Shergolahs dunkle Gänge
"Bleibt nur dicht zusammen, wie ich euch gesagt habe!"
Hatora hatte kein Wort gesprochen, doch alle hatten es gehört. Durch die mitgeführten Kristalle waren sie auf der gedanklichen Ebene verbunden. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Der wabernde Nebel wurde ein wenig durchlässiger und Mikkel erkannte schwach die Umrisse einer geräumigen Höhle. Wege und Treppen führten am Rand der Höhle in die Höhe und Mikkel glaubte kleine Höhlen zu erkennen, aus denen schwaches Licht drang. Die Kristalle leuchteten ihnen den Weg aus, allerdings war immer nur ein kurzes Stück voraus zu sehen, da ihre Leuchtkraft auch nicht besonders gross war. Hatora wollte nicht, dass sie allzusehr auffielen in der Welt der Geistwesen. Je weniger sie gesehen wurden, desto besser hatte sie alle ermahnt.
Mikkel wunderte sich über den weichen Boden auf dem sie liefen.
"Dunkelgras, hörte er Hatoras Stimme leise. Es wächst nirgends sonst auf der Welt und nährt sich von den Seelenanteilen der Geistwesen, welche sich hier oberhalb aufhalten. Es ist wie ein Reinigungsprozess."
Lichtfetzen schwebten an ihnen vorbei. Mikkel hatte das Gefühl, dass sie friedfertig waren und dass sie eine recht angenehme Energie verströmten. Dann nahm er in der Mitte der Höhle ein röhrenartiges Gebilde wahr.
"Die Stiege", erklärte Hatora. Zu bestimmten Zeiten werden gereinigte Seelen in die Stiege geführt. Die Öffnung oberhalb entlässt dann einige von ihnen in den Seelengarten. Dort schauen sie auf ihr gelebtes Leben und nach einer Weile werden sie dann wieder in die grosse Gemeinschaft der Seelen aufgenommen. Dann können sie wenn sie möchten eine neue Wahl treffen oder dort verweilen."
Sie erreichten eine Treppenanlage. Hatora blieb stehen. Ein Lichtschein drang aus der nahen Höhlenwand heraus. Es schien Mikkel eine Art Kontrolle zu sein. Hatora hielt einen Kristall gegen das Licht und es erlosch. Sie stiegen vorsichtig die Treppen hinab und erreichten eine kühle Halle. Mikkel spürte Holz unter sich auf dem Boden.
"Sternenbäume", erklärte Hatora. "Die einzigen von ihnen, welche mit ihrem Einverständniss zu diesem Zweck umgelegt wurden."
Beim Weitergehen bemerkte Mikkel auch hier einige der Lichtfetzen, allerdings wiesen sie dunkle Schatten auf und schienen rauherer Natur zu sein. Manche flogen ihn regelrecht an und wirkten angriffslustig. Je weiter sie fortschritten, desto wilder und heftiger wurden ihre Bewegungen. Mikkel hatte seine Hand an den Griff seines Schwertes gelegt. Ihm war unbehaglich zumute. Leise Stimmen waren plötzlich zu hören. Klagelaute. Es wurde mit jedem Schritt unangenehmer und grausiger. Alturin kam ein riesiger wabernder Kopf entgegen, dessen Augen und Mund weit aufgerissen war. Ein gruseliger Schauer überkam ihn.
"Eine Treppe haben wir noch vor uns," hörten sie Hatoras Stimme. Dann hielt sie an. Wieder hielt sie einen Kristall gegen das aus der Wand schimmernde Licht. Sie konnten weitergehen. Die folgende Treppe war wesentlich länger als die anderen zuvor und als sie den Grund der Höhle erreicht hatten, fühlten sie harten, nackten Stein unter ihren Füssen. Jeder ihrer Schritte war nun zu hören. Die Luft war feucht und es war bedeutend wärmer als in der vorigen Höhle. Die schwüle Luft trieb ihnen in kurzer Zeit den Schweiss aus ihren Körpern.
"Ein Stück noch, dann beginnt Deine Suche Mikkel. Komm zu mir nach vorn."
Mikkel schloss zu Hatora auf. Ein Dröhnen und Grollen durchzog die Höhle. Rufe und Schreie waren zu hören. Ihre Sinne waren mit jedem ihrer Schritte mehr und mehr gespannt. Es wurde immer lauter. Da! Etwas hatte Mikkel berührt!
