Angeheiterte Stimmen, heiteres Lachen und die Klänge von Flöten und Lauten hallten durch die Luft, als die drei Heermeister Lanois aus dem Südflügel der Serçeburg in den Hof hinaustraten. Kurz hielten sie inne und Cru ließ den Blick schweifen. Zahlreiche Krieger hatten sich im Burghof zusammengefunden und saßen um viele kleine Lagerfeuer versammelt kreuz und quer am Boden. Es dauerte keine drei Wimpernschläge, bis die ersten Männer auf sie aufmerksam wurden.
„Dort wo nie die Sonne wohnt, thront der feurig Rote Mond!“, rief ein Krieger des dritten Heeres voll Inbrunst und sprang auf. Dabei riss er den Arm so schnell in die Höhe, dass der Inhalt seines Kruges überschwappte und sich über ihn ergoss. Beinahe zeitgleich erhoben an anderen Feuern sich ebenfalls Schwertbrüder auf und die Wahlsprüche der anderen beiden Streitmächte ertönten.
„Unbeugsam und allzeit edel ist die Art der Grünen Nebel!“
„Kraftvoll wie ein wilder Strudel ist der Weißen Wölfe Rudel!“
Nur einen Augenblick später brandete lautstarker Beifall auf und breitete sich wie ein Lauffeuer über den gesamten Innenhof aus. Kaum einen der Krieger hielt es noch am Boden und soweit das Auge reichte, waren alle Männer auf den Beinen, pfiffen oder grölten und reckten ihre Humpen, Karten, Spieße oder was auch immer sie gerade in den Händen hielten in die Höhe. Es dauerte nur wenige Atemzüge und das chaotische Durcheinander hunderter Stimmen ordnete sich in dreistimmige Sprechchöre, die die Losungen der drei Heere abwechselnd rhythmisch skandierten.
Dem zweiten Heermeister lief ein Schauer den Rücken hinab. Gänsehaut lag auf seinen Armen und in seiner Brust erwuchs ein warmes Gefühl, das ihm neue Stärke gab. Noch immer stand er mit den beiden anderen Generälen Seite an Seite auf der obersten Stufe. Cay zu seiner Linken blickte hocherhobenen Hauptes mit strahlenden Augen umher und trug ein breites, zufriedenes Grinsen zur Schau. Yo zu seiner Rechten dagegen stand mit in die Seiten gestemmten Händen da und der Sibulek konnte den unausgesprochenen Wunsch, sich lieber in seine Kammer zurückziehen zu wollen, im Blick seines Partners deutlich lesen. Ergriffen blickte Cru auf das wogende Meer gereckter Arme und lächelte. Links hinten, in der Nähe des Kreuzganges vermeinte er gar, den leuchtenden Blondschopf seines Adjutanten und daneben dessen Bruder nebst der jungen Viborianerinnen zu erkennen.
Wie von Geisterhand bildete sich plötzlich eine Gasse in der Menschenmenge. Cay war der Erste, der den Gang hindurch antrat, und der Sibulek folgte ihm auf dem Fuß. Respektvoll wichen die Männer zurück, manch einer neigte gar ehrfürchtig das Haupt. So also mussten Herrscher sich fühlen, schoss es Cru durch den Kopf. In diesem Moment fiel ihm Lŷsandro Vîbor wieder ein. Suchend blickte er erst hinter, dann um sich, doch der Regent Roocs war nirgends zu entdecken. Blieb zu hoffen, dass der Viborianer nur abgedrängt worden war.
„Schön, dass Ihr Euch endlich losreißen konntet, General“, sprach ein Krieger in der Menge Cru unvermittelt an und klopfte ihm beherzt auf die Schultern. „Ihr wurdet schon sehnlichst erwartet.“ Lautstarkes Grölen bekräftigte die Worte des Mannes, den der zweite Heerführer im Schein der Fackeln als seinen Quartiermeister erkannte.
Bevor er etwas erwidern konnte, wurde er jedoch schon weitergeschoben, und fand sich kurz darauf vor einem mannshohen Holzstoß in der Mitte des hinteren Burghofes wieder. Schräg gegenüber hatte der Anführer der Grünen Nebel Position bezogen und mit etwas Verspätung traf rechterhand nun auch der Dritte im Bunde ein. Noch einmal sah der Sibulek sich um, doch von Fürst Vîbor fehlte jede Spur. Stattdessen traten die drei Vizegeneräle aus dem Schatten der Menge und ins Licht des Lagerfeuers. Ein jeder gesellte sich an die Seite seines Anführers und mit einem Schlag verstummten die Gesänge und das Instrumentenspiel. Die Gespräche erstarben, die Würfel ruhten und alle Blicke wandten sich zum nächtlichen Sternenhimmel. Einen Moment lang war alles still.
Dann erklang ein dunkles, tonloses Summen aus einer Gruppe Krieger nahe dem Kreuzgang zum unteren Burghof und breitete sich allmählich in ihre Richtung aus. Immer mehr Männer stimmten darin ein und nahe den Adelsquartieren auf der Ostseite ertönte mit tragender, feierlicher Melodie eine zweite gesummte Tonlage. Heller Gesang aus den Kehlen der jüngsten Kämpfer und Frauen vervollständigte den dunklen Chor der Bassstimmen. Innerhalb weniger Augenblicke war der ganze Innenhof von einer weihevollen, rituellen Atmosphäre erfüllt. Eine neuerliche Gänsehaut rann Crus Arme und seinen Rücken hinab. Dieses uralte, gänzlich wortlose Lied, das ein jeder Lanoi bereits im Kindesalter erlernte, bewegte sein Herz. In zahllosen Stimmen stieg es hinauf in die nächtliche Dunkelheit zu den Sternen, von denen die Menschen dieses Landes glaubten, dass sie die Augen der wachenden Ahnen waren.
