Felix, der menschliche Chronist, schaute seufzend auf. Der Besuch kam ungelegen. Hatte er sich doch gerade begonnen, einige der alten Schriften zu sortieren, bevor er sie übersetzen konnte. Schon lange hatte er sich vorgenommen, in diese endlich irgendwie zu ordnen – etwas, worauf der Vorbesitzer keinen Wert gelegt hatte.
Das kam eben davon, wenn man etwas erbte und keinen Zugang dazu hatte.
Und aufgrund der Vielzahl der Blätter war es ihm ratsam erschienen, diese erst einmal auf dem Boden auszubreiten, um sich so eine bessere Übersicht zu verschaffen.
Wirklich, einen unpassenderen Augenblick für einen Überraschungsbesuch konnte es nicht geben.
„Keine Sorge.“, beruhigte Arella ihn leise. „Ich achte schon darauf, dass nichts zu Schaden kommt.“
Arella, so erzählt man, mochte zu diesem Zeitpunkt etwa 20 Jahre alt gewesen sein. Ein junges, hübsches Mädchen, schlagfertig und gescheit. Sie war in der Blüte ihre Jahre und die körperliche Entwicklung war bereits abgeschlossen.
Ihre langen roten Haare hatte sie meist zu einem Zopf geflochten. Einige Sommersprossen zierten ihr längliches Gesicht.
Besonders ausdruckstark waren ihre grünen Augen, die durch die schwarzen Wimpern und Augenbrauen besonders betont wurden. Diese erinnerten sehr an ihren Vater – ein dunkelhäutiger brummiger Zeitgenosse, recht eigenwillig und aufbrausend zu allen, außer zu seiner Frau.
Von ihr, der Mutter, hatte Arella äußerlich am meisten geerbt – die helle Tönung der Haut, die rötlichen Haare sowie die Gesichtsform und die zierliche Gestalt. Betrachtete man jedoch ihre kleine Nase und den breiten Mund mit den schmalen Lippen, so hatte man diese Merkmale auch an ihrem Großvater väterlicherseits entdecken können.
Leider war dieser nach langer Krankheit gestorben und sie selbst konnte sich nicht mehr an ihn erinnern. Sie war damals erst drei Jahre alt gewesen.
Die Eltern der jungen Frau waren mit Felix gut befreundet und hatten ihn deshalb gebeten, ihre junge Tochter unter seine Fittiche zu nehmen und sie auszubilden.
Arella war schon immer wissbegierig und an allem interessiert gewesen - weiter war sie sehr gewissenhaft, zuverlässig und las für ihr Leben gern.
Ihre Schrift war gleichmäßig und sauber – auch tat sie sich leicht, fremde und undeutliche Handschriften zu entziffern. Im Dorf hatte sich das schnell herumgesprochen und so kamen alsbald viele der Nachbarn, wenn sie mal wieder Briefe von entfernten Freuden oder Verwandten mit einer „Sauklaue“ erhalten hatten und deshalb Arella um Hilfe baten.
Felix kannte das Mädchen schon seit Kindesbeinen und war daher nur zu gerne bereit gewesen, sie aufzunehmen. Er hatte geahnt, in ihr eine gelehrige Schülerin gefunden zu haben. Arella war klug und zögerte auch nicht mitzukommen, als Felix an die kleine Akademie berufen wurde.
Da er also wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte, nickte er ihr nur kurz zu, ehe er mit seiner Arbeit fortfuhr.
Arella rief laut „Einen Moment, nicht öffnen, ich komme“ und suchte sich vorsichtig einen Weg zur Türe, darauf bedacht, auf keines der herumliegenden Dokumente zu treten. Dort angekommen, öffnete sie langsam die schwere Eichentüre.
Kobolde wurden nicht größer als ein Meter, die meisten bleiben sogar um einiges darunter. So musste sich die Frau auch ziemlich nach unten beugen, um sich mit dem kleinen Gesellen zu unterhalten.
„Hallo Herr Polop. Was gibt es denn?“, fragte Arella den Kobold freundlich.
„Die Herrin Fee schickt mich.“, kam die krächzende Antwort. „Sie hat Besuch, einen jungen Zauberlehrling, der zu dem ehrwürdigen menschlichen Schreiber möchte.“
Sie verkniff sich ein Grinsen. Der kleine Kerl hatte einfach ein Problem daran, dass sich ihr Meister nur „Felix“ nannte. Dieses war in den Augen des Kobolds ein Unding – so wurde aus „Felix“ eben gnädiger Herr oder ehrwürdiger Schreiber.
Jemanden mit seinem Vornamen anzusprechen, brachte angeblich Unglück, davon waren diese Wesen ganz fest überzeugt - außer bei Kinder oder Ehepartnern.
Da sie jedoch den Kobold nicht vor dem Kopf stoßen wollte und seine Hilfe auch sonst schätzte, antwortete sie ihm freundlich: „Es tut mir leid, aber er ist gerade beschäftigt, wie du siehst.“
Das Wesen blickte an ihr rechts vorbei auf dieses Durcheinander auf den Boden und antwortete unglücklich: „Ich sehe es. Das sieht nach viel Arbeit aus.“
„Bitte nicht reinkommen.“, rief der Chronist. „Wenn hier etwas durcheinanderkommt, blicke ich gar nicht mehr durch und muss von vorne anfangen.“
„Was machen wir dann? Er wartet doch im Audienzzimmer.“, jammerte der Kobold kläglich.
„Hier, in der kleinen Akademie?“, erkundigte sich die Frau.
„Ja“, seufzte er.
„Keine Sorge. Ich komme mit dir und kläre das.“
„Hoffentlich geht das gut!“, bezweifelte der kleine Kerl mit jammernder Stimme.
„Sicher wird es das.“
Sie wechselte noch einmal einen kurzen Blick mit ihrem Meister, ehe sie hinausging und vorsichtig die Türe hinter sich schloss.