Am Kopf der Treppe zum dritten Geschoss des Westflügels stoppte Yo seinen energischen Lauf, lehnte sich rücklings in die Ecke zwischen dem mannshohen Pfosten und der sich anschließenden Brüstung, schloss schnaubend die Augen und wartete. Nur wenig später hörte er, wie ein Stockwerk tiefer eine helle Jungenstimme gutgemeinte Ratschläge erteilte und sich von einer ihm wohlbekannten Stimme verabschiedete. Gleich darauf schleppten sich langsame, schwere Schritte die Treppe hinauf und kamen immer näher. Oben angekommen verharrten sie auf der anderen Seite des Pfostens.
„Was willst du?“ Die tiefe Stimme klang müde und wenig freundlich.
„Eins höher.“
Ein leises, brummiges Lachen ertönte und Yo schlug die Augen auf. Die Finger der rechten Hand trommelten auf seinem linken Oberarm herum, seine Lippen kräuselten sich und er blickte den Sibulek mürrisch an.
„Du hast es versprochen.“
„So, habe ich das?“
Noch ehe Yo eine bissige Antwort an den Mann bringen konnte, huschte ein Schatten über die Augen seines Partners und dieser griff sich leise stöhnend an den Kopf. Sofort war er bei ihm, stützte Cru und schob ihn weiter zur Treppe ins oberste Stockwerk.
„Mach mir jetzt bloß nicht schlapp!“, knurrte er. „Komm schon, verdammt. Bis zu mir wirst du es wohl noch schaffen. Dort kannst du dann meinetwegen zusammenbrechen.“
„Meine Kammer ist näher“, entgegnete Cru matt und deutete den Gang entlang.
„Nein!“
Die Antwort war Yo schneller und harscher über die Lippen gekommen, als er beabsichtigt hatte. Doch allein der Gedanke, die Kammer seines Gefährten zu betreten, löste eine heftige, irrationale Beklemmung in ihm aus. Hoffentlich war Cru der panische Unterton in seiner Stimme entgangen. Nein, keinen Fuß setzte er mehr in dieses verfluchte Gemach! Lieber mühte er sich aus Leibeskräften, seinen Freund die letzten Stufen der Treppe hinauf und dann noch den endlos erscheinenden Gang bis zu seiner Kammer zu ziehen. Wobei es zerren besser traf, denn Crus Kräfte schwanden rapide.
„Yo, warte. Mir ist schwindelig“, murmelte sein Partner plötzlich, keine zehn Schritte vor dem Ziel.
„Gleich“, entgegnete der Dritte General ächzend. „Nur noch ein Stück. Komm schon, Langohr!“
Yo wusste, dass Cru es missfiel, wenn er ihn so nannte, und hoffentlich genügte das, um seinen Partner noch einige Augenblicke auf den Beinen zu halten. Ihn wie einen nassen Sack über den Boden schleifen zu müssen, wollte er sich nämlich ersparen.
„Verflucht noch eins, Cru, jetzt sei nicht so ein Schwächling!“ Die Worte kamen ihm nur noch gepresst über die Lippen. Den schweren Körper des Sibulek gegen seinen Rücken gelehnt trat er gegen die Tür zu seinem Gemach, die wie üblich klemmte. „Jetzt geh schon auf, verdammtes Ding!“
Beim dritten Tritt schwang sie endlich auf und er stolperte vom Gewicht seines Schwertbruders gedrückt in die Kammer. Sowie die schwere Tür ins Schloss zurückschlug, fiel auch der letzte Rest Anspannung von Cru ab. Ohne Vorwarnung sackte er einfach zu Boden und begrub Yo unter sich.
„Verflucht! Was soll das?“, brummte der Anführer des Roten Mondes, als er die Last seines Gefährten abgewälzt und sich wieder aufgerappelt hatte. Seine Schläfe schmerzte und Blut rann seine Wange hinab. `Super, noch so ein Volltreffer´, dachte er murrend.
„Los, hoch mit dir!“ Unsanft und mit einiger Mühe zerrte er seinen Freund vom Boden und zur Pritsche, die unweit der Kammertür stand. Dann schob er knurrend einen randvollen Wassereimer, den wohl irgendeine Magd frisch aufgefüllt hatte, vor die Holzbank. „Hier.“
Cru nahm drei große Schlucke daraus, dann legte er sich lang hin und schloss die Augen. Wortlos sah Yo ihn an und wartete auf irgendeine Reaktion seines Gefährten. Doch nichts geschah.
