Nur eine Handbreit vor seiner Nase prallte die bleiche Faust jedoch unverhofft in die hohle Hand des Sibulek und Yos Schlag verpuffte mit einem Klatschen. Leise atmete Cay auf und war zu erleichtert über Crus Auftauchen, um sich mit der Frage, wo dieser so plötzlich herkam und wie er es geschafft hatte, sich ihnen jenseits seiner Wahrnehmung zu nähern, aufzuhalten. Das verfluchte Spitzohr hatte ihn eiskalt erwischt, er hatte Yos Schlag keinen Wimpernschlag kommen sehen. Nicht auszudenken, was dieser Volltreffer angerichtet hätte.
„Wie oft willst du dich noch von Cay provozieren lassen, hm?“
Sanft und fast schon liebevoll rief die dunkle Stimme des zweiten Heermeisters den Anführer des Roten Mondes mit neckendem Unterton zur Ordnung. Dieser war in der Bewegung erstarrt und stierte den lächelnden Sibulek wohl ebenso ungläubig an wie Cay vormals das unaufhaltsame bleiche Geschoss. Das Erstaunen stand seinem Rivalen mitten ins Gesicht geschrieben und es dauerte einen Augenblick, bevor der Bleichling schüchtern, um nicht zu sagen fast entschuldigend, zurücklächelte.
‚Wenn das mal kein eindeutiges Zeichen ist‘, dachte der Erste General wieder gefasst und grinste vielsagend.
Einen Wimpernschlag später gewahrte Yo dessen noch immer in der Hand des Sibulek ruhende Faust und die milden Gesichtszüge des Spitzohrs erstarben. Ruckartig zog er die Hand zurück, kehrte Cru und Cay den Rücken und steckte die Hände tief in die Hosentaschen. Ganz wie ein Frischling, der mit einer Dirne erwischt wurde. Der Erste General kicherte leise und auch der Sibulek schmunzelte.
„GENERAL VALKJA!“
Wie von einem Blitz getroffen fuhr Cay zusammen und auch die anderen beiden Heerführer zuckten merklich auf. Erst jetzt bemerkte der Anführer der Grünen Nebel, dass nicht nur Inor an die Seite seines Meisters zurückgekehrt, sondern auch dessen Bruder, Forso Kívíako, der Adjutant des Sibulek, zu ihnen gestoßen war.
„Ihr habt einen Atemzug Zeit, Euch zu meinen Füßen einzufinden!“
Die dunkle, gebieterische Stimme des Ratsvorsitzenden, der es irgendwie geschafft hatte, die Neun Weisen wieder zu beruhigen, nahm nicht nur eine beängstigende Lautstärke, sondern auch eine bedrohliche Tiefe an und flößte allen Anwesenden sichtbar Respekt, in gewisser Weise sogar Angst ein.
Wie ein getretener Hund trottete der Gerufene widerwillig, doch umgehend nach vorn zum Rat. Auf halbem Wege ging ein kurzer Ruck durch Yos Körper und dieser drückte das Rückgrat durch. Hatte sein Kontrahent gegen Ende ihrer kurzen Unterredung noch verwirrt oder gar ängstlich gewirkt, war sein Blick nun gefasst, man konnte fast sagen trotzig. Erstaunlich, wie schnell der Blässling sich wieder gefangen hatte.
Mit hochrotem Kopf stand der Ehrenwerte Aahn aufrecht in seiner Kanzel, stemmte die Hände in die stattlichen Hüften und machte seinem Unmut ungeachtet der anderen Anwesenden nun ungehalten Luft.
„General Valkja, ich bin zutiefst enttäuscht und erschüttert ob Eures Verhaltens. Eure Aufsässigkeit so schamlos zur Schau zu stellen und das hehre Zeremoniell zu sprengen, ist an Frechheit kaum zu überbieten. Was, in des Hohen Vaters Namen, ist in Euch gefahren? Mir scheint, Ihr habt bei all den Schlachten einige Schläge zu viel auf den Kopf bekommen! Ich erwarte eine angemessene Entschuldigung sowie eine schriftliche Stellungnahme Eurerseits.“
Cay war bass erstaunt und insgeheim erheitert. Solch harte, fast schon spottende Worte hatte er noch selten aus des Ehrenwerten Aanhs Mund vernommen. Das Spitzohr musste es wirklich ordentlich übertrieben haben, wenn der ihm wohlgesonnene Ratssprecher es derart zurechtstutze.
