Ebenso lax, wie er begonnen hatte, beendete Yo Valkja nach weit mehr als anderthalb Sandgläsern seinen Bericht: „Na ja, jedenfalls waren wir trotz allem siegreich und die Westfront ist wieder sicher.“
Nahezu ohne Unterlass hatte der Anführer des Roten Mondes gesprochen und in einfachen, ungeschönten Worten kurz und knapp das vermeintlich Wichtigste des langen Krieges zusammengefasst. Zwar war er dabei ob seiner unzulänglichen Erinnerung des Öfteren ins Straucheln geraten und mit Sicherheit hatte er auch so manches Ereignis bewusst verschwiegen, doch zu des Heermeisters Glück hatte Inor Kívíako ihm souverän über Gedächtnislücken hinweggeholfen und sich auch bei Unterschlagung gewisser Ereignisse oder gar offensichtlichen Lügen nichts anmerken lassen.
Nun jedoch wirkte der Dritte General müde und auch ein wenig trunken vom Klang seiner eigenen Stimme. Mit geschlossenen Augen und in die Hüften gestemmten Armen stand der bleiche Krieger da und hatte den Kopf auf eine Seite gelegt, als wollte er eine Verspannung in Hals oder Nacken dehnen. Der Vizegeneral dagegen sah aufmerksam zu ihnen herauf und wartete gespannt auf eine Reaktion. Diese blieb jedoch zunächst aus und eine ungewöhnliche Stille erfüllte stattdessen den riesigen Ratssaal. Dem Ehrenwerten Aanh mutete es an wie die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Und er ahnte, woraus sie erwuchs. Einige seiner Ratsbrüder schienen die Fülle an Informationen erst einmal verarbeiten und bewerten zu müssen, andere dagegen suchten augenscheinlich nach den passenden Worten, um ihrer Ansicht angemessen Ausdruck zu verleihen. So blickte Richter Llangmuth, der älteste der Neun Weisen und als einziger von ihnen tatsächlich weißen Hauptes, sinnierend an die Kreuzgewölbe der Decke und summte wie immer, wenn er schwere Entscheidungen abwog, leise eine tiefe Melodie vor sich hin, während Herzog Piiviis Finger rhythmisch auf der Armlehne seines Sitzes trommelten und Freiherr Arianth in Gedanken versunken immer wieder durch seinen Bart strich. Graf Pokinoi und Baron zu Feuerborn und Liebstein hatten, wie nicht anders zu erwarten gewesen war, die Köpfe zusammengesteckt und flüsterten in hörbar zunehmender Erregung, während Freiherr Kharus offensichtlich noch die Worte fehlten, um sich an der Diskussion zu beteiligen. Der Vorsitzende selbst saß, die Ellbogen auf die Brüstung gestützt und das Kinn in die gefalteten Hände gebettet, da und blickte sorgenvoll auf die beiden Männer herab.
Der Krieg hatte hohe Verluste gefordert. Sehr hohe Verluste. In allen drei Heeren war eine Unzahl Gefallener und Schwerverletzter zu beklagen. Von zehn Männern, die ausgezogen waren, ihr Land zu verteidigen, waren nur sechs wieder heimgekommen. Im Falle des Roten Mondes sogar nur vier. Keiner seiner Ratsbrüder war dem Irrglauben, dass es leicht wurde, aufgesessen. Allen war von Beginn an klar gewesen, dass hernach eine Menge Toter zu betrauern waren. Doch dass eine ihrer Streitkräfte mit nicht einmal mehr halber Stärke zurückkehrte, damit hatte keiner der Weisen gerechnet. Ein Tribut, an der die verwegene Taktik Yo Valkjas zweifelsohne nicht unschuldig war. Dem Bericht des Heermeisters war schließlich unschwer zu entnehmen gewesen, dass dieser sich an keine ihrer zahlreichen Absprachen gehalten und so ziemlich jede Regel der heimischen Kriegsführung gebrochen hatte. Und genau darin durften die Sprachlosigkeit und zunehmend feindseligeren Blicke der Ältesten wohl letztlich begründet liegen.
Blieb zu hoffen, dass seine Ratsbrüder erkannten, dass dem Dritten General, dass diesem Reich, kaum eine andere Wahl geblieben war. Die Niederlage auch nur eines ihrer drei Heere hätte einen weitaus größeren Blutzoll gefordert und im schlimmsten Fall zum Untergang Lanois führen können. So vermeidbar die Verluste und so kritikwürdig die Kriegsführung des Heermeisters auch gewesen sein mochten, sein Sieg und die Bezwingung des viborianischen Fürstenhauses wogen schwerer als alle Kritikpunkte. Zumindest war das seine Sichtweise der Dinge.
„Seid Ihr des Wahnsinns, General?“
Scharf wie ein Schwert durchschnitt die dunkle Stimme des Barons zu Feuerborn und Liebstein die unheilschwangere Stille im Raum. Sein Ratsbruder schien gleichermaßen ungläubig wie entrüstet ob der so freimütigen Offenlegung zahlreicher Verfehlungen, doch in seinen Augen blitzte zudem verstohlen tückische Schläue.
„Wie konntet Ihr eine solch riskante Taktik wählen? Ist Euch überhaupt bewusst, was Ihr damit aufs Spiel gesetzt habt?“
Schnaubend schüttelte der Anführer des Roten Mondes den Kopf und ein selbstgerechtes Lächeln verzog seine Mundwinkel. Gewiss hatte er damit gerechnet, dass ausgerechnet dieser Älteste den ersten Stein warf. Es war schließlich kein Geheimnis, dass es sich bei Baron Issa Izara Adebar zu Feuerborn und Liebstein, der nicht annähernd so greis war, wie einen sein Äußeres glauben machte, um einen notorischer Zweifler und Nörgler mit ausgeprägtem Standesdünkel und verstecktem Rassenhass handelte. War Freiherr Arianth der deutlichste Fürsprecher des Dritten Generals im Rat der Alten, dann konnte man Baron zu Feuerborn und Liebstein mit Fug und Recht als einen seiner erbittertsten Widersacher bezeichnen.
„Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, war die lapidare Antwort des gescholtenen Kriegers.
Mit festem Blick, der einer unausgesprochenen Kampfansage gleichkam, sah dieser geradewegs zu dem Baron herauf und zog die rechte Augenbraue leicht in die Höhe. Der bleiche Heermeister schien über die Berichterstattung seine Selbstsicherheit und Stärke zurückgewonnen zu haben und erweckte einen ungleich stabileren Eindruck als bei ihrem Aufeinandertreffen. Der Ehrenwerte Aanh schmunzelte. Yo Valkja war bereit. Der Ball war eröffnet, der Tanz konnte beginnen! Blieb zu hoffen, dass es ihm im Interesse aller Beteiligten gelang, ihn in geregelten Bahnen zu lenken.
„Ihr hättet alle Männer ins Verderben führen können!“, ertönte die brüchige Stimme des Freiherrn Kharus, der seine Sprache wiedergefunden hatte und an seinem langen, wirren Bart herumzupfte. „Was für ein Verlust! Wir wären schutzlos gewesen!“
„Habe ich aber nicht“, widersprach der Dritte General, obgleich diese Worte im Widerspruch zur Zahl der Gefallenen standen.
„Begreift Ihr denn nicht, welche Verantwortung Ihr habt?“
Die Frage des Barons van Vengard, der ganz rechts des Ehrenwerten Aanhs am Rande saß und sich stets sehr bedeckt hielt, wenn es um seine Einstellung zu dem silberhaarigen Heerführer ging, klang gleichermaßen ungläubig wie vorwurfsvoll.
Genervt verdrehte Yo Valkja die Augen und tat, was er immer tat, wenn er auf solche, ihm verhassten Dinge wie Autorität, Pflicht und Verantwortung angesprochen wurde: Er zog scharf die Luft ein und ließ sie dann geräuschvoll aus dem linken Mundwinkel entweichen. Momente wie dieser offenbarten, dass der Mann mit der ungesunden Hautfarbe den Rang eines Generals nie gestrebt hatte. Ganz im Gegenteil. Mit Händen und Füßen hatte er sich damals dagegen gesträubt, die Führung eines ganzen Heeres zu übernehmen und diese Ehre mit hoher Wahrscheinlichkeit einzig deshalb angenommen, weil die Alternative darin bestanden hatte, sich unterzuordnen und einem anderen Heermeister zu dienen.
„Über die Hälfte Eurer Männer ist gefallen. Der höchste Verlust aller Heere“, meldete nun auch Richter Llangmuth sich zu Wort.
Zwar klangen die Worte seines Ratsbruders bar jeder Anklage und waren augenscheinlich nicht als Vorwurf gedacht, doch der General wie auch einige andere Weise nahmen sie offenbar genau so auf.
„Wer in den Kampf zieht, muss damit rechnen, nicht wieder heimzukehren. Krieg bedeutet immer Leiden und Tod. Das liegt in der Natur der Sache“, gab Yo Valkja halblaut zurück, worauf sich einige Älteste nach vorn beugten, um seine Worte verstehen zu können.
„Ihr solltet unsere Krieger führen und stärken, nicht sie den Löwen zum Fraße vorwerfen!“, warf nun auch Graf Pokinoi, mit dessen Wortmeldung der Ehrenwerte Aanh schon wesentlich früher gerechnet hatte, aufgebracht ein. „Ihr solltet unsere Lande schützen, nicht sie schwächen!“
„Und wie, bitte, soll ich das anstellen, wenn ich keinerlei Risiko eingehen darf?“, rief der dritte Heermeister schon wesentlich lauter zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ihr hattet Anweisungen! Die Berater des Regenten haben nicht umsonst Schlachtpläne ausgearbeitet!“
„Ts, nutzlos“, winkte der General selbstgerecht lächelnd ab. „Solche Pläne funktionieren vielleicht auf dem taktischen Tisch, aber nicht in der Wirklichkeit einer wüsten Schlacht. Da heißt es, schnell zu reagieren und riskante Entscheidungen zu treffen – oder zu sterben. Aber was versteht ihr schon davon!“
Deutlich klang für den Ehrenwerten Aanh die Aufforderung des Heerführers durch, die Neun Weisen mochten das nächste Mal doch selbst in die Schlacht ziehen, wenn ihnen seine Kriegsführung nicht genehm war. Und so, wie Richter Llangmuth und Freiherr Arianth ihn ansahen, war er nicht der Einzige, bei dem die unterschwellige Botschaft angekommen war.
„Hättet Ihr Euch an die Ratschläge gehalten, wäre die Belagerung Aikasaras vielleicht nicht so verlustreich verlaufen, General“, gab Graf Ronesca zu bedenken.
Auch in seiner Stimme schwang weder offener Vorwurf noch Groll mit, sondern vielmehr Bedauern und ein fragender Unterton, doch seine Worte zeigten unerwartet sofort Wirkung. Während der junge Vizegeneral seinem Anführer angespannt unbehagliche Blicke zuwarf, schlug dieser schuldbewusst die Augen nieder und malmte mit den Zähnen. Yo Valkja war an der Nasenspitze abzulesen, dass er nur sehr ungern an diese Zeit, die den Berichten der Kriegsboten und Beobachter zufolge beinahe den Untergang seines Heeres besiegelt hatte, erinnert wurde. Die kurzzeitig eingetretene betretene Stille nutzend, rief der Vorsteher der Weisen sich eben jene Rapporte ins Gedächtnis zurück.
Die Belagerung Aikasaras, der größten Stadt im sich nordwestlich an Lanoi anschließenden, dicht besiedelten Grenzgebiet Coohan und dem Thronsitz des Fürsten Aleksar Vîbor, hatte nur wenige Mondzyklen gedauert und war bis kurz vor Schluss verheißungsvoll verlaufen, hatte für die Krieger des Roten Mondes aber in einem der verheerendsten Scharmützel des gesamten Feldzuges geendet. Nicht nur dass sich offenbar sämtliche Wetterkräfte gegen sie verschworen hatten und ein orkanartiges Unwetter über sie hereingebrochen war, sie waren zudem hinterhältigen Verrätern in den eigenen Reihen zum Opfer gefallen.
Weit nach der Nachtwende hatten die Abtrünnigen eine kleine Gruppe Viborianer von etwa achtzehn Mann Stärke in Dunkelheit und Nebel zum Lager geführt, alle Wachen im Umkreis der Kommandozelte ausgeschaltet und ein Dutzend Bogenschützen, deren Pfeile auf den jeweiligen Eingang gerichtet waren, postiert. Dann waren die Pferde losgeschnitten und wahllos einige Zelte angezündet worden. Laut hatten die Verräter Alarm geschlagen und beide Anführer waren ohne Rüstung aus ihren Zelten und direkt vor die bis zum Zerreißen gespannten Bögen gestürzt. Ein dichter Pfeilhagel war durch die dunkle Nacht gesurrt und beide Männer waren zu Boden gesackt.
Dass sie nun dennoch hier vor ihnen stehen und Bericht erstatten konnten, war der Aussage eines Augenzeugen nach offenbar einzig der Schlaftrunkenheit Yo Valkjas geschuldet, der genau im Moment der Abschüsse über eines der Spannseile seines Zeltes gestolpert und den Bruchteil eines Wimpernschlags, bevor die Pfeile ihn durchbohrten, zu Boden gerissen worden war. Entsprach die Schilderung des Unbekannten der Wahrheit, musste der Heerführer in der Folge rasend vor Zorn sämtliche Angreifer als auch die Verräter eigenhändig niedergestreckt haben und erst aus seinem Kampfrausch erwacht sein, als er den reglosen Körper seines Adjutanten, den der feige Anschlag ungehindert getroffen hatte, erblickt hatte. Wenn ihn sein Gedächtnis nicht trog, war von zwei Pfeilen in den Beinen des jungen Mannes, zweien im Bauch und einem, der sich oberhalb des Herzens durch dessen Schulter gebohrt hatte, zu lesen gewesen. Weiterhin von einer großen Risswunde an der rechten Schläfe, deren Zeichen er bei genauem Hinsehen selbst jetzt noch erkennen konnte.
Lange Tage und Nächte hatte der Dritte General hernach verbissen und mit schimpflicher Wirklichkeitsverweigerung um das Leben seines Adjutanten gekämpft, während um ihn herum die letzte, entscheidende Schlacht ausgebrochen und alles im Chaos versunken war. Und dem Vernehmen nach hatte Yo Valkja diesen Kampf nur um Haaresbreite nicht verloren.
„Ihr habt diese Männer völlig sinnlos in den Tod geführt! Ihr Blut klebt an Euren Händen! Ihr seid Schuld an ihrem Tod!“, riss die schneidende Stimme des Grafen Pokinoi, der aufgesprungen war und anklagend den Finger gegen den Dritten General erhob, den Ehrenwerte Aanh aus seinen Gedanken.
„Blödsinn!“, protestierte der Heerführer lautstark, beherrschte sich aber sofort wieder und fuhr so sachlich, wie er ihn selten gehört hatte, fort. „Nach dem Willen eurer so genannten Strategen hätten wir den Gegner zwar an seiner schwächsten Stelle angegriffen, dabei aber in Kauf genommen, dass er genau dies erwartet. Außerdem hätten sie uns auf Grund des abschüssigen Geländes mit Leichtigkeit einkesseln können. Dieser Plan war das reinste Selbstmordkommando!“
„Und ein Frontalangriff war es nicht?“, leistete Baron zu Feuerborn und Liebstein seinem Intimus wie gewohnt Schützenhilfe, lehnte sich leicht über die Balustrade und funkelte den Anführer des Roten Mondes herausfordernd an.
„Nein!!!“, schrie Yo Valkja impulsiv zurück und stampfte zornig auf den Boden. „Außer mir ist doch niemand auf diese Idee gekommen! Schon gar nicht die Viborianer, deren Berater und Strategen in genauso festgefahrenen Mustern denken wie eure dämlichen Papierkrieger. Das Überraschungsmoment war ganz auf unserer Seite!“
„Ach, und warum hat es dann nicht funktioniert?“, fragte Graf Pokinoi spitz.
Zornesbläue färbte die Wangen des Heermeisters und er murmelte irgendetwas in seinen nicht vorhandenen Bart hinein. Dann ballte er die Hände zu Fäusten, blickte kurz zu seinem Adjutanten, der beschwichtigend den Kopf schüttelte, und abschließend direkt zum Rat herauf. Noch bevor er den Mund aufmachte, wusste der Ehrenwerte Aanh, dass das Temperament des bleichen Mannes mit diesem durchging.
„Ihr jämmerlichen Tattergreise wagt es, mich zu kritisieren und zu beschimpfen?“, verlieh Yo Valkja seinem Unmut ungehalten Ausdruck und sein unverhohlen feindseliger Blick lag genau auf dem Grafen Pokinoi sowie Baron zu Feuerborn und Liebstein. „Wer stand denn bitte an vorderster Front, während ihr gemütlich in euren Lehnsesseln gesessen und eure Krücken poliert habt? Wer hat Tag für Tag sein Leben für dieses verfluchte Land, das mir doch nur mit Argwohn und Abscheu begegnet, riskiert? Wer musste allnächtlich die Schreie der Verwundeten ertragen, wer die Männer nach grauenvollen, blutigen Schlachten immer wieder aufbauen? Wer hat tagtäglich Zielscheibe für euch gespielt und alle Angriffe auf sich gelenkt, damit ihr hier seelenruhig die letzten Tage eures erbärmlichen Lebens dem Müßiggang frönen könnt? Wer war heimtückischen Attentaten selbst aus den eigenen Reihen ausgesetzt und wer hat beinahe seinen treuesten Begleiter verloren? Ihr? Nein, ich! Ich und meine Krieger haben dieses Reich mit unserem Blut und Schweiß, unserem Schwert und unserem Leben verteidigt und dafür haben wir – dafür habe ich! –, verdammt noch eins, auch den nötigen Respekt verdient!“
Die gemeinhin wenig kräftige Stimme des bleichen Mannes nahm durch die Akustik der Halle beunruhigende Ausmaße an und tönte von den Kreuzgewölben der Decke drohend auf die Alten herab. Selbst Inor Kívíako war leicht zusammengefahren, als die Stimme seines Anführers immer energischer geworden war. Yo Valkja mochte kein großer Rhetoriker sein und überließ das Reden aus gutem Grund zumeist seinem Stellvertreter, doch im Augenblick war er so in Rage, dass er die Weisen aufs Höchste sprachlos machte. Nicht nur seine flammende Rede und unmissverständliche Wortwahl, auch seine aufrechte und unbeugsame Haltung, seine kraftvolle Gestik und sein fester, unerschütterlicher Blick zeugten von Stärke, Stolz und Autorität. Alles an dem bleichen Mann mit dem nun schneidig nach oben stehenden Silberhaar forderte mit Nachdruck die Ehrerweisung ein, die einem Krieger seines Ranges zustand.
„Also: Wenn euch meine Heerführung nicht passt, dann zieht das nächste Mal doch selbst in den Kampf, ihr elenden Vetteln! Dann muss ich wenigstens eure alten, hässlichen Gesichter und euer Gekeife nicht länger ertragen. Ich habe es satt, ständig von euch diffamiert und attackiert zu werden, wo ihr doch eigentlich auf die Knie fallen und mir die Stiefel küssen müsstet!“
Entsetzt ob so viel Unverfrorenheit zogen die Ratsmitglieder rechts und links des Ehrenwerten Aanhs scharf die Luft ein und starrten fassungslos auf den erregten General hinunter. Er selbst hielt dem zornigen Blick des Heermeisters zwar stand, doch regte sich Reumütigkeit in seiner Brust. Obgleich Yo Valkja mit seiner vermessenen Rede jedes Maß verloren hatte und meilenweit über das Ziel hinausgeschossen war, unterließ er es, den aufgebrachten Mann für seine Äußerungen zurechtzuweisen. Denn im Kern hatte dieser nicht Unrecht. Ganz im Gegenteil. Auch bei den anderen beiden Befehlshabern hatte es durchaus Diskussionsbedarf und mehr oder weniger Streit bezüglich einzelner Schlachten und Taktiken gegeben, doch nichtsdestotrotz hatte der Rat der Alten Cay Rojahn und Cru Kanîja den ihnen gebührenden Respekt erwiesen und ihre Erfolge und Kriegsführung ausgiebig gewürdigt. Allein beim Anführer des Roten Mondes war bisher kein einziges lobendes Wort gefallen. Betreten schlug der Wortführer der Weisen die Augenlider nieder. Auch wenn es die meisten seiner Ratsbrüder nicht wahrhaben wollten, jetzt war es an ihnen, sich zu entschuldigen.