„Hey, schlafen kannst du unten“, knurrte er. „Du wolltest mir bei diesem verfluchten Bericht helfen. Schon vergessen?“ Keine Reaktion. Cru schien von Ohnmacht oder Schlaf übermannt worden zu sein. Was beides auf dasselbe hinauslief.
`Na, klasse. Und jetzt?´ Ratlos blickte Yo sich um und wusste nicht, was er nun anfangen sollte. Ein seltsamer, übelkeitserregender Duft stieg ihm in die Nase und er marschierte zum Fenster auf der Waldseite. Laut fluchend riss er die schweren Ledervorhänge zurück, um den widerlichen Blumenduft zu vertreiben. „Verdammtes Menschenpack!“
Es dauerte nicht lange, bis er sein frisch aufgeschütteltes Bett als Quelle des Gestankes ausmachte. Bloß gut, dass er es sowieso nie benutzte. Mit einem Grunzlaut schleuderte Yo die Jacke der verhassten Ratskleidung und allen zugehörigen Putz von sich und auf den Boden vor dem Kleiderschrank, dessen Kratzspuren auf dem Boden davon zeugten, mit welchem Körpereinsatz das Versteck seiner Uniform aufgedeckt worden war. Oder eher aufgebrochen, wie die kaputte Diele bewies. Mit Sicherheit hatte Myu dies nicht allein bewerkstelligt, sondern die Dienerschaft oder gar einige Krieger zu Hilfe geholt. Sich einen neuerlichen Fluch nur um Haaresbreite verkneifend knurrte Yo und liebäugelte für einen Moment mit dem verlockenden Gedanken, die verhassten Kleidungsstücke an Ort und Stelle anzuzünden. Doch die Gewissheit, welch nerventötende Scherereien mit dem Rat ihm dies wieder einbrockte, erstickte die Flammen dieses verheißungsvollen Gedankenspiels.
Gefrustet legte der bleiche Mann den Kopf in den Nacken und holte tief Luft. Dann umfasste er schnaubend seine Stiefel, schlüpfte hinaus, raffte das Kleiderbündel zusammen und warf es wild in den Schrank. Mit Schwung trat er die Flügeltür zu und sowie sie ins Schloss krachte, knallte Yo erst seinen Kopf und dann beide Fäuste gegen die Wand neben dem Möbelstück. In einem Urschrei entlud sich all die Anspannung der letzten Sanduhren.
„So ein verfluchter Mist! Diese elenden Hunde! Keinen Schritt alleine gehen, geschweige denn ein Schwert führen können, aber mich fertigmachen! Diese jämmerlichen Tattergreise! Verdammt, verdammt, verdammt!!!“
Unablässig schlug er dabei mit den Fäusten gegen die Steine und trat mit Beinen und Füßen auf sie ein. Blut spritzte aus seinen Knöcheln und das Leder seiner Beinkleider war an den Knien schon nach kurzer Zeit löchrig. Nachdem sich seine Verwünschungen zudem auch nur noch im Kreis drehten und seinem Zorn kein angemessenes Ventil mehr boten, feuerte er einen prasselnden Feuerball samt einem erneuten Wutschrei an die Mauer.
„Warum, verflucht, tue ich mir das eigentlich an?“
`Weil wir deinetwegen hier sind´, ertönte unvermittelt Crus Stimme.
„Danke, dass du mich daran erinnerst! Tritt ruhig noch nach! Es reicht ja nicht, dass diese …“ Yo fiel beim besten Willen keine passende Bezeichnung mehr ein. „ … verdammten Trottel mich den halben Tag beleidigt und herabgewürdigt haben. Verfluchter Mist! Manchmal frage ich mich wirklich, was wir hier noch verloren haben.“
`Sag du es mir.´
Die Stimme des Sibulek klang ruhig und ohne Vorwurf, reizte ihn aber wie eine Nadel, die ihm quälend langsam bis ins Mark gestochen und dann darin herumgedreht wurde.
„Ich sollte sie töten. Allesamt!“, antwortete er grollend. „Diesen greisen Haufen Dummheit und Arroganz einfach anzünden. Ein kleiner Fingerschnipp und sie würden endlich ihre verfluchten Schandmäuler halten. Alles wäre …“
`Umsonst.´
„Verdammt noch eins: Hör auf damit, Cru! Ich hasse das!!!“ Wutschnaubend fuhr Yo herum und seinen Freund unbeherrscht an, doch dieser lag regungslos mit geschlossenen Augen auf der Pritsche und die sonore Stimme des Sibulek hallte einzig in seinem Kopf. „Und sieh mich gefälligst an, wenn du mit mir redest!“
Mit dumpfem Knall prallte ein weiteres feuriges Geschoss nur wenige Fingerbreit über Crus Körper an die Wand und hinterließ einen Rußfleck so groß wie seine Armspanne. Entnervt atmete sein Partner daraufhin hörbar aus und hob mühsam die Augenlider.
„Reg dich ab, Yo. Es war dein Wunsch, nach Yara zu ziehen, und es ist dein Kreuzzug, der uns alle hier hält. Wenn es dir zu viel wird, gib auf.“
„Niemals!“
Ein dritter Feuerball, dieses Mal klein wie eine Murmel, schoss aus dem Fenster und sauste als zuckender Kugelblitz über die Baumkronen des Waldes.
„Dann lerne, über den Dingen zu stehen, und raste nicht bei jeder Schikane gleich aus.“
„Du hast gut reden! Dich haben die alten Vetteln auch nicht derart in die Zange genommen.“
„Nein, sie nicht. Aber du.“
Augenblicklich verschluckte Yo sich an seinen unausgesprochenen Worten und verstummte.
„Und jetzt lass mich bitte in Frieden. Ich brauche Ruhe.“
Seufzend schloss Cru abermals die Augen und brach auch den telepathischen Kontakt zu ihm ab. Yo konnte förmlich sehen, wie eine unsichtbare Hand den Sibulek niederstreckte und er in dunkle Rast fiel. Die helle Aura seines Partners war besorgniserregend durchscheinend und er sah völlig zerschlagen aus. Doch obgleich er sich kaum noch rühren konnte, hatte er ihm mit nur zwei Worten einen solch tödlichen Treffer versetzt, wie kein Schwert der Welt es in diesem Moment vermocht hätte. Und zu allem Überfluss hatte dieser verdammte Moralapostel auch noch recht. Er hatte wie immer recht.
Yo seufzte. Ja, er selbst trug die Verantwortung dafür, dass sie hier waren. Und auch dafür, dass sie hierblieben. Er und seine vorschnelle Art, Menschen zuvorderst das Schwert durch die Brust zu jagen und erst danach Fragen zu stellen. Fragen, die dann unbeantwortet blieben. Fragen, deren Antworten er hier in Yara zu finden gehofft hatte. Damals vor über neun Wintern.
„Ach, verdammt!“ Resignierend sah er an sich herunter und atmete geräuschvoll aus. „Das auch noch.“
Das von seinem Partner geborgte, blütenweiße Hemd war über und über mit Blut befleckt und Yos Fingerknöchel wund. Frustriert schüttelte er den Kopf. Was für ein mieser Tag. Ein flüchtiger Griff in den Kleiderschrank, dann trottete er in die Waschnische, wusch sich, versorgte notdürftig seine Schrammen und kehrte in schwarzem, lockerem Leinenhemd zurück.
Unschlüssig blickte er eine Zeit lang zwischen Cru, seinem Schreibtisch und dem offenen Fenster hin und her, bevor ihn seine Füße von ganz allein zum Sims führten. Rittlings setzte er sich in den Rahmen, stellte ein Bein auf und blickte weit über das grüne Meer der wogenden Baumwipfel. Dorthin, woher sie damals gekommen waren. Dorthin, wo ihre Freiheit lag. Dorthin, wo ein schwaches Glimmen ihm verriet, dass sein flammendes Geschoss am fernen Horizont ein Ziel gefunden hatte und sich nun hungrig darüber hermachte.