"Ruhig bleiben!", hörte er Hatoras Stimme. Gib ihnen keine Macht. Kismedis. Halb Geist - halb körperlich. Sie erkennen den, der sich ängstigt und an ihm laben sie sich dann." Vorsichtig wischte sich Mikkel den Schweiss von der Stirn.
"Gleich sind wir da. An den Wänden entlang wirst Du viele traurige Gestalten sehen, Mikkel. Suche dann nach Deinen Eltern. Ich wünsche Dir Glück!"
Bald darauf entdeckte Mikkel zusammengekauert einen alten Mann. Er summte eine Melodie vor sich hin und bewegte dabei seine angezogenen Beine hin und her. Sein Blick ging ins Leere. Seinen Kopf hob er abwechselnd zum Boden und dann in die Höhe. Sein Geist schien völlig verwirrt zu sein. Ein Stück weiter bemerkte er eine Frau, die immer wieder mit ihren Armen wild herumzuckte. Ihre Haarfarbe ähnelte im Halbdunkel der seiner Mutter. Mikkel bückte sich etwas zu ihr herunter, um ihr ins Gesicht zu sehen. Als sie ihn sah, kreischte sie ohrenbetäubend und Blut quoll aus ihren Augen. Alturin erschauerte. Schnell gingen sie weiter.
Sie verbrachten Stunden hier unten und so manches arme Wesen hatte ihnen ob ihres jämmerlichen Zustandes Tränen des Mitleids entlockt. Hatora hatte keine Hoffnung mehr, dass Mikkels Eltern hier unten zu finden waren. Sie hatten den ganzen Trakt durchschritten. Entmutigt und völlig durchgeschwitzt wollten sie den Rückweg antreten. Mehrmals wurden sie von den angriffslustigen Kismedis angegangen. Dann lag die Treppe nach oben vor ihnen. Hatora machte die ersten Schritte nach oben. Doch Mikkel hielt plötzlich inne. Er hatte ein leises Wimmern vernommen. Es kam von unterhalb der Treppe. Langsam ging er zurück, um unter den Treppenabsatz zu schauen. Alturin folgte ihm. Hatora beschlich ein seltsames Gefühl. Ihre Körperspannung stieg an. Mikkel betrat die Kehre unter der Treppe.
Da! Ein Schuh schaute heraus! Er kannte ihn! Es war die Sandale seiner Mutter!
Rasch bewegte sich Mikkel weiter unter die Treppe. Er erkannte das Kleid seiner Mutter. Halb auf dem Boden liegend, den Kopf an die Wand gelehnt, sah er den zusammengesackten, völlig ausgemergelten Körper seiner Mutter. Sie war nur noch Haut und Knochen. War sie tot? Mikkel versuchte verzweifelt sich zu beherrschen und seine Tränen und Trauer zu unterdrücken. Neben seiner Mutter entdeckte er zusammengerollt seinen Vater am Boden liegend. Langsam erhob Mikkel seine Hand und berührte das Bein seiner geliebten Mutter. Ein toter, kalter, dünner Knochen....... sie musste tot sein. Sein Vater hatte die Augen geöffnet, doch sein Blick war leer....
Mikkels Blick ging zu Boden und grosse Trauer erfasste ihn. Er konnte seine Tränen nicht mehr halten, der Schmerz war zu gross. Alturin hatte sich neben ihn gehockt und Hatora legte dem bemitleidenswerten Mikkel liebevoll ihre Hand auf seine Schulter. Mikkel versuchte ein Schluchzen zu unterdrücken. Es gelang ihm nicht. Er beugte sich etwas nach vorn, um seine Mutter aufzuheben. Er wollte beide mitnehmen. Doch dann zuckte er völlig überrascht zusammen.
Sie bewegte sich! Ein leises Stöhnen kam aus ihrem Mund. Mikkel riss die Augen auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Auch in den Körper seines Vaters kam plötzlich Leben. Hinter ihnen stand Hatora. Sie hatte einen Kristall auf seine Eltern gerichtet....
"Vater! Mutter!", rief Mikkel. Er zog seine Mutter unter der Treppe hervor. Alturin kümmerte sich um seinen Vater und bald lagen beide vor dem Treppenanstieg. Überglücklich nahm Mikkel seine Eltern abwechselnd in die Arme. "Ich nehme meine Mutter. Trage Du bitte meinen Vater nach oben, Alturin," bat Mikkel.
"Ich werde Deinen Vater nehmen, Mikkel", sagte Hatora.
"Aber?", kam es fragend aus Alturins Mund.
