Wie immer herrschte in der Akademie eine friedliche Stille. Das einzige Geräusch war das der Chronisten, die emsig mit ihren Schreibfedern über die Pergamente kratzten.
Seit kurzer Zeit – nach menschlichen Maßstäben etwa seit fünf Jahre – hatte man einen kleineren Nebenturm erbaut, der auch die kleine Akademie genannt wurde. Dieser war etwa halb so groß wie sein großer Bruder.
Allerdings muss ich gestehen, dass „erbaut“ wohl nicht ganz die richtige Bezeichnung dafür ist. Plötzlich war er da – von einem Tag auf den anderen.
So war das mit der Feenmagie.
Während es in der großen Akademie hauptsächlich um altes Wissen und Fortschreibung des Weltgeschehens ging, diente der kleine Turm dazu, Wissen zwischen Menschen und Elfen zusammenzubringen sowie Sagengeschichten und Märchen festzuhalten. Dies hatte zweierlei Gründe.
Es hatte sich herausgestellt, dass viele Menschen oder auch andere Wesen Schwierigkeiten hatten, die Schriften der Elfen zu entziffern. So klein, so zierlich, so filigran und verschnörkelt waren ihre Aufschriebe, dass nur die Gelehrten und Weisen der anderen Völker sie entziffern konnte.
Was im Übrigen auch andersherum galt. Die Elfen konnten diese groben, groß zu Papier gebrachten Buchstaben der Menschen meist nicht lesen.
Als zweiten Grund ließ sich anmerken, dass in der Hauptakademie nur Platz für wirklich wichtiges Wissen war – all die schönen erfundenen Geschichten von Menschen und Elfen, diese Sagen- und Märchenerzählungen fehlten komplett.
Deshalb hatte man also diesen zweiten Turm gebaut. Ausgewählte Texte wurden von kundigen Chronisten verschiedener Völker in die jeweils andere Schreibweise übertragen. Auch weniger Gebildete sollten so Zugang zu den wichtigsten Erkenntnissen bekommen und der gegenseitige Austausch wurde so gefördert.
Weiter hatte man einfach Sorge, dass all die erfunden Geschichten eines Tages in Vergessenheit geraten könnten, würde man sie nicht im kleinen Turm aufbewahren. Erzählungen, die nicht tatsächlich passiert, dafür umso schöner zu lesen waren und das Herz erwärmten. Und wer wusste schon, ob diese Märchen wirklich alle erfunden, sondern die geschilderten Geschehnisse möglicherweise doch so vorgefallen waren?
So wird der werte Leser nachvollziehen können, warum man nun also diesen zweiten Turm errichtet hatte.
Die Fee Juno hatte die Leitung über beide Häuser übernommen, wurde dabei jedoch oft von Ben unterstützt. Ben, das war der „dunkle Lord“ – ein geheimnisvoller mächtiger Mann mit langen schwarzen Haaren. Im Widerspruch zu seinem Titel und dem etwas wilden Aussehen hatte er jedoch ein gutes Herz und tauchte auf wundersame Weise immer genau dort auf, wo er gerade gebraucht wurde.
Als weitere Gehilfen der beiden dienten mehrere treue Kobolde, die verlässlich die ihnen angetrauten Aufgaben befolgten und dafür sorgten, dass alles seinen geregelten Gang ging.
So war es auch nicht ungewöhnlich, dass zu Beginn unserer Geschichte einer dieser genannten Kobolde eifrig über die Gänge der kleinen Akademie schlurfte.
Die Jahreszeit kann der werte Autor leider nicht nennen, aber der Überlieferung nach war es ein schöner Sommertag. Wenn das auch für dieses Wesen noch sonst für die Bewohner keine Rolle spielte – durch die Magie der Elfen war es in beiden Türmen immer angenehm, nie zu warm oder kalt. Solange man sich eben in dem Gebäude aufhielt.
Ganz offensichtlich hatte dieser Kobold einen Auftrag. Die kleine grüne Gestalt schien sich auszukennen – zielsicher ging er die Treppen rauf und runter, bog nach links ab oder rechts. Seine dunkelrote Kappe wackelte dabei lustig hin und her, was durch die häufigen Kopfbewegungen des Wesens noch verstärkt wurde. Ein dünner, langer Arm erhob sich und die vier grünen langen Finger der linken Hand bildeten eine Faust, ehe sie an der Türe klopfte.