Seine Lippen verzogen sich zu einem dunklen Lächeln, als ihm ein durchtriebener Gedanke kam. Der Baron zu Feuerborn und Liebstein hatte ihm heute am meisten zugesetzt und eine unsichtbare Grenze überschritten. Ein Frevel für den er büßen, für den er bluten sollte! Doch einen alten und wehrlosen Mann zu töten, war weder befriedigend noch unterhaltsam. Nein, Yo hatte eine viel bessere Idee. Eine, die eigentlich gar nicht zu ihm passte, da er sich normalerweise direkt am Verursacher zu rächen pflegte. Doch dafür eine, die hervorragend zur verschlagenen, hinterlistigen Art des Barons passte. Burg Liebstein war nicht allzu weit von Yara entfernt. Auf dem kürzesten Wege zu Pferde höchstens drei Sanduhren entfernt, die Überquerung des Nia mit eingerechnet. Wenn er sich beeilte und zügig durch seine Strafarbeit kämpfte, konnte er der Burg im Frühmorgen einen Besuch abstatten. Ihr und den etlichen Kindern und Kindeskindern dieses elenden Hundes.
Ein vorfreudiges Kribbeln belebte seine Finger, als er sich mit einem Lächeln erhob, zu seinem Schreibtisch ging und Federkiel samt Tuschefass aus der schwergängigen Schublade kramte.
Zwei Sandgläser darauf saß Yo an seinem Tisch aus bester Silberweide, starrte regungslos auf ein blütenweißes Blatt Pergament, das beinahe ebenso verknittert war, wie sein Gesicht aussehen musste, und trommelte monoton mit den Fingerkuppen auf der Platte herum. Zu seiner Rechten stand ein frisches Tuschefass mit einer nagelneuen Feder auf dem Tisch und zu seiner Linken lag ein ganzer Stapel weiterer Pergamentbögen, ebenso rein und unbefleckt wie dasjenige vor ihm. Lediglich die drei Seiten, die liederlich oberhalb dieses Stapels lagen und an den Rändern zahlreiche Wellen und Knicke aufwiesen, waren in kleinen Lettern beschriftet. Wenig in Anbetracht des voraussichtlichen Gesamtwerkes, aber immerhin ein Anfang.
Das Sonnenlicht des Spätnachmittags fiel seitlich herein, wärmte seine Füße und überzog seine Kammer mit einem goldenen Hauch. Durch das weit geöffnete Fenster zum Wald strömte frische, klare Luft herein und kühlte sein in regelmäßigen Abständen aufflammendes Mütchen. Die Vögel sangen ihre frohen Weisen und ab und an verirrte sich ein neugieriges Kerlchen bis auf den Fenstersims. Ein besonders keckes Rotpünktchen flatterte gar bis auf seinen Tisch, tippelte nah an seine federführende Hand, legte das Köpfchen schief und tschilpte ihn frech an. Doch Yo stand absolut nicht der Sinn nach solchen Spielereien. Er presste ein dunkles Grollen zwischen seinen knirschenden Zähnen hervor und der Vogel flatterte schimpfend davon. Jetzt hatte er wieder die Ruhe, die er brauchte, wenn er das Wunder vollbringen und seine lästige Pflicht erfüllen wollte. Wobei wollen eindeutig das falsche Wort war.
Doch die Aussicht auf seine kleine, perfide Rache, die ihm wenigstens ein Mindestmaß an Wiedergutmachung für die nervenzehrende Unterredung mit dem Rat schenken sollte, hatte ihm ausreichend Willen und Kraft verliehen, dass er sich zwar unablässig fluchend, doch ohne allzu große Umschweife ans Werk gemacht hatte. Und da Cru noch immer nicht wieder erwacht war, kämpfte er sich nun mühselig selbst durch seine Strafarbeit. Vor lauter Verwünschungen und Haareraufen kam er allerdings nur schleppend voran. Mit jedem zweiten Satz haderte er und wusste kaum, wo er beginnen oder enden sollte. Noch dazu konnte er sich nicht einmal vollumfänglich erinnern, was er dem Rat bereits berichtet hatte, und sich selbst zu widersprechen war vermutlich tödlich in seiner Lage. Sein Hauptproblem aber war, dass ihm stets die richtigen Worte fehlten und er nach Geisteskräften um angemessene Formulierungen rang.
Immer wieder rempelte er daher seinen Partner Hilfe suchend an. Bisher allerdings erfolglos, denn der Sibulek schien auf der sonnengefluteten Pritsche in den geistigen Untiefen des Tiefschlafs verschollen.
„Könntest du bitte damit aufhören? Das nervt“, ertönte unvermittelt Crus dunkles Brummen.
Yos Trommeln erstarb und im nächsten Moment donnerte er stattdessen eine Faust auf den Tisch.