„Ich verstehe Euren Zorn, General Valkja, und es tut mir aufrichtig leid“, gab er mit ruhiger Stimme zu verstehen und suchte, den Heermeister mit einem wohlwollenden Nicken zu besänftigen.
Ein leises Raunen ging durch die Reihen und als er reihum blickte, las der Ehrenwerte Aanh mehrheitlich Missbilligung seiner Worte in den Gesichtern der meisten Ratsbrüder, die sicher einen ganz anderen Ton und eine erneute Maßregelung erwartet hatten. Lediglich Freiherr Arianth und Richter Llangmuth, der zwar kein glühender Verehrer des Dritten Generals war, jedoch stets mäßigend auf seine Ratsbrüder einzuwirken pflegte, wenn diese den fremdrassigen Krieger unsachlich angriffen, stimmten ihm mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken zu.
An die anderen Weisen gewandt fuhr er daher betont laut fort: „Es ist traurig, meine Brüder, um nicht zu sagen beschämend für den Ältestenrat, dass er einem tapferen Feldherren, der nicht nur die Bevölkerung im westlichen Teil des Landes, sondern damit auch uns im Herzen Lanois Tag für Tag mit dem Schwert, dem Blut und dem Leben seiner Männer sowie seinem eigenen beschützt hat, der immer wieder vor schwierigen, unangenehmen Entscheidungen stand und doch nur die Wahl zwischen Tod und noch mehr Toten hatte, der den bedingungslosen Respekt und die Anerkennung seiner Männer genießt und der zwar selbst verwundet doch trotz aller Widrigkeiten siegreich heimkehrt; dass wir diesem Mann die ihm gebührende Ehre und Anerkennung verweigern und er sie sich selbst einfordern muss!“
Unterhalb wie auf der Empore blickten ihn nun große Augen an. Die beiden Generäle schienen ehrlich verblüfft ob seiner Worte und die Wut Yo Valkjas kühlte sich sichtbar ab. Die zurechtgewiesenen Alten, die einen solch harschen Ton gegen Ihresgleichen nicht gewohnt waren, rutschten etwas kleinlaut auf ihren Sitzen herum und sahen einander betreten an. Lediglich Baron zu Feuerborn und Liebstein warf ihm Blicke der Empörung zu und dachte augenscheinlich nicht daran, den Ehranspruch des Heermeisters anzuerkennen.
„Wir sollen diesem tollkühnen Irren allen Ernstes zu seinem Wahnsinn gratulieren, ihn gar dafür loben?“, drang das vor Entrüstung triefende Flüstern des Barons an sein Ohr. „Der Ehrenwerte Aanh täte besser daran, anstatt uns dem impertinenten Weißhaar den Kopf zu waschen. Wird Zeit, dass unser Wortführer sich besinnt, wem er verpflichtet ist.“
Für einen Moment befürchtete der Ehrenwerte Aanh, zu weit gegangen zu sein und seine Neutralität verloren zu haben. Klare, offene Parteiergreifung war ihm als Vorsitzenden der Neun Weisen verboten und er an Objektivität gebunden. Dass er insgeheim dennoch ein Fürsprecher und, wenn es sein musste, auch ein Verfechter des Dritten Generals war, hatte er zwar nie verhohlen, es jedoch stets vermieden, sich allzu offen für ihn zu verwenden. Doch nun hatten seine Worte ihn in eine Zwickmühle gebracht, denn erstmals seit langer Zeit sah er sich im Widerstreit zwischen Neigung und Pflicht.