So unvermittelt, wie es erwachsen war, erstarb das Summen wieder. Der Anführer der Weißen Wölfe schloss die Augen und faltete die Hände vor der Körpermitte, dann ließ er sich mit gesenktem Haupt im Schneidersitz nieder. Wohlwissend, dass Cay und Yo es ihm gleichtaten. Dass sie im Dreieck um den Holzstoß saßen, ihre Stellvertreter dicht im Rücken, umringt von Kriegern aller Heere. So, wie alle Generäle zu jeder Nacht der Brennenden Bänder vor ihnen.
„Männer und Frauen Lanois“, begann Cay mit feierlicher Stimme, „dies ist eine Nacht des Sieges. Eine Nacht des Triumphes!“ Stille. Kein einziger Laut war zu vernehmen. „Ein Sieg mit hohen Verlusten. Ein Triumph, errungen durch Blut, Schmerz und Tod.“ Wieder machte der Erste General eine kurze Pause, die einzig das Knistern und Knacken des Feuers erfüllte. „Bruder. Schwester. Tochter. Sohn. Vater. Mutter. Eheweib. Gemahl. Ein jeder hier in diesem Hof, ein jeder Lanoi hat einen schmerzlichen Verlust erlitten.“
Ohne die Augen zu öffnen, fuhr Cru fort: „Der Tod macht keinen Unterschied. Ob jung oder alt. Ob Mann oder Frau. Ob auf dem Schlachtfeld streitend oder unbeteiligt zwischen die Fronten geraten. Erloschen sind unzählige Seelen. Hinaufgestiegen zur Hohen Mutter, das Dunkel unserer itzigen Nächte zu erhellen. Vereint im Sieg, vereint im Schmerz, gedenken wir derer, die zu schützen wir nicht imstande waren, und derer, die ihr Leben für das unsere ließen.“
Erneut schwoll dunkles, feierliches Summen in der Menge an und der langsame, rhythmische Schlag einer dumpfen Pauke erklang. Der Sibulek hob den Kopf, blickte die Lohen entlang ins Himmelszelt hinauf und atmete tief ein. Dann streifte er sich die Handschuhe ab, griff mit der Linken nach dem Banner der Weißen Wölfe, das Forso neben ihn gelegt haben musste, und erhob sich. Auch Yo und Cay standen auf und entrollten ihre Flaggen. Direkt hinter seinem Partner entdeckte der Sibulek Lŷsandro Vîbor unbehelligt inmitten der lanoischen Krieger. Das Haupt des Fürsten war gesenkt und die Hände in dessen Schoß gefaltet, wie bei allen Männern ringsum. Ein Anblick, der Crus Brust stärker wärmte als das Feuer vor ihm.
Die Banner aller drei Heere waren mit den landestypischen Siegeszeichen verziert: Ranken von Margoi-Bäumen als Zeichen für Lanoi, geschmiedete Blitze als Sinnbild für einen siegreichen Kampf sowie Sonnen mit Flammenstrahlen und zwei sich an den Längsseiten gegenüberliegenden Dreiecken als Symbol für den Hohen Vater und die Hohe Mutter. An einer Ecke der Flaggen war das Stirnband des jeweiligen Generals befestigt, an der gegenüberliegenden das Band, welches ihm in der Nacht der Bunten Bänder mit auf den Weg gegeben worden war. Anfang und Ende kamen zusammen, der Kreis schloss sich.
Im selben Augenblick wie die anderen Heermeister zog Cru mit der Rechten sein Schwert, reckte es erst gen Himmel empor und stieß es dann zu seinen Füßen in die Erde. Anschließend löste er seinen Gurt und warf ihn wie Cay und Yo samt Schwertscheide, Handschuhen und geschmücktem Banner ins Feuer. Schlagartig gerieten die Flaggen in Brand, das Knistern erwuchs zu einem lauten Prasseln und das Feuer schlug turmhohe Lohen. Die Heermeister jedoch wichen keinen Schritt zurück.
Als der Sibulek demütig auf ein Knie sank und den unter seinem Befehl Gefallenen die letzte Ehre erwies, rangen in seiner Brust Stolz und Schuld miteinander. Er war als Sieger heimgekehrt. Hatte in langwierigen Schlachten die zähen Æhraner in die Knie gezwungen. Tausend Mannen hatte er in die Schlacht geführt. Hunderte hatte er verloren. Zahllose Lanoi war er zu retten außerstande gewesen und unzähligen Æhranern hatte er den Tod gebracht. Einen Wimpernschlag lang raubte die Schuld ihm den Atem und er stützte sich auf sein Schwert. Aus den Augenwinkeln gewahrte er, dass auch sein Gefährte niederkniete, und so seltsam es war, dieser Anblick beruhigte ihn. Glättete die Wogen in seinem Herzen. Yo hatte noch weit mehr Männer verloren als er. Wahrscheinlich auch weit mehr getötet. Dennoch spürte er keinerlei Bedauern oder Schuldgefühle bei seinem Partner, dessen Aura satt und ruhig in beinahe demselben glutroten Farbton erstrahlte wie das sich langsam normalisierende Lagerfeuer.
In der Stille der Nacht hallte auf einmal eine vergessen geglaubte Stimme in Crus Kopf wider. „Der Tod folgt dem Kampf auf dem Fuße. Jeder Krieg, so ehrbar oder begründet er sein mag, birgt immer Schmerz und Leid.“
Tonlos seufzte der Sibulek. Sein Schwertbruder hatte diese Wahrheit bereits vor Äonen erkannt. Er jedoch rