu dem Mann, der seine Zigarre schon fast aufgeraucht hat. Sie umklammert die Riemen ihres Rucksackes, so als würde der Halt ihr Mut geben. Die kurze Distanz überwindet sie mit vielen kleinen, aber schnellen Schritten. Unter ihrem Gewicht knarzen noch nicht einmal die Dielen. Als das Mädchen vor dem Mann steht, trennt nur noch der Runde Tisch die beiden voneinander. Mit leicht zitternden Fingern umklammert sie mit beiden Händen die Tischplatte und schaut dem Mann fest in die Augen.
„Bist du Roger?“, will sie wissen und beugt sich bei der Frage leicht vor. Der Mann pustet ihr den Zigarrenrauch entgegen und zieht die buschigen Augenbrauen hoch. „Wer will das wissen?“, fragt er, anstatt ihr eine Antwort zu geben.
„Leyla. Ich bin Leyla und ich will das wissen.“
„Schön Leyla, und was willst du von mir?"
„Hey, das Kind hat hier nichts zu suchen!“, bellt die Barfrau wieder, aber Roger würdigt sie nur mit einem kurzen Blick aus dem Augenwinkel. Sie will das Mädchen zwar nicht in ihrer Bar haben, aber noch weniger will sie sich dafür anstrengen, es hinaus zu befördern.
„Also?“, wendet Roger sich wieder an die kleine Besucherin.
„Also bist du Roger. Ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche und deswegen musst du jetzt mitkommen“, Leyla verschränkt die Arme vor der Brust, so als hätte sie schon alles erreicht, was sie wollte.
„Wie alt bist du? Acht? Ich wüsste nicht, wobei ich dir helfen sollte. Vor allem wüsste ich auch nicht, wie du mich bezahlen willst.“
Sichtbar schwindet die Hoffnung in Leylas Gesicht. „Ich habe etwas Geld gespart und...“
„Das wird nicht reichen“, unterbricht Roger sie und drückt seine Zigarre auf der Tischplatte aus. Den schwarzen Abdrücken nach, macht er das nicht zum ersten Mal. „...und ich habe das hier.“ Sie holt eine kleine Schachtel aus ihrem Rucksack und legt sie zusammen mit einem zerknickten Brief auf den Tisch. Roger betrachtet beides zunächst skeptisch, ohne etwas anzufassen. „Die kann man auch aufmachen“, erklärt Leyla und öffnet ihre Schachtel. Das Innere ist mit einem samtigen, roten Stoff ausgekleidet und eine Melodie fängt an zu spielen - in einer vertrauten Abfolge springen die einzelnen Töne auf und ab. Jetzt erst versteht Roger, was da vor ihm steht. Er lässt die Melodie weiterspielen, während er sich den Brief durchließt, den das Kind auf den Tisch gelegt hatte. Ein unruhiges Zucken schleicht sich in sein linkes Augenlied und mit einer zügigen Handbewegung schließt er die Spieluhr. Augenblicklich stoppt die Melodie.
„Leyla, es freut mich, in deine Dienste treten zu dürfen“, sagt Roger mit einer unerwarteten Ernsthaftigkeit in seiner Stimme.
„Das heißt, du hilfst mir?“ Über das ganze Gesicht strahlend schaut Leyla zu dem Mann auf. „Das heißt es. Am besten verlieren wir keine Zeit.“ Roger ergreift seinen Mantel, legt ihn sich über die Schulter und lässt noch einige Münzen auf den Tisch fallen. Ohne ein Wort des Abschiedes steht er auf und verlässt die Bar. Leyla schnappt sich ihre Spieltruhe und den Brief und eilt ihm nach.