„Ach verdammt, so ein hirnverbrannter Schwachsinn! Keine Ahnung, wie ich das, verflucht noch eins, schreiben soll!“
„So, wie du es sagen würdest“, war der wenig hilfreiche Rat des schmunzelnden Sibulek, „nur ohne die ganzen Flüche.“
„Geht nicht! Dann pfeffern die mir das Ding sofort wieder um die Ohren.“
„Werden sie sowieso.“
Mürrisch sah Yo auf seinen ungewohnt wortkargen Freund herab und dieser zuckte mit den Schultern.
„Sieh der Wahrheit ins Auge, Yo. Es ist egal, wie du deinen Bericht schreibst. Wichtig ist allein, dass du es tust.“
„Was, verflucht noch eins, soll das jetzt heißen?“
Cru seufzte. „Manchmal bist du wirklich begriffsstutzig, Yo. Fakt ist: Der Großteil deiner Entscheidungen ist aus Sicht des Rates mit Sicherheit sowieso streitwürdig und leicht in Frage zu stellen. Dir bleibt also nur, die Weisen zu besänftigen, indem du gehorsam ihre Anordnung befolgst, will heißen brav diesen Bericht verfasst. Sollten sie ihn wirklich im Detail lesen, geht das Theater ohnehin von vorne los, ganz egal, wie eloquent du dich zu erklären versuchst.“
„Na danke, du bist mir ja eine große Hilfe“, knurrte Yo und war kurz davor, das Tintenfass vom Tisch zu fegen. „Seit wann bist du überhaupt wach?“
Doch Cru antwortete nicht und hatte die Augen bereits wieder geschlossen. Eine Weile herrschte verdrießliche Stille im Raum, bevor der dritte Heermeister sich dazu durchrang, weiterzuschreiben.
Eine Zeit lang war die Schreibfeder das einzige Geräusch im Raum, da klopfte es unvermittelt. Yo ignorierte es. Im Abstand von mehreren Augenblicken pochte es jedoch weitere zwei Mal. Kurz sah er auf, verwünschte den Störenfried im Stillen wortreich und ignorierte ihn erneut. Doch wer auch immer vor seiner Tür stand, bewies Langmut. Beharrlich pochte es ein viertes Mal.
„Verdammt noch eins, wie soll man sich da konzentrieren?“ Mit Schwung stieß der Anführer des Roten Mondes die Feder ins Fass zurück, bevor er laut rief: „Wer stört?“
Keine Antwort. Yo grollte.
‚Tu dir den Gefallen, steh auf und sieh nach‘, forderte die matte Stimme des Sibulek. ‚Es ist wichtig.‘
Widerwillig erhob Yo sich. Was wusste Cru schon wieder, was er nicht wusste? Langsamen Schrittes durchmaß er seine Kammer. Ob das ein Kontrollbesuch des Rates war? Falls ja, dann sollte derjenige, den sie geschickt hatten, lieber schon einmal in Deckung gehen. Dann setzte es einen Faustschlag, der sich gewaschen hatte.
Als er die Kammertür schwungvoll aufriss, lächelte ihn statt des vermeintlichen Boten jedoch das nunmehr gepflegte und saubere Gesicht Lŷsandro Vîbors an. Überrascht sah Yo sein Gegenüber an und die zum Schlag erhobene Hand rutschte langsam am Türrahmen herab.
„Warum hast du nicht geantwortet?“, murrte er, noch ehe der Viborianer zu einer Begrüßung ansetzen konnte. „Dann hätte ich mir den Weg gespart.“
„Oh, ich bitte vielmals um Verzeihung, General Valkja. Ich fürchte, ich bin es nicht gewohnt, mich ankündigen oder um Einlass bitten zu müssen.“
„Dann wird es Zeit!“
„Wollt Ihr mich nicht hereinbitten, General?“, fragte der Fürst mit einem milden Lächeln, dass Yo irgendwie unheimlich war.
„Nein!“, konterte er im Reflex. „Aber da mir das vermutlich gleich den nächsten bescheuerten Bericht oder Schlimmeres einbrockt: Komm rein.“
„Habt Dank, General Valkja.“
Seiner halbherzigen Geste folgend betrat der Viborianer seine Kammer und musterte erst sie, dann ihn und dann wieder sein Gemach ausgiebig. Ein Spielchen, auf das Yo keinerlei Lust verspürte.
„Was verschafft mir die zweifelhafte Ehre?“, fragte er daher knapp und ohne das geringste Interesse an der Antwort.
Yo spürte, wie Cru daraufhin trotz seiner Schwäche und äußerlichen Reglosigkeit innerlich bis über beide Ohren grinste. Er wusste nicht was, aber irgendetwas schien seinen Partner köstlich zu amüsieren. Schön für ihn. Wenigstens einer, der seinen Spaß hatte, dachte er bissig.
Lŷsandro Vîbor hatte die reglose Gestalt auf seiner Holzbank inzwischen ebenfalls registriert. „Mich deucht, Euer Schwertbruder schläft, General. Komme ich ungelegen?“
Für einen Wimpernschlag lag Yo ein deutliches „Ja!“ auf den Lippen, doch er verbiss es sich. „Fass dich kurz.“
„Ich werde Eure Zeit nicht übermäßig in Anspruch nehmen, General“, säuselte der Fürst, nur um ihm im nächsten Atemzug das Gegenteil zu beweisen. Ausführlich und überschwänglich erneuerte der Viborianer sein Versprechen, dass er alles haben konnte, wonach es ihn dürstete, und zählte von Gold und Schmuck über Ländereien, Titel und Ämter bis hin zu Macht und Frauen alles auf, was eines Menschen Herz offenbar zu begehren vermochte. Des Fürsten Pech, dass er nun einmal kein Mensch war.
„Seid versichert, General: Was immer Ihr verlangt, Ihr sollt es bekommen!“
Genervt rollte Yo mit den Augen und atmete geräuschvoll aus. Wann begriff es dieser penetrante Kerl endlich?
„Du besitzt nichts, was ich nicht entweder schon mein Eigen nenne oder mir nicht selbst aneignen kann, wenn ich nur will“, entgegnete er trocken und wandte sich ab.
Sein Blick fiel auf Cru, der die Hände auf der Körpermitte gefaltet hatte und das Streicheln der Sonnenstrahlen sichtlich genoss. Unmerklich seufzte Yo. Die wenigen Dinge, die er begehrte und aus eigener Kraft nicht zu erreichen imstande war, die konnte ihm auch der Fürst trotz seiner weitreichenden Macht und seines Einflusses nicht beschaffen. Das konnte niemand. Keine Menschenseele auf dieser Welt. Und das war wohl auch besser so.
Kopfschüttelnd kehrte er seinem Partner den Rücken und blickte wieder zu Lŷsandro Vîbor, der seltsam still geworden war. Niedergeschlagenheit zeichnete des Fürsten Gesicht ob seiner vehementen Verweigerung eines angemessenen Dankes und mit einem tiefen Atemzug griff sein Gegenüber in die kleine Ledertasche, die er am Gürtel trug. Mit gesenktem Haupt hielt sein Gast ihm eben jenen Ring hin, den er vorhin aus einer Laune heraus aus der Hand gegeben hatte.
„Mein Bruder Aleksar gab Euch dies als Zeichen seiner Dankbarkeit und Demut, General. Er gehört nun Euch. Ich kann ihn nicht zurücknehmen.“ Die Stimme des Fürsten war belegt, hatte wie auch seine Haltung an Kraft und Stolz eingebüßt.
„Das wirst du wohl müssen, wenn du nicht willst, dass er den alten Vetteln in die Hände fällt. Was die damit anrichten können und mit Sicherheit auch werden, weißt du vermutlich besser als ich.“
Überrascht sah der Herrscher Roocs ihn an und Yo verstand seine Worte selbst nicht. Dennoch beließ er es dabei. Was sollte er auch damit? Die einzigen Schmuckstücke, die er trug, waren sein Schwert und der ätherische Ring ihres Bundes. Und die Erinnerung an seinen meisterlichen Sieg über Aleksar Vîbor war mitnichten an diesen Reif gebunden. Die war in seinem Geist fest eingebrannt, wie all seine anderen erinnerungswürdigen Triumphe. Er brauchte nur die Augen zu schließen und zu jenem Moment zurückzugehen, um in Blut und Macht zu schwelgen.