„Ich war noch nicht fertig, General!“, polterte der Vorsitzende, als Yo wie üblich geräuschvoll durch die Nase ausatmete und die Augen verdrehte. „Ihr werdet einen offiziellen Bericht anfertigen, in dem Ihr Euch erklärt, Euch für sämtliche Euch zur Last gelegten Frevel verantwortet und die gebotene Abbitte leistet! Anderenfalls sehe ich mich zu Sanktionen gezwungen, die keinem Mann Eures Ranges zu Ruhm und Ehre gereichen.“
Dieses Mal blieb der Widerspruch seines Rivalen aus, was Cay durchaus überraschte. Einsicht war keine von Yos Stärken. Doch offenbar hatte selbst der renitente Bleichling erkannt, dass es der Ehrenwerte Aanh todernst meinte. Zudem befand der Ratsvorsitzende sich in einer Position, die es diesem nicht nur erlaubte, Yos Stolz deutlich mehr anzukratzen als dessen Niederlage im Zweikampf mit Cru, sondern auch dem Heermeister ernsthaft zu schaden. Ein Versuch, auf den es sein Lieblingsfeind augenscheinlich nicht ankommen lassen wollte. Yo schien wohl doch ein Mindestmaß an Vernunft zu besitzen.
„Ich erwarte Euren Rapport bis morgen Abend! Noch vor Sonnenuntergang liegt das Dokument auf meinem Tisch!“
Stille beherrschte den Saal, als die dröhnende Stimme des Vorsprechers verklungen war. Kein Räuspern, kein Scharren, nichts. Man hätte eine Nadel fallen hören können.
Nach einer kurzen Pause fügte der Ehrenwerte Aanh mit Nachdruck hinzu: „Ich hoffe, Euch ist klar, dass die Bemessung Eures Strafmaßes und damit auch Euer leibliches Wohlergehen maßgeblich von diesem Bericht abhängen, General Valkja!“
Der Anführer des Roten Mondes nickte gezwungenermaßen und sein mürrisches Knurren war mehr zu erahnen, denn zu hören. Doch dem Vorsitzenden genügte solch eine lapidare Geste dieses Mal offenbar nicht.
„Ob das klar ist?“, fragte er mit gefährlicher Vibration in der Stimme nach.
„Ja. Ihr kriegt euren ...“ Der Dritte General schnaubte verdrießlich und knirschte mit den Zähnen. Er konnte wohl einfach nicht aus seiner Haut. „… Bericht.“
Cay schmunzelte. Der Blässling hatte sich ein abfälliges Wort nur um Haaresbreite verkneifen können. Doch noch etwas Anderes ließ ihn verstohlen grinsen. Allein der Gedanke, wie sein erklärter Lieblingsfeind sich des Rates wegen die ganze Nacht um die Ohren schlagen und seine Zeit dann auch noch mit etwas in dessen Augen so Nutz- und Wertlosem wie einem Bericht vergeuden musste, erheiterte ihn. Vielleicht sollte er Yo heute Abend einen kurzen Besuch abstatten und ihn ein wenig aufmuntern.
„Der Rat gedenkt, abweichend vom Protokoll eine kleine Pause einzulegen und sich bis zur Ernennung des Obersten Generals zurückzuziehen. Es ist sicher für alle Beteiligten von Vorteil, sich einen Moment von der anstrengenden Berichterstattung zu erholen.“
Mit diesen Worten erhob der Ehrenwerte Aanh sich und beendete das Drama. Mit einem ermahnenden Blick entließ er das Silberhaar aus seiner Aufmerksamkeit und auch die Neun Weisen erhoben sich mühselig von ihren Plätzen. Murmelnd und brummend, doch mit dem Ausdruck von Genugtuung und Befriedigung auf den Gesichtern, verließen sie den Saal. Einzig Baron zu Feuerborn und Liebstein und Graf Pokinoi blickten missvergnügt drein und steckten beim Gehen bereits wieder die Köpfe zusammen. Wieder grinste Cay. Er kannte kein intriganteres Pärchen am Hofe als diese beiden alten Herren. An denen bissen sich selbst Schwarze Witwenmacherinnen ihre Giftzähne aus.
„Endlich“, vernahm er das leichte Schnaufen seines Erzrivalen, der den Kopf weit in den Nacken legte und die Augen zusammenkniff. Geräuschvoll atmete das Spitzohr einmal tief aus und massierte seine Schläfen mit den Zeige- und Mittelfingern. Peinvoll verzog er das Gesicht, das kurz von einem Geistesblitz erhellt wurde, bevor es eine noch leidendere Miene annahm. Wie es aussah, hatte der Bleichling eben die volle Tragweite dessen, was von ihm erwartet wurde, begriffen. Und dass er dem mit seinen lausigen rhetorischen Fähigkeiten und seiner wenig wohlgefälligen Art nicht ansatzweise gewachsen war.
Unvermittelt wandte der dritte Heermeister den Kopf in seine Richtung, die rechte Hand noch an der Schläfe. Die Augen seines Rivalen suchten den Sibulek und Entschlossenheit flammte in ihnen auf. In dem Moment, da Yos Blick den seinen kreuzte, erstarb die Flamme jedoch und der Blässling wandte sich ebenso ruckartig, wie er sich umgedreht hatte, wieder ab. Die Hände zu Fäusten geballt starrte der Anführer des Roten Mondes auf die Balustrade der niederen Empore und wirkte seltsam unentschlossen.
‚Wer hätte gedacht, dass dieser Tag so unterhaltsam wird?‘, dachte Cay und seine Lippen kräuselten sich erneut.
Er kannte Yo. Vielleicht nicht so gut wie dessen sich auffallend unauffällig verhaltender Partner oder die beiden in ein Gespräch verstrickten Jungspunde, aber doch gut genug, um zu wissen, dass der Bleichling am liebsten in seine Kammer flüchten und seine Fäuste mindestens eine Sanduhr lang gegen die Backsteinwand hämmern wollte. Oder aber seiner angestauten Wut draußen im Arboloro, wo er ungestraft alles zerlegen und zu Kleinholz verarbeiten konnte, ungeniert freien Lauf lassen.“ Was seinen Kontrahenten allerdings davon ab- und diesen hier hielt, war dem Ersten General schleierhaft.
Ein höhnisches, tonloses Lachen verzog die Miene des bleichen Heerführers und dieser sah zur Decke auf.
‚Gedankenlesen müsste man können‘, dachte der Anführer der Grünen Nebel, als Yo den Kopf schüttelte und dabei ehrlich fassungslos wirkte.
Ein Kribbeln erwuchs hinter Cays rechtem Ohr und er spürte, wie die Neugier ihn packte. Sein Lieblingsfeind wirkte wieder so unsicher und durcheinander wie kurz vor dem beinahe erfolgreichen Schlag. Wie angewurzelt verharrte das Spitzohr an Ort und Stelle, starrte angestrengt auf irgendeinen Punkt in der Balustrade, hielt die Arme fest vor der Brust verschränkt und hatte ihnen demonstrativ den Rücken zugewandt. Alles an dem dritten Heermeister vermittelte klar und deutlich, dass sie auf Abstand bleiben und sich ihm bloß nicht nähern sollten. Eine Botschaft, die augenscheinlich vor allem einem galt: Cru.
Und dieser nahm sie unwidersprochen hin. Ebenfalls die Arme vor der breiten Brust verschränkt lehnte der Zweite General gegen eine der massiven Marmorsäulen und wartete ab. Ungewöhnlich für das blaue Langohr, das sonst jede angespannte Situation schnellstmöglich zu entspannen suchte. Forschend maß Cay auch den Sibulek mit Blicken, konnte aber keine offensichtlichen Anzeichen eines Zweikampfes entdecken. Lediglich die blaue Hautfarbe des zweiten Heerführers schien etwas heller zu sein als sonst und die glanzlosen Augen blickten müde drein. Außerdem wirkte er seltsam verkrampft. Dann fiel Cay die Körperhaltung des Sibulek auf. Offenbar lehnte dieser nicht einfach nur an der Säule, sie schien ihn vielmehr zu stützen. Das Langohr musste also ebenfalls einiges abbekommen haben, obgleich es offenbar verstanden hatte, verräterische Spuren sorgfältig unter seiner Ratskleidung zu verbergen. Cay schmunzelte amüsiert. Man konnte den Anschein gewinnen, die beiden Schwertbrüder hätten sich nicht nur aus einer Laune heraus geprügelt, sondern waren in einen ernsthaften Streit geraten, hatten vielleicht sogar zu ihren Waffen gegriffen. Ob das der Grund dafür war, dass Cru ebenso wenig Yos Gesellschaft suchte, wie dieser sie wollte?
Erneut fragte der Anführer der Grünen Nebel sich, wie man so kampfeslustig oder eben auch dämlich sein konnte, sich noch am Abend der Rückkehr aus einem kräfte- und nervenzehrenden Krieg bei der erstbesten Gelegenheit mit einem ebenbürtigen Gegner anzulegen. Noch dazu mit dem eigenen, angeblich besten Freund und Gefährten. Ein Gedanke, der einfach nicht in seinen Kopf wollte. Noch dazu, da ihm kein annähernd plausibler Grund dafür einfallen wollte. Abgesehen von der Tatsache, dass der Blässling gemeinhin keinen besonderen Anlass brauchte, um gewalttätig zu werden.
Misstrauisch blickte Cay immer wieder zwischen den beiden anderen Heermeistern hin und her, da fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Cru stand genau in Yos Fluchtweg! Das also hielt ihn hier. Wollte er aus dem Saal fliehen, musste der Anführer des Roten Mondes entweder direkt an dem Sibulek vorbei oder sich die Blöße geben und einen riesigen Bogen um diesen herumlaufen, um zur Saaltür zu gelangen. Und offenbar brachte der Stolz des Bleichlings keines von beidem fertig. Daher die hilflose Reaktion vorhin. Cay musste sich sehr am Riemen reißen, um nicht laut aufzulachen, und kam daher nicht umhin, dem zweiten Heermeister ein breites Grinsen zu schenken, als dieser nun seinerseits skeptisch zu ihm blickte.
In diesem Augenblick betrat Myu Sansa mit Yos Ratskleidung auf den Armen den Saal. Mit schwer geschafftem Gesichtsausdruck steuerte sie auf den Dritten General zu und wurde mit jedem Schritt, den sie näherkam, langsamer. Es war allseits bekannt, dass Yo seine Ehrenkleidung hasste und jedes Mal einen Tobsuchtsanfall bekam, wenn er gezwungen war, sie zu tragen. Das Spitzohr hatte eben weder Geschmack noch Stil. Der Gesichtsausdruck der Ratsbotin nahm ängstliche Züge an und ihr war anzusehen, dass sie die Begegnung mit dem Heermeister scheute. Verständlich, nachdem wie dieser mit dem jungen Ding umsprang. Die Schrammen ihres letzten Aufeinandertreffens prangten noch rot und wund in ihrem zarten Gesicht.
In dem Augenblick, da sie Cru passierte, nahm dieser Myu die Sachen ohne Erklärung ab und hielt festen Schrittes direkt auf den dritten Heerführer zu. Dankbar unterließ das Mädchen jeden Protest und ihre Mimik entspannte sich. Dann zog sie sich schleunigst aus der Gefahrenzone zurück und verschwand aus Cays Wahrnehmung.
„Hey!“, begrüßte der Sibulek dessen Gefährten lächelnd und schlug ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter.
Als hätte man ihn mit einem Pfeil durchbohrt, zuckte Yo daraufhin heftig zusammen und starrte das blaue Langohr an wie einen Wiedergänger.
„Hier!“, drückte Cru ihm das Kleiderbündel in die Hände und warf Cay dabei einen verstohlenen Seitenblick zu.
Was sollte das jetzt werden? Es war offensichtlich, dass die unbekümmerte Fröhlichkeit des Sibulek vorgeschützt war. Wen also wollte der Sibulek mit dieser lausigen Maskerade täuschen?
Wortlos starrte sein Rivale das Kleiderbündel in den blauen Händen an und legte die bleiche Stirn in Falten. Cay tat es ihm gleich, als sich die Lippen des Zweiten Generals bewegten, ohne dass er dessen Worte vernahm. Die Antwort des Spitzohrs hörte er dafür umso besser und sprach für sich.
„Was?“, fragte der Dritte General verdutzt, er mochte fast glauben mit leicht banger Stimme, und machte den Anschein, sich zu ihm drehen zu wollen.
