Die Kristallstadt
Nach unruhigem Schlaf erwachte Alturin als Erster. Er sah sich um. Undra sass auf dem Buchenzweig, hatte ein Auge geschlossen und raschelte mit ihren Flügen, als sie sah, dass Alturin sich aufrichtete. Der Junge schlief noch. Alturin stand auf, schürte das Feuer neu an und machte alles für einen Tee bereit. Undra hob von ihrem Ast ab und wollte sich ein Frühstück besorgen. Das kleine Mäuschen gestern war ein wenig dürftig gewesen. Als Alturin ein paar kleine Äste für das Feuer brach, wurde der kleine Mikkel durch das Knacken wach. "Guten Morgen junger Freund, begrüsste er ihn lächelnd. Gerade rechtzeitig. Komm' steh' auf, es gibt guten Tee und getrockneten Schinken zum Frühstück. Speise gut, wir haben einen langen Ritt vor uns." Mikkel erhob sich. "Guten Morgen Alturin." Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und ging zum Bachlauf, um sich zu waschen. Alturin staunte über den Jungen. Er wirkte auf ihn eher wie dreizehn als wie drei Jahre alt. Und seine Grösse. Mikkel war bestimmt schon weit der Grösse eines dreijährigen voraus.
Als Mikkel zurück kam, reichte ihm Alturin einen Becher mit Tee und etwas von dem getrockneten Schinken. Der Junge hatte grossen Hunger und langte ordentlich zu. Als sie mit dem Essen fertig waren und zusammen gepackt hatten, überraschte er Alturin. Er sagte: "Ich glaube nicht, dass meine Eltern tot sind, Alturin." Alturin zögerte einen Moment und sah ihn an. "Ich wünschte es wäre so, mein lieber Junge," entgegnete er. Gedankenversunken stiegen sie auf's Pferd. Den Jungen setzte Alturin vor sich. Undra schwebte heran und setzte sich kurz auf den Ast der Buche. Sie bewegte ihren Kopf rauf und runter. Die Luft war rein. Es konnte losgehen. Undra flog voraus und Alturin setzte das Pferd in Bewegung.
Die Ebene von Tulur erreichten sie eine Stunde später. Der sandige Boden würde seinem Pferd alles abverlangen. Es war heiss und windig hier. Ein unangenehmer Ritt. Doch bewältigten sie die Strecke ohne Zwischenfälle und Probleme und mit der Dämmerung erreichten sie die Ausläufer eines kleinen Waldstückes. Ein kleiner Bachlauf bot sich wieder an und sie schlugen ihr Lager in der Nähe auf. Es war sicher hier, Undra hatte alles erkundet. Am nächsten Morgen folgte nach dem Frühstück erneut ein scharfer Ritt, denn Alturin wollte spätestens am Nachmittag in der Stadt sein. Er wollte dem Jungen unbedingt den Blick bei Tageslicht auf die Stadt ermöglichen. Ihre Schönheit und ihr Glanz würden ihn sehr beeindrucken, dessen war er sich sicher.
Der Ritt an der Küste entlang gefiel dem kleinen Mikkel sehr. Es war recht warm, aber der frische Wind vom Meer her machte die Sache sehr angenehm. Die langen blonden Haare des Jungen wehten Alturin immer wieder ins Gesicht. "Kannst Du Reiten," fragte er ihn. "Nein, warum,?" fragte er zurück. "Jetzt musst Du aber das letzte Stück übernehmen. Bei dem Wind sehe ich vor lauter blonden Haaren garnichts mehr." Er drückte Mikkel die Zügel in die Hand und etwas erschrocken über die plötzliche Verantwortung nahm er sie an. Mit jeden Stück des Weges wurde er sicherer in der Führung des Pferdes und Alturin staunte über die schnelle Auffassungsgabe des Jungen. Sie querten einen Fluss, der hier ins Meer floss und ritten danach links in das Landesinnere. Es ging eine kleine leicht bewaldete Anhöhe hinauf. "Nun werde langsamer und oben auf dem Hügel hälst Du an," sagte Alturin zu ihm. "Sind wir da?," fragte Mikkel. Alturin griff sanft in die Zügel, um das Pferd sachte zum Stehen zu bringen. "Und nun schaue nach links und erblicke den Glanz und die Schönheit der Kristallstadt," sagte er. Leicht bewegte er sein Pferd in die richtige Richtung. "Oooh,!" war das Einzige was der Junge hervorzubringen vermochte. Alturin beugte sich etwas vor zu ihm. Überwältigt vom Anblick der Stadt glaubte Alturin in seinem Gesicht ein Lächeln zu sehen.