Hatora hob ihre Hand. "Du wirst Deine Hände frei haben müssen, Alturin. Wir brauchen Dein Schwert."
Gebrüll und Geschrei brandete plötzlich auf. Horden von Kismedis waren auf dem Weg zu ihnen. Sie waren auf sie aufmerksam geworden.....
Hektisch griff sich Mikkel seine Mutter und nahm sie auf den Arm. Alturin half Hatora, Mikkels Vater zu schultern und dann stiegen sie rasch die Treppenstufen empor. Die Hälfe der Treppe war noch nicht geschafft, als die ersten der Kismedis sie erreichten. Beissend, kratzend und schlagend droschen sie auf Alturin ein, der den Rückweg absichern sollte. Sie schrien aus Leibeskräften und fügten ihm mehrere Wunden zu, doch Alturin setzte sein Schwert geschickt ein und keiner von ihnen kam zu Mikkel und Hatora durch. Sie wollten sie zurück holen, um ihnen den Rest ihres Lebens auszusaugen.
Dann erreichten sie den letzten Treppenabsatz. Erneut brandete eine Welle der Kismedis auf Alturin. Er hatte grosse Mühe, sie alle abzuwehren. Hatora hielt mit Mikkels Vater auf ihren Schultern den Kristall gegen das schwache Licht in der Wand. Dann konnten sie endlich passieren. Schnell liefen sie in die zweite Halle. Der weitere Rückweg war weniger beschwerlich und schliesslich erreichten sie das letzte Tor. Doch ein unerwartetes Hindernis blockierte ihren Weg nach draussen...
Cerverik! Ein Wächter der Unterwelt!
"Er war vorhin noch nicht da," rief Mikkel. Er stand dem mächtigen Wolf mit seinen rotglühenden Augen gegenüber. Sein riesiges, geöffnetes Maul liess seine messerscharfen Zähne erkennen. Vorsichtig reichte Mikkel seine Mutter an Alturin weiter, der sie behutsam auf die Arme nahm. Mikkel zog sein Schwert und trat dem riesigen Wolf entgegen.
"Du musst mir das Losungswort nennen, sonst darf ich euch nicht durchlassen und muss euch in die unterste Kammer zu den Kismets bringen, " sagte der Wolf mit gespielter Höflichkeit. Mikkel nahm den Griff des Schwertes in die rechte Hand und legte die Spitze in seine linke Hand.
"Ich darf dieses Wort nicht aussprechen Torwächter, sagte Mikkel. Es ist mir verboten. Aber ich habe es auf meine Klinge eingravieren lassen, um Dich zu besänftigen. Komm und lies."
Langsam hielt er dem Wolf die Klinge etwas näher entgegen. Mikkel drehte ich leicht seitwärts, um den Eindruck zu erwecken, sich respektvoll ein wenig abwenden zu wollen. Der Wolf bewegte sich ein wenig nach vorn, um die Klinge anzusehen. Er konnte nichts erkennen. So kam er noch ein kleines Stück näher...
Blitzschnell liess Mikkel seine linke Hand vom Schwert los und schlug mit der rechten Hand zu. Der Kopf des Wolfes knallte laut auf den Boden und rollte ein paar Stufen hinab. Doch kein einziger Blutstropfen war zu sehen. Dennoch glaubte Mikkel, ihn besiegt zu haben. Doch dann stürzte sich der massige kopflose Körper nach vorne auf Mikkel zu.
"Sein Herz!", hörte Mikkel Hatoras Stimme.
Geschickt sprang Mikkel auf die Seite und stiess dem blutrünstigen Cerverik sein Schwert mitten ins Herz. Der Wolf jaulte laut vor Schmerz auf, sackte zu Boden und löste sich in Staub auf. Rasch ging Hatora zu dem schwach leuchtenden Licht und hielt den Kristall hinein. Die Zeit kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, bis sich endlich das Tor öffnete und sie das erlösende Tageslicht erblickten.
Besorgten Blickes kamen ihnen die zurückgebliebenen Lichtkrieger entgegen. Alturin und Hatora legten Mikkels Eltern behutsam im weichen Gras ab. Erst jetzt im Tageslicht sah Mikkel den schlimmen Zustand seiner Eltern. Hätte er nicht selber das schwache Leben in ihnen gespürt, er hätte sie für tot gehalten.
"Werden sie es schaffen bis in die Stadt?", fragte Mikkel Hatora besorgt.
"Lasst uns darauf hoffen," antwortete Hatora.