„Ihr … besteht darauf, General?“
„Ja, verdammt!“, schrie Yo den Fürsten regelrecht an. Er konnte die nette, dankesvolle Art dieses Mannes nicht einen Augenblick länger ertragen. Konnte dieser verfluchte Kerl sich nicht einfach wie ein ordentlicher Besiegter verhalten und ihn fürchten oder noch besser hassen? War das wirklich so schwer, nachdem er seinen Bruder vor aller Augen auf die Knie gezwungen und beinahe enthauptet hatte? „Nimm deinen verfluchten Ring, ich will ihn nicht! Und hör endlich mit diesem verdammten General auf! Ich hasse das!“
Ein leises, brummiges Lachen ertönte in Yos Kopf. Zähneknirschend warf er Cru einen bösen Blick zu, doch dieser spielte noch immer sehr überzeugend den Schlafenden.
Entschuldigend hob der Herrscher Roocs die Hände und wich einen Schritt zurück. „Oh, ich bitte um Verzeihung, wenn ich Euch damit auf die Nerven falle, Herr …“
„Yo! Einfach nur Yo“, schnitt der Dritte General ihm barsch das Wort ab. „Und jetzt verzieh dich, bevor ich es mir anders überlege!“ Ohne den Viborianer anzusehen, bedeutete er ihm, unverzüglich seine Kammer zu verlassen und blaffte dann an den Sibulek gewandt: „Ein Wort und du bist tot!“
Lŷsandro Vîbor jedoch ignorierte seinen Rausschmiss, zog stattdessen die rechte Augenbraue hoch und warf einen abwägenden Seitenblick auf Cru. Dann setzte er eine geheimnisvolle Miene auf, zog eine versiegelte Pergamentrolle aus der Gürteltasche und senkte seine Stimme.
„Dann lasst mich Euch wenigstens dies hier geben, Yo.“
Gleichermaßen skeptisch und genervt blickte der Anführer des Roten Mondes auf das goldumrandete und mit allerlei Emblemen und Symbolen beschriebene Schriftstück in den Händen des Viborianers und legte den Kopf schief. Was wurde das nun wieder?
„Ein Diener fand es just einen Tag, nachdem Ihr wahre Größe zeigtet, zufällig in alten Unterlagen des fürstlichen Archivs.“ Der eigentümliche Tonfall Lŷsandros erregte Yos Neugierde und er griff nach dem Pergament. „Da Ihr Euch als ehrbarer Mann und dem Hause Vîbor großen Dienst erwiesen habt, sah und sehe ich keinen Grund, es gegen Euch zu verwenden“, fügte der Fürst augenzwinkernd an, als er das Pergament entrollte.
Yo konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, was es enthielt, doch nur einen Wimpernschlag später verschlug es ihm die Sprache. In seinen Händen hielt er einen vergilbten und knittrigen, uralten Steckbrief aus der Zeit der Regentschaft von Fürst Îscorso Vîbor, dem Urgroßvater des heute herrschenden Brüderpaares. Unvermittelt wurde ihm kalt und heiß zugleich, denn auf diesem Anschlag prangte ihm mit diabolischem Grinsen über einer stattlichen Auflistung infamer Verbrechen das Konterfeit von niemand Geringerem als ihm selbst entgegen.
Noch bevor er irgendetwas sagen konnte, fuhr der Fürst in neutralem Tonfall, der die Ungeheuerlichkeit dieser Sache nicht im Ansatz erahnen ließ, fort: „Wie ich sehe, geht Ihr wenigstens auf dieses Angebot ein. Das freut mich. Macht mit dem Dokument, was ihr wollt. Ich an Eurer Stelle würde es jedoch unverzüglich im Kamin verbrennen, bevor es einem Eurer, wie ich vermute zahlreichen, Feinde in die Hände fällt.“
Noch ehe diese Worte verklungen waren, ging das verräterische Pergament in Flammen auf und augenblicklich entrang dem Sibulek sich ein ungläubiges Stöhnen. Hätten es die Umstände erlaubt, wäre sein Partner mit Sicherheit aufgesprungen und hätte ihm eine vernunftbringende Schelle verpasst. Und dieses Mal hatte er sie wohl durchaus verdient. Konnte dieser Tag eigentlich noch mieser werden?
„Mich deucht, Ihr seid des Dankes überdrüssig, Yo.“ Freundlich lächelte der Herrscher Roocs und deutete eine Verbeugung an. „Dennoch ist es mir ein persönliches Anliegen, Euch noch einmal meiner aufrichtigen Verbundenheit und der meines Bruders zu versichern. Das Hause Vîbor heißt Euch stets willkommen und Ihr erhaltet jede Hilfe, die Ihr benötigen solltet.“
„Ich brauche keine Hilfe. Weder von dir noch von sonst irgendwem“, lehnte Yo im Reflex murrend ab. Der Anblick des Aschehäufchens zu seinen Füßen stimmte ihn dann aber doch nachdenklich. „Aber wer weiß … Vielleicht komme ich ja eines Tages darauf zurück“, murmelte er leise vor sich hin.