Das Sonnenlicht liess die Kristallstadt in einem ganz besonderen Glanz erscheinen. Es strahlte, aber es blendete nicht. Es war ein wärmender Glanz der alle faszinierte, die sie erblickten. Am Auslauf einer kleinen Ebene lag die Stadt und war halb in einen angerenzenden Berg gebaut. Man konnte kleine Strassen erkennen und etliche Türmchen zierten die hellen Häuser. Etwas oberhalb des Teiles, der auf dem Berg lag, befand sich die "Glasburg", das Herz des Reiches. Hier befand sich der Sitz von Hatora, der Hüterin der Kristallstadt. Manche nannten sie die Königin der Kristallstadt, aber dies gefiel ihr nicht. Sie mochte keine Könige. Um die Kristallstadt herum zog sich eine hohe wehrhafte Mauer, die Sicherheit und Schutz bot und in ihrer Mitte sah Mikkel ein weit geöffnetes, mächtiges Eingangstor. Alturin liess Mikkel noch einen Moment, um die Schönheit der Stadt zu schauen, dann liess er das Pferd wieder antraben und sie ritten hinunter zur Stadt.
Nach kurzer Zeit erreichten sie das Haupttor. Mikkel erkannte wie ungeheuer dick die Mauer waren, welche die Stadt umfasste. Er schätze, dass zwei erwachsene Männer, wenn sie sich hintereinander auf den Boden legten, nicht ausreichen würden, um die Stärke der Mauer zu erreichen und ihre Höhe entsprach ganz bestimmt der Höhe der alten Knorreiche auf der Lichtung bei ihm zuhause. Ein grosser Platz auf dem reges Treiben herrschte, schloss sich dem Tordurchgang an. Viele Menschen waren hier unterwegs und grüssten sie freundlich. Körbe und Kisten wurden hin und her getragen und einige Pferdewagen waren unterwegs. Alturin lenkte das Pferd langsam durch die Strassen die Anhöhe hinauf in Richtung der Glasburg. Hatora würde wissen, dass er eingetroffen ist. Nicht weil man es ihr gemeldet hätte, nein, sie hatte die Gabe der Vorraussicht. Mikkel bestaunte die schönen aber einfachen Häuser und den seltsamen Glanz, der von ihnen ausging. Dann bogen sie um eine Ecke und ein Vorplatz war zu sehen, der den Blick auf die Glasburg frei gab.
Noch heller als die anderen Häuser strahlte sie und Mikkel war völlig gefangen von der Schönheit. Er sagte kein einziges Wort. Kurz vor dem Eingang kam ihnen ein Wachposten entgegen, der sie freundlich begrüsste und die Zügel des Pferdes entgegen nahm. "Sei gegrüsst Alturin! Geht nur hinein, Hatora erwartet euch bereits." Alturin wusste, dass sie wusste und er hatte das Gefühl, dass sie ihn heute mit noch mehr Neuigkeiten überraschen würde. Er hoffte, dass es gute Neuigkeiten sein würden. Sie stiegen ab und gingen die Steintreppen hinauf, die zum Eingang führten. Ein Mann mit einer silbernen Rüstung hielt den beiden Besuchern die Eingangstür auf. Sie betraten eine grosse Halle, in deren Mitte ein Brunnen stand, aus dessen Mitte ein Wasserstrahl in die Höhe sprang. Es war kein gewöhnliches Wasser, dies war Mikkel sofort aufgefallen. Es hatte einen seltsamen silbernen Glanz.
Ein Stück weiter vorn stand eine kunstvoll verzierte Holzbank, auf der sie Platz nahmen und auf Hatora warteten. "Es ist so friedlich hier," bemerkte Mikkel. "Ja, so ist es und so war es immer hier," antwortete Alturin. "Was hat es mit dem Wasser dieses Brunnens auf sich Alturin, mir scheint es ist kein gewöhnliches Wasser, wie wir es kennen," fragte Mikkel. Gerade als Alturin antworten wollte, ertönte von der rechten Seite eine weibliche Stimme: "Es ist Kristallwasser und es ist einzigartig". Beide erschraken. Sie hatten Hatora nicht kommen hören. Alturin und Mikkel standen sofort auf und als Alturin sich vor Hatora verbeugte, tat Mikkel es ihm gleich. "Willkommen in der Glasburg, Alturin und auch Dir mein Willkommen, junger Lichtmagier." Längst hatte sie das Mal auf seinem Handrücken gesehen. Dann stellte sich Hatora mit lächelndem Gesicht vor Mikkel hin und sah ihm tief in die Augen. Sie legte ihre rechte Hand auf seine Schulter. Ein Schauer durchfuhr ihn und er spürte, dass sie ihm bis auf die Seele sah....