Mit einem festen Griff an den Oberarm verhinderte Cru dies und raunte seinem Freund erneut etwas zu. „Besser, du bist ordentlich angezogen, wenn die Weisen mit ihrer Pause fertig sind“, sprach der Sibulek nun laut genug, dass der erste Heermeister ihn ohne große Anstrengung verstand, was er vermutlich auch sollte. „Sonst wirft dich der Ehrenwerte Aanh zu guter Letzt doch noch raus und du erlebst die Ernennung des Obersten Generals vom Kerker aus. Und diese Genugtuung wollen wir Cay doch nicht gönnen. Oder?“
Verärgert ließ der Anführer der Grünen Nebel die Luft aus einem Mundwinkel entweichen. So einen dämlichen Kommentar hätte das Langohr sich sparen können. Wenngleich er sich ziemlich sicher war, dass er nicht wirklich ihm gegolten hatte, sondern vielmehr den Stolz seines Kontrahenten kitzeln sollte. Was er augenscheinlich auch tat.
Peinlich berührt blickte das Silberhaar an sich herunter, richtete mit wenigen Handgriffen das falsch geknöpfte und darum schiefhängende, ihm ohnehin viel zu große Hemd, zog es glatt und stopfte es dann wieder in die Hose zurück. Ohne weitere Aufforderung griff er auch nach der weinroten und mit silbernem Garn durchsetzten Brokatweste mit eingelassenen schwarzen Samttaschen und schlüpfte hinein. Zu Yos Glück verdeckte sie die blauen Blutspritzer auf dem ansonsten strahlend weißen Hemd. Dann schlug sein Rivale die Manschetten der Hemdsärmel herunter und schloss sie an den Silberknöpfen, die im Gegensatz zu denen an der Ratskleidung glänzten und offenbar poliert waren. Nicht verwunderlich, wenn man bedachte, dass Yo des Sibulek Hemd trug.
„Schon besser“, lächelte Cru zufrieden und hielt seinem Gefährten die taillierte schwarze Samtjacke, die er und Cay ebenfalls trugen, hin.
Der sehr figurbetonte Schnitt der Jacke, deren Saum sich ebenso wie die Stickereien und das große Emblem des dritten Generalheeres auf dem Rücken silbern abhob, war äußerst elegant und bei Yo daher auch dementsprechend unbeliebt. Mürrisch knurrte der Bleichling bei ihrem Anblick und fuhr nur widerwillig hinein. Frustriert stellte Cay fest, dass Yos Verhalten wieder zu Normalität gefunden hatte. Beleidigt verzog er das Gesicht. Er hatte sich eine andere Reaktion erhofft.
Gedämpftes Gelächter durchbrach die Stille des Saales und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Adjutanten des zweiten und dritten Heeres. Der jüngere der beiden, Forso, hatte die Pause offenbar dazu genutzt, sich über alle verpassten Ereignisse aufklären zu lassen. Cay rümpfte die Nase. Der Blondschopf war neugieriger als ein Waschweib und redseliger als ein Zechbruder. Ganz zu schweigen von dieser aufdringlich freundlichen Art. Wie ein Grünschnabel wie der es in den Rang eines Vizegenerals geschafft hatte, war ihm ein Rätsel. Aber wer seine Mannen einem bleichen, spitzohrigen Fremdling mit der Loyalität eines Opportunisten und dem Benehmen eines Wildeburs anvertraute, der setzte eben auch einen naiven Frischling, der in zwielichtigen Gassen Acht geben musste, dass man ihn nicht für eine blutjunge Dirne hielt, an die Spitze eines Heeres.
Mit einem Mal lachte der Blondschopf laut auf. Zwar schlug er sich noch im selben Moment die Hand vor den Mund und sein älterer Bruder maßregelte ihn sogleich, dennoch war das kindische Gekicher in der Stille des Raumes ungebührlich laut zu vernehmen. Für einen kurzen Moment knirschte Cay mit den Zähnen, dann stieß er den Atem durch die Nase aus und wandte sich mit einer abfälligen Geste ab. Sollten die Jünglinge sich doch wie Blagen benehmen. Der Apfel fiel eben nicht weit vom Stamm und das schien auch für benachbarte Bäume zu gelten.
Da er kein gesteigertes Interesse verspürte, sich weiter über das unschickliche Verhalten der Adjutanten aufzuregen, warf der Anführer der Grünen Nebel einen kurzen Seitenblick auf seinen eigenen Stellvertreter, der irgendwann in der Zwischenzeit die Ratshalle betreten hatte. Für den Bruchteil eines Wimpernschlages fiel Cay peinlich berührt ein, dass er ganz vergessen hatte, seine rechte Hand nachzuholen.
‚Was soll’s?‘, dachte Cay schulterzuckend und ignorierte die vorwurfsvollen Blicke, die der zwischen den Säulen herumtigernde Mann ihm verstohlen zuwarf. Vito sollte sich nicht so anstellen. Er war kein Kind, das er an die Hand nehmen, und erst recht keine Dame, auf deren Befindlichkeiten er Rücksicht nehmen musste. Wenn es seinen Adjutanten wurmte, dass er ihn vor dem Saal hatte warten lassen, während die beiden kindischen Jungspunde Seite an Seite mit ihren Anführern vor die Alten getreten waren, dann war das nicht sein Problem. Genervt verdrehte Cay die Augen und schnaubte. Er hatte Vitos unbegründete und absolut nicht nachvollziehbare Minderwertigkeitskomplexe den Jungen gegenüber in den letzten drei Wintern komplett vergessen, doch augenscheinlich brachen sie nun wieder auf. Und alles nur, weil er im Gegensatz zu den anderen beiden Heerführern einen professionellen Umgang mit seinem Stellvertreter pflegte. Manchmal war Vito seiner bulligen Gestalt zum Trotz weniger Mann als Memme.
Aber gut, polierte er das Selbstbewusstsein seines Adjutanten mal etwas auf. Mit einem dezenten Wink beorderte er Viktus Vito Innozenz IV. von Honstein, Salzau und Mora, wie seine rechte Hand mit vollem Namen hieß, zu sich und dieser folgte umgehend. Mit einem Schmunzeln verfolgte Cay, wie der mürrische Glatzkopf den Älteren der beiden Jungen im Vorbeigehen anrempelte. Wenn das mal keine Absicht gewesen war. Entrüstet über sein vorgebliches Versehen blickten die Brüder Vito nach und bedachten auch den Ersten General mit einem vorwurfsvollen Blick. Sich keiner Schuld bewusst, hob Cay die Hände und wandte sich dann seinem Adjutanten zu, den er am liebsten umgehend hier raus und in eine Barbierstube gezerrt hätte.
„Hatte ich nicht ausdrücklich gesagt, dass ich ein gepflegtes Erscheinungsbild wünsche?“, fuhr er Vito mit gesenkter Stimme an und rümpfte beim Anblick des ungepflegten Stoppelbartes die Nase.
„Aber ich“, setzte sein Adjutant zu einer Ausflucht an, sah irritiert an sich herunter und setzte eine Nachsicht heischende Miene auf.
Cay schüttelte den Kopf und brach die Rede seines Gegenübers, der augenscheinlich deutlicherer Worte bedurfte, um seinen Fehltritt zu erkennen, mit einer verächtlichen Handbewegung ab. „Erspar es mir“, grollte er. „Heute Abend bist du rasiert und tadellos aufgemacht oder es setzt etwas!“
Gerade wollte er noch etwas anfügen, da sah er, wie im Hintergrund Forso eine leichte Backpfeife von Inor erntete und letzterer den Zeigefinger auf die Lippen legte. Als hätten sie konspirative Geheimnisse zu verbergen, schielten die beiden Adjutanten erst zu ihm herüber und dann zu den beiden anderen Heermeistern. Zum zweiten Mal am heutigen Tage wünschte Cay sich, er könnte Gedanken lesen. Ein belustigtes, beinahe schadenfrohes Grinsen schlich sich in Inors Gesicht und als er des Braunhaarigen Blick folgte, verstand er wieso.
Das bleiche Spitzohr hatte es doch tatsächlich geschafft, in die Ratskleidung zu schlüpfen. Unwillkürlich legte Cay den Kopf leicht schief. Er gab es nur äußerst ungern zu, doch abgesehen von diesem angewiderten Gesichtsausdruck, der den Eindruck vermittelte, man hätte Yo bis zum Hals in ein Fass voller Giftspinnen, Skorpionen, Schlangen und sonstigem Viehzeug gesteckt, machte sein Intimfeind durchaus etwas her, wenn er erst einmal gebührlich gekleidet war. Yo als adrett oder gar gutaussehend zu bezeichnen, ließ sein Selbstwertgefühl allerdings nicht zu. Diese Attribute gebührten einzig ihm selbst.
Als der Anführer des Roten Mondes den schweren Gürtel umlegte und die Insignienkette an der Jacke befestigte, trat der Sibulek mit zufriedenem Lächeln einen Schritt zurück, doch als der Blässling den Kragen des Hemdes umschlug, klappte Cru ihn im Bruchteil eines Wimpernschlages sofort wieder hoch.
