Arella saß an ihrem Lieblingsplatz.
Hier, unten am Strand, war sie ganz für sich allein und betrachtete gedankenverloren die Wellen, die gegen die Felsen schlugen. Sie selbst hatte es sich auf einer Decke gemütlich gemacht und lehnte ihren Rücken an einen alten verknöcherten Baum, der durch Wind und Wetter seltsam verdreht in die Luft ragte. Nichts an ihm war gerade – aber gerade deshalb hielt sie sich so gerne in seinem Schatten auf.
Sie liebte diesen Platz, die raue Natur. Hier war sie für sich und konnte nachdenken. Ihr geheimer Rückzugsort – weit fern von all den Büchern und der Arbeit. Denn so sehr sie auch all das mochte, so sehr brauchte sie auch das – den Wind, diese Ruhe, die Kraft des Meeres.
Es war nicht einfach gewesen, einen Weg hinunter zum Strand zu finden. Aber sobald sie sich etwas vorgenommen hatte, so zog sie es denn auch durch. Einige Tage hatte es gebraucht, um einen ungefährlichen Abgang zu finden – vorbei an Geröll, dornigem Gestrüpp und ohne die Gefahr, abzustürzen.
Und natürlich hatte sie ebenfalls dafür sorgen müssen, dass der Weg auch in die andere Richtung, also nach oben, funktionierte. Hier unten ganz für sich hätte sie wohl niemand mehr gefunden.
So saß sie nun hier, in ihrem Refugium, und dachte nach. Darüber, was in den letzten Wochen geschehen war.
Alles hatte sich verändert, seit Cedrik vor zwei Wochen bei ihnen eingetroffen war. Gleich einem Wirbelsturm war er über sie hereingebrochen und hatte ein großes Chaos hinterlassen.
Nein, äußerlich war genau das Gegenteil der Fall. Dank seinen magischen Tricks waren die Räume, die Felix für seine Arbeiten benutzte, ordentlicher denn je zuvor. Nach nur zwei Tagen hatten die drei die Großaktion ihres Mentors beenden und sich danach anderen Projekten zuwenden können.
Ja, der junge Magier hatte seit seinem Schwebezauber bei Felix einen Stein im Brett. Nun war keine Aktion mehr ohne Cedrik auszudenken. Es war offensichtlich, dass der Meister dessen Anwesenheit nutzen wollte, um mit Hilfe von vorübergehend schwebenden Etagen, magischen Verzeichnissen und leuchtenden Lesezeichen seine ganze Bibliothek neu umzugestalten.
Arella musste notgedrungen zugeben, dass Felix recht hatte, diese Gelegenheit zu ergreifen. Der junge Mann war eine große Hilfe und durch diese kleinen Tricks wurde ihre Arbeit sehr vereinfacht.
Leider!
Denn das große Chaos war das in ihrem Herzen. Sie wurde aus ihrem Besucher nicht schlau, und die Gefühle für ihn schwankten wie ein Ast im Wind.
Cedrik konnte durchaus nett und charmant sein. Er genoss die Gastfreundschaft der Elfen, stellte aber keine weiteren Ansprüche als ein Dach über seinen Kopf und ein wenig zu essen. Wann immer es ging, war er eine hilfreiche Hand, ohne dass man ihn extra dazu auffordern musste. Die Frau genoss in solchen Momenten einfach nur seine Anwesenheit und weigerte sich standhaft darüber nachzudenken, warum dies so war.
Leider gab es aber auch eine andere Seite in ihm, insbesondere, wenn man auf die Zauberei an sich zu sprechen kann. Er wurde nicht müde zu wiederholen, dass all diese kleinen Sprüche ganz einfach auszuführen seien und sich eigentlich nicht Magie schimpfen dürften.
Es fehlte nur noch, dass er behauptete, dies könne ja jedes Kind. Arella kam sich in solchen Momenten wenig wertgeschätzt vor. So, als ob er indirekt meinte, sie seien alle dumm und könnten sich glücklich schätzen, dass er nun da war.
Felix schien das nicht zu bemerken oder anders wahrzunehmen. Und vielleicht war sie es ja, die sich hier etwas einbildete oder überinterpretiere. Nur änderte das nichts daran, dass es sie furchtbar ärgerte.
Weiter irritierten sie einige körperliche Merkmale an ihm, die einfach anders waren als gewöhnlich.
Seine Haare waren schwarz, schienen aber einen dunklen blauen Stich zu besitzen. Ein ganz ähnliches Schimmern meinte sie, gelegentlich auch in seinen Pupillen auszumachen.
Auch wenn sie keine Angst vor ihm hatte, so erinnerte sie dies alles an die Geschichten der Winterdämonen, die sich das ganze Jahr sammelten, um dann im November zu versuchen, Belletristica einzunehmen. Bisher glücklicherweise ohne Erfolg – aber auch sie hatten ein seltsames bläuliches Leuchten in den Augen und am Körper. Ein wenig dunkler und intensiver als bei Cedrik und nicht alle Wesen der Invasion waren davon betroffen. Es blieb aber die Tatsache, dass hier eine Gemeinsamkeit mit dem jungen Magier bestand.
Und über all das wollte sie hier in Ruhe nachdenken. Ihr Lehrer hatte ihr für heute frei gegeben – laut seiner Schilderung wollte er mit Cedrik irgendetwas ausprobieren.
Sie wusste nicht, was sie von all dem halten sollte. Einerseits wollte sie nicht ausgeschlossen werden – auf der anderen Seite war ein Urlaubstag eine schöne Sache und immer noch besser, als das fünfte Rad am Wagen zu sein.
Sie konnte später nicht mehr sagen, wie lange sie in die Ferne gestarrt und den Wellen gelauscht hatte.
Ihre Gedankengänge wurden durch etwas unterbrochen, was ihre Wange streifte. Etwas Weiches und Warmes berührte sanft ihre Haut, ehe es wieder verschwand.
Sie kam nicht mehr dazu, sich suchend umzusehen, denn schon hörte sie eine wohlbekannte Stimme: „Herbert! Komm sofort her! Hörst du!“
Was, um alles in der Welt, tat Cedrik hier? Und wer war dieser Herbert?
Sie sprang von ihrer Decke auf und blickte in die Richtung, von der seine Stimme kam. Als sie ihn schließlich entdeckte war er gerade dabei, die letzten Meter des Abhangs hinunterzuklettern, während ihm eine hellblaue Kugel umkreiste.
War das wieder eine Art Zauber?
Nun löste sich dieses seltsame Licht von ihm und schwebte langsam in ihre Richtung.