„Mein Wort gilt!“, bekräftigte Fürst Vîbor und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Wann immer Ihr oder einer der Euren der Hilfe des Hauses Vîbor bedürft, werdet Ihr sie bekommen. Egal unter welchen Umständen oder …“
Eine unheilvolle Schwere lag in der Luft und tief in seinem Inneren beschlich Yo plötzlich die unangenehme Gewissheit, die Einlösung dieses Versprechens tatsächlich dereinst einfordern zu müssen. Prüfend sah er Lŷsandro Vîbor nun unverwandt an. Dieser erwiderte seinen Blick mit überzeugender Entschlossenheit und sie nickten einander verstehend zu. Dann herrschte betretenes Schweigen.
Als der Viborianer sich schließlich räusperte und zum Gehen wandte, fiel ihm noch etwas ein. „Bevor ich es vergesse, Yo: Was Euren Bericht angeht …“
Augenblicklich nahm Yos Miene wieder gewittrige Züge an und er verschränkte abweisend die Arme vor der Brust. Für einen winzigen Moment hatte er den Viborianer fast so etwas wie gemocht.
„Der edle Herrscher dieser Lande gibt zu Ehren unseres neuerlichen Bündnisses heute Abend ein Bankett. Ich denke, ich konnte dem Ältestenrat klarmachen, welch einen Affront es bedeutete, wenn Ihr nicht daran teilnehmet.“
Fragend runzelte Yo ob der zahlreichen Möglichkeitsformen die Stirn. „Soll heißen?“
„Papier ist geduldig“, lachte der Fürst ihn herzlich an, „und die Weisen sind es auch, wenn es zu ihrem Vorteil ist. Also, schreibt Euren Bericht morgen und begleitet mich zu dieser öden Festlichkeit.“
„Ich …“, begann der Heermeister, doch der Viborianer schnitt ihm das Wort ab, bevor er ablehnen konnte.
„Das war keine Bitte, Yo. Ich bestehe darauf.“ Mit einem kurzen Nicken gen Cru fügte er an: „Bringt Euren Freund mit, wenn Euch das die Entscheidung erleichtert.“
Yo schwieg, was der Fürst offenbar als Zustimmung verstand. Mit deutlicher Zufriedenheit im Gesicht wandte er sich ab und schritt zur Tür. Der dritte Heermeister trottete hinterdrein und fragte sich, was nun die schlimmere Strafe war: Dieser vermaledeite Rechenschaftsbericht oder das kreuzlangweilige Bankett?
„Eine letzte Frage noch, Yo“, drehte der Fürst sich erneut um, als er bereits auf dem Gang stand.
„Was denn noch?“, entfuhr es dem bleichen Mann ungehaltenen.
„Wo finde ich Euren Adjutanten?“
Yo verengte die Augen, bevor er mit einer Gegenfrage antwortete. „Wieso? Was hat er denn ausgefressen?“
„Ach, nichts“, lächelte Lŷsandro und erregte damit sofort wieder seinen Argwohn. „Er hat bei Eurer überstürzten Abreise nur versehentlich etwas zurückgelassen.“
Irritiert zog Yo die Augenbrauen tief zur Nasenwurzel. Er verstand sich absolut nicht auf Rätsel und der Fürst schien ein unliebsames Faible für ebendiese zu haben.
Lŷsandro grinste. „Ein gebrochenes Herz.“
Als habe dieser soeben in einer ausgestorbenen Sprache gesprochen, sah Yo den Viborianer an und rollte fassungslos mit den Augen. „Verschon mich.“ Dann schlug er dem Fürsten mit Schwung die Tür vor der Nase zu und ging zu seinem Tisch zurück. „Das darf doch nicht wahr sein“, murmelte er leise vor sich hin. Dieser Tag war im Begriff, der mieseste Tag seit Wintern zu werden.
Offen und unverhohlen lachte Cru ihn nun an und hatte sich sogar etwas aufgerichtet.
„Hör bloß auf, zu lachen, du …!“