„Hey!“, protestierte der Dritte General überrascht, doch der strenge Blick des Langohrs ließ ihn augenblicklich verstummen.
Mit einem Mal war Cay wieder hellwach und verengte die Augen. Er hatte den blauvioletten und blutunterlaufenen Fleck auf dem bleichen Hals seines Rivalen deutlich gesehen. Einen Wimpernschlag kurz nur, doch lang genug, um misstrauisch zu werden. Kurz überlegte er, warum er ihm nicht schon früher, als er Yo ganz nah umrumdet hatte, ins Auge gefallen war, doch dann entsann er sich, dass sein Rivale den Hemdskragen die ganze Zeit über hochgeklappt hatte. Und nun wusste er auch warum. Er an Yos Stelle hätte dasselbe getan.
Nach einer Wunde, die man sich im Kampf zuzog, hatte der Fleck nicht ausgesehen. Noch dazu legte sich just in diesem Moment, da der Sibulek Yo verstohlen an eben jener Blessur berührte, erneut dieser bläuliche Hauch auf die fahlen Wangen des Spitzohrs und es blickte zag auf die Füße. Wie vordem bei seinem kleinen Verhör nestelte der dritte Heermeister zudem an einer Manschette herum. Wieder spürte Cay dieses Zwicken hinter dem rechten Ohr und strich mit der Schulter leicht über die Stelle. Da steckte eindeutig mehr dahinter, als eine simple Verletzung oder Niederlage Yos im Zweikampf. Der Anführer der Grünen Nebel kannte die verräterischen Zeichen ungezügelter Lust nur zu gut und er wollte verdammt sein, wenn dieser Bluterguss nicht durch hungrige Lippen verursacht worden war.
Allmählich kam Licht ins Dunkel. Die beiden anderen Heermeister hatten die Nacht in Crus Kammer offenbar nicht allein, sondern in Begleitung einer oder mehrerer Damen verbracht und ungestüme Stunden der Leidenschaft verlebt. Ganz wie er, bis er so rüde unterbrochen worden war. Zwar hatte das bleiche Spitzohr seines Wissens bisher nie Interesse an der holden Damenwelt bekundet, doch wenn man dem Gerede der Männer Glauben schenken konnte, war dessen Schwertbruder in den letzten drei Wintern kaum keuscher gewesen als er selbst. Was lag da näher, als anzunehmen, dass ein weibliches Geschöpf oder deren zwei der Grund für den anschließenden Gewaltausbruch gewesen war? Eifersucht machte bekanntlich vor Freundschaft keinen Halt und schon so mancher Mann hatte seinem besten Freund um einer Liebschaft Willen den Schädel eingeschlagen. Zufrieden nickte der Erste General ob seiner plausiblen Theorie.
Mit einem Grunzlaut strich der Anführer des Roten Mondes sich derweil durch die silbernen Haare und riss dem Sibulek das rot schimmernde Stirnband, welches bekanntermaßen des Spitzohrs mit Abstand meistgehasstes Stück der Ratskleidung darstellte, aus der Hand, zog selbiges am Hinterkopf fest und zupfte anschließend seinen Haarschnitt wieder in Form. Kopfschüttelnd und mit wachsendem Unglauben verfolgte Cay das als schlechtes Laientheater durchgehende Schauspiel und spürte, wie sich seine Erheiterung immer deutlicher in seinem Gesicht abzeichnete. Der Bleichling benahm sich allen Ernstes wie ein dummer, blutjunger Knabe, für den er ihn aller Abneigung zum Trotz nie gehalten hatte.
„Und? Ist das jetzt genehm so?“, brummte Yo hörbar, stützte die Hände in die Hüften und legte die Stirn in Falten.
Zufrieden betrachtete der Sibulek den Dritten General und lächelte.
„Ja, du siehst klasse aus“, nickte er bestätigend. Mit einem Seitenblick und einer weiteren Spitze in seine Richtung fügte das Langohr grinsend an: „Fast so schick wie Cay.“
Wütend schnaubte das Silberhaar aus und sah mit zusammengekniffenen Augen zu ihm herüber, bevor es sich demonstrativ noch einmal ordentlich durch den Schopf wuschelte, um sicherzustellen, dass dem auch ja nicht so war. Der kindlichen Reaktion seines Kontrahenten folgte verhaltenes Gelächter und auch Cay konnte sich ein wohlmeinendes Lachen nicht verkneifen. Lediglich Vito blickte so sauertöpfisch wie bisher in die Runde, was ihn nicht weiter verwunderte, denn sein Adjutant hatte wenig Sinn für den kleinen Privatkrieg, den er von Beginn an gegen Yos führte.
Schmunzelnd betrachtete der erste Heermeister seinen Lieblingsfeind. Es war Hassliebe auf den ersten Blick gewesen und trotz aller Animosität mochte er den bleichen Wüterich nicht missen. Was würde er nur ohne ihn machen? Sich gnadenlos langweilen und verzweifelt nach einem ihm ebenbürtigen Gegner suchen vermutlich. Oder aber längst am Ziel seiner Wünsche angekommen und der ranghöchste Krieger Lanois sein.
Für einen Moment schien es Cay, als wäre die Anspannung, die sich lautlos zwischen allen Anwesenden aufgebaut hatte, ein gutes Stück verflogen, da öffnete sich knarrend eine kleine Nebentür des Ratssaales am Fuße der Empore. Verwundert warf er einen Blick aus einem der riesigen Fenster der Halle, nur um festzustellen, dass die Sonne ein ganzes Stück nach rechts gewandert war und tiefer stand.
Bedächtigen Schrittes trat der Ehrenwerte Aanh ein und nahm auf seinem Wege zu Kanzel die Verwandlung des Dritten Generals mit einem zufriedenen Nicken zur Kenntnis. Die Neun Weisen folgten ihm auf dem Fuß. Vertieft in angeregtes Plaudern nahmen alle in Seelenruhe Platz. Kein böser Blick, kein wütendes Wort, nicht eine Zornesfalte in den entspannten Gesichtern verriet, dass eben dieselben alten Herren noch vor Kurzem völlig außer sich gewesen waren und den Anführer des Roten Mondes beinahe an Ort und Stelle geteert und gefedert hatten. Selbst Graf Pokinoi und der Baron zu Feuerborn und Liebstein schienen ihren Groll gegen den Blässling völlig vergessen zu haben und waren in ein offenbar erheiterndes Gespräch verstrickt.
Ein Umstand, der nicht nur Cay, sondern auch die beiden anderen Heerführer sowie deren Stellvertreter verwunderte, wenn er die Blicke der Umstehenden richtig deutete. Und ein Zeichen, das ein gewisses Unbehagen in ihm schürte. Pflichtgetreu eilten nun auch die beiden Jungen an die Seite ihres jeweiligen Anführers und in Zweiergrüppchen nahmen alle Generäle in gebührendem Abstand von etwa dreißig Mannslängen vor der Empore Aufstellung: er und Vito rechts vor dem Rat, Cru und Forso in der Mitte und Yo mit Inor links außen. Gespannt wartete der Anführer der Grünen Nebel, ob nicht doch noch eine Standpauke für seinen Kontrahenten hinterherkam, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen verkündete der Vorsitzende, man werde in Kürze das wartende Volk einlassen.
Ein Satz, der Cay hätte froh stimmen sollen, ihn stattdessen aber in Alarmbereitschaft versetzte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er wusste nicht, was es war, aber er verspürte wieder dieses Kribbeln und Zwicken hinter dem Ohr, das ihn zuverlässig immer dann heimsuchte, wenn er einem Geheimnis oder einem Rätsel auf der Spur war. Dieses Mal jedoch auf der falschen Seite. Misstrauisch schielte er nach links. Dass der Rat entgegen jeder Vernunft so auffallend ruhig und gutgelaunt schien, bedeutete ihm nichts Gutes.
Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein kleiner Mann in Botenkleidung zwischen ihnen auf und marschierte allen protokollarischen Vorschriften zum Trotz an den Heerführern vorbei und wandte das Wort direkt an den Vorsitzenden des Rates.
„Ehrenwerter Aanh, ich bitte vielmals um Verzeihung“, erhob der Mann die zarte Stimme, die in der Größe der Ratshalle fast verloren ging, „aber ich bringe eilige Kunde von …“
Laut scheppernd ertönten die Fanfaren und Cay fuhr erschrocken zusammen. Auch die anderen Männer am Fuße der Empore zuckten überrascht auf, alle Köpfe flogen in Richtung der Saaltüren herum und das Murmeln der Ältesten auf den Rängen erstarb.