„Vielleicht“, erhob einer der Weisen in seinem Rücken die Stimme, „können einige Ratsmitglieder nur nicht ganz glauben, dass es General Valkja gelungen ist, die gegnerischen Truppen tatsächlich auf eigenem Boden zu schlagen und die Grenzgebiete Lanois nicht nur zurückzuerobern, sondern gar zu befrieden. Die Viborianer zählen schließlich nicht umsonst zu unseren ältesten und ärgsten Feinden.“
Sofort verengte der Heermeister die Augen zu schmalen Schlitzen, ließ den Ältesten gar nicht erst ausreden und knurrte: „Und wie gedenkt der Rat, dass ich ihm eben dies beweise?“
Der Ehrenwerte Aanh atmete erleichtert auf und ein flüchtiges Lächeln umspielte seine im Bart verborgenen Mundwinkel. Ganz gleich wer diese Frage gestellt hatte und warum, sie rettete ihn aus seiner misslichen Lage und ohne sich dessen gewahr zu werden, reagierte der Anführer des Roten Mondes genauso, dass er seinen Befürwortern direkt in die Hände spielte.
„Nun, eine Kapitulationsurkunde oder irgendein anderes Schriftstück mit dem Siegel der Herrschaft des Zwillingsreiches hat schon so manchen Zweifel aus der Welt geräumt“, antwortete dieselbe Stimme, die der Ehrenwerte Aanh nun zweifelsfrei dem Baron van Vengard zuordnen konnte.
Wenngleich er unschlüssig war, welches Ziel der jüngste Weise verfolgte, nickte er bestätigend und zwinkerte den beiden Männern zu Füßen der Empore verstohlen zu. Noch im gleichen Moment sackte Yo Valkjas Kopf auf die Brust und der Heermeister atmete hörbar laut aus.
„Na klar … sinnloser Mist … Menschen … wertloses Papier“, waren die einzigen Wortfetzen, die der Vorsteher des Rates dem Knurren des Generals entnehmen konnte. „Besiegt ist besiegt. Reicht das nicht?“, wandte der bleiche Mann sich nun wieder dem Rat zu und verschränkte erneut die Arme vor der Brust.
Eisiges Schweigen war die Antwort der Ältesten. Schnaubend kehrte der Heermeister ihnen den Rücken und drehte sich zu seinem Adjutanten um.
„Was, verflucht noch eins, soll ich mit labbrigem Pergament, das so leicht brennt, verdreckt, durchnässt und verloren geht? Ich hätte Aleksar doch lieber den Kopf abschlagen sollen.“
Schmunzelnd räusperte der Vizegeneral des dritten Heeres sich kurz und zog dann ein fein säuberlich zusammengerolltes Schriftstück aus einem Lederbeutel, den er hinten am Gürtel trug.
„Nun, dem kann ich Abhilfe schaffen, Ehrenwerter Rat. Wenn die Neun Weisen sich diese Urkunde besehen mögen? Herrschaftlich besiegelt und persönlich unterzeichnet von den Regenten Coohs und Roocs, Aleksar und Lŷsandro Vîbor.“
Skeptisch verengte der Anführer des Roten Mondes die Augen und erntete ein leicht selbstgefälliges, freches Grinsen von dem Jüngling, der die Pergamentrolle einem der Diener übergab. Flink und geräuschlos eilte dieser die Stufen zur niederen Empore herauf und das Dokument wanderte durch die Hände seiner Ratsbrüder zur Linken, bis es endlich bei dem Ehrenwerten Aanh ankam. Dankend nahm er die Schriftrolle entgegen, wickelte sie mit geübten, betont langsamen Griffen aus, las sie aufmerksam durch und brummte zufrieden. Dann reichte er sie an die anderen Weisen weiter, die die Urkunde stumm durch ihre Reihen wandern ließen und sie wahlweise Wort für Wort studierten oder nicht eines Blickes würdigten.
„Den Tribut des Hauses Vîbor wird unser neuer Konsul in Cooh, Veris de Jooru, mit einer eskortierten Karawane nach Yara entsenden“, fügte der brünette Jüngling noch an, dann gesellte er sich wieder zu seinem Anführer, der sich etwas zurückgezogen hatte, am Rande des Podestes lehnte und missmutig das Gesicht verzog. So, wie er Yo Valkja kannte, war diesem die Anbiederung Inor Kívíakos schlicht zuwider. Dabei sollte er dem Jungen dankbar sein, schließlich blieb ihm selbst eben dieses dadurch erspart.
