Marley parkte im Schatten der Bäume an der Straße zur James Dean Gallery, die auf einer kleinen Anhöhe lag. Es war ein hübsches, verwinkeltes Haus mit weißgrauer Bretterfassade, einer überdachten Terrasse und blaugrau eingefassten Fenstern. In der Nähe des mit Steinsäulen umrahmten Treppenaufgangs weilte eine lebensgroße James-Dean-Figur. An einem Fahnenmast darüber wehte eine amerikanische Flagge im Wind. Eine Menschentraube strömte aus dem Haus. Angeregt plauderten die Leute auf dem Weg, der sich durch den säuberlich gemähten Rasen schlängelte.
James Dean war schon lange tot und dennoch allgegenwärtig. Man konnte seinen Geist an jeder Ecke dieser Stadt spüren.
„Wir gehen nie ganz“, flüsterte Marley und befühlte wieder den Diamanten. Sie sah sich eine Weile um, dann fuhr sie weiter, vorbei an der inzwischen teilweise eingerissenen alten Highschool, die James Dean besucht hatte. Es war ein großes Backsteingebäude mit Rundbogeneingang, umgeben von grünem Maschendrahtzaun. Auf einem Fabrikgelände standen ein paar Oldtimer und ein alter gelber Schulbus. Kurzzeitig versetzte Marley der Anblick zurück in die Fünfzigerjahre. Tom hätten die alten Wagen sicherlich gefallen. In dem Punkt wäre er wohl sogar mit Eugen im Einklang gewesen. Sie dachte an Avery, als sie weiter durch die Straßen fuhr. In welchem der Häuser sie und Jayden wohl wohnten? Im Telefonbuch hatte sie im Zusammenhang mit den Priestlys nur die Werkstatt gefunden. Von einer Gebäudewand der Mainstreet blickte ihr James Dean entgegen, als wollte er ihr eine Antwort auf ihre Frage geben.
Obwohl es eine fremde Stadt war, weit weg von ihrer Heimat, fühlte sie sich irgendwie mit ihr verbunden. Es gab Dutzende von Ecken, an denen sie am liebsten die Saiten ihrer Gitarre angestimmt hätte. Bevor sie zurück ins Hotel fuhr, stoppte sie vor dem Park Cemetery. Ein friedlicher Ort. Die Gräber befanden sich in einer durch Schotterwege unterteilten, großflächigen Wiese, durchsetzt von Bäumen. Vom Auto aus konnte sie bunte Blumen sehen, die die größtenteils einfachen Grabsteine umgaben. Hier also endete Toms irdische Reise, dachte Marley, und ein Gefühl der Sehnsucht überkam sie. Sehnsucht danach, ihre Tante Monia und Tom hier bei sich zu haben, mit ihnen zu reden, Tom kennenzulernen und mit ihnen gemeinsam das Land zu erkunden. Monia war wie eine Mutter für sie gewesen und die beste Freundin, die sie je gehabt hatte.
Marley stieg aus und ging auf den Friedhof zu. Sonnenstrahlen blitzten durch weiße, buschige Wolken, und für einen Moment glaubte sie, Monias Lieblingsparfüm zu riechen. Vielleicht ging sie ja gerade neben ihr, zusammen mit Tom. Schritt für Schritt lief sie die vielen Gräber ab und las die Inschriften. Die Suche gestaltete sich langwierig, aber Marley wurde nicht müde. Schließlich entdeckte sie auch James Deans Grab. Es leuchtete schon von Weitem. Der graue, rechteckige, abgerundete Stein trug seinen Namen, Geburts- und Todesjahr und war übersät mit verschiedenfarbigen Lippenstiftküssen weiblicher Fans. Einzelne Zigaretten lagen auf dem Grabstein. Blumen, Teddybären, Münzen, in Folien eingehüllte Fotos und Briefe sowie Engelsfiguren umgaben ihn. Zwei junge Mädchen legten drei Rosen vor dem Grab nieder, murmelten etwas und verschwanden dann schluchzend. Die Reste eines Briefes flatterten im Wind.
Ehrfurcht erfüllte Marley, als sie auf das Fleckchen Erde blickte, das die sterblichen Überreste einer Legende beherbergte. Es ist surreal, hier zu sein, dachte sie, gleichzeitig wundervoll und traurig.
Jimmy Dean war ein Junge gewesen, ein Junge, dessen Mutter ihn so früh verlassen musste und die er den Erzählungen nach sein Leben lang vermisst hatte. So wie sie nun Monia. Sie konnte sich nur wünschen, dass Jimmy und seine Mutter wieder vereint waren, genau wie Monia und Tom.
Einen Augenblick berührte sie den Grabstein, und es kam ihr vor, als würde die Sonne noch ein Stückchen heller scheinen.
„Avery! Die Rosen auf Toms Grab sind ja zauberhaft“, hörte sie plötzlich eine säuselnde Frauenstimme weiter hinten und erstarrte. „Wo hast du sie her? Die würden meinem Freddy sicher auch gefallen. Er hat Rosen geliebt.“
Verstohlen folgten ihre Blicke der Stimme. Etwa zwanzig Schritte entfernt, neben einem Gebüsch mit grünen Blättern, sah sie zwei Frauen mittleren Alters. Die Gräber, vor denen sie standen, lagen parallel zueinander. Marley konnte nicht glauben, dass Avery tatsächlich hier war, zur selben Zeit wie sie.
„Ich bin hier, um das Grab meiner Eltern zu pflegen. Wenn du Fragen zu den Blumen auf Toms Grab hast, musst du dich schon an Jayden wenden. Ich pflege es nämlich nicht, was sich bei den Quäkern ja schon herumgesprochen hat“, sagte Avery, womit sich Marleys Vermutung bestätigte.
Avery schüttelte ihr aschblondes, gekräuseltes Haar, streifte sich ihre Arbeitshandschuhe von den Händen und wischte sich mit der Rechten über die Stirn. „Verdammte Hitze“, schimpfte sie. Ihre Stimme klang fest und stark. Nur von der Statur her wirkte sie eher zerbrechlich.
„Entschuldige. Ich wollte nicht unhöflich sein, Avery.“
„Nur neugierig. Verstehe!“, erwiderte Avery und lachte, woraufhin sich ihre Nachbarin auf den Nachhauseweg machte.
Die schwarzhaarige, leicht pummelige Dame passierte Marley und murmelte dabei unentwegt vor sich hin. Die einzigen Worte, die sie verstand, sprachen Bände: „Bissig wie eine Stute.“
Noch einmal warf Marley einen Blick zu Avery, die dabei war, ein paar frische Margeriten zu pflanzen. Ihren Bewegungen nach hatte sie es ziemlich eilig. Und dann passierte es. Ihre Blicke trafen sich. Sekunden, die Marley wie eine Ewigkeit erschienen. Danach wandte sie sich ab und folgte ihrer inneren Stimme, die ihr sagte, dass es besser war, den Friedhof zu verlassen.