„Gut, gut. Ich denke, damit sind alle Zweifel an Eurem Bericht beseitigt. Meine Herren?“, wandte der Ehrenwerte Aanh sich erneut an die Weisen und kam nicht umhin, einige von ihnen mit einem besonders intensivem Blick zu bedenken.
„Selbstredend, ehrenwerter Vorsitzender“, ergriff Richter Llangmuth das Wort, bevor Graf Pokinoi, der bereits zum Widerspruch ansetzte, antworten konnte. „Wir haben nie am Sieg General Valkjas gezweifelt. Wir wollten nur sicherstellen, dass dem Protokoll und den diplomatischen Gepflogenheiten genüge getan wird.“
Der Vorsitzende kannte den barhäuptigen Mann und seine Überzeugungen. Ehre, wem Ehre gebührt, und Strafe, wem Strafe ziemt, ganz gleich welcher Rasse, welchem Volk oder welchem Stand er angehörig war, und die eigenen Befindlichkeiten außen vorlassend. Nach diesem Leitsatz pflegte Randolph Fryo Stanis Llangmuth nicht nur im Tribunal zu urteilen, sondern von jeher auch im Ältestenrat zu wirken. Einige Male schon hatte der Richter ob des schwierigen Charakters Yos Valkjas, der ihm persönlich durchaus missfiel, ein intensives Gespräch mit dem Ehrenwerten Aanh geführt, sich im Gremium jedoch stets objektiv verhalten. Eine List sah diesem hochverdienten Mann keineswegs ähnlich, doch sein Gefühl sagte dem Ratsvorsteher, dass der Älteste soeben eine solche vorbereitete.
„Wenn Ihr gestattet, Ehrenwerter Aanh, es gibt da etwas, das mich brennend interessiert“, wandte der Barhäuptige sich an ihn. Nickend erteilte er seinem Ratsbruder die Erlaubnis, fortzufahren, und der Richter erhob sich. „Mir ist zu Ohren gekommen, General, dass Ihr im Besitz eines Schwertes seid.“ Langsam beugte er sich weit nach vorn, suchte den Blick des bleichen Mannes zu fassen und fuhr mit beherrschten Gesichtszügen fort: „Eines ganz bestimmten Schwertes!“
Fragend zog der Anführer des Roten Mondes die Augenbrauen hoch und auch die anderen Weisen horchten augenblicklich auf. Die Stimme des Richters klang geheimnisvoll, provokant und wenn man wollte, konnte man durchaus einen spitzen, streitbaren Unterton heraushören. Neugierig blickten die übrigen Ältesten daher nach unten, in ihre Mitte oder zu dem Ehrenwerten Aanh. Unwissenheit vortäuschend hob er die Hände, obgleich er sich wissend dünkte, auf welche Waffe der Richter abzielte.
„Ich habe keine Ahnung, worauf …“, hob Yo Valkja zu sprechen an, doch noch bevor er den Satz beenden konnte, versetzte Inor Kívíako ihm mit dem Ellenbogen einen leichten Stoß in die Seite.
Dann ging der Jüngling festen Schrittes zur Saaltür und hob etwas, das er offenbar bei seinem Eintritt unbemerkt dort postiert hatte, vom Boden.
„Ihr seid gut informiert, ehrenwerter Richter.“
Mit bedeutungsvollem Grinsen warf er sich einen länglichen Beutel über die Schulter, eilte zurück und ging demonstrativ vor seinem Anführer in die Knie. Mit gesenktem Haupt bot er diesem den grün schimmernden Sack aus edlem Samt untertänig dar.
„Ich habe mir erlaubt, es sicher für Euch zu verwahren, Meister.“
Yo Valkja legte die Stirn in Falten und zögerte. Dann jedoch atmete er geräuschvoll aus, griff beherzt in den Beutel hinein und schlagartig verzog ein triumphierendes Lächeln seine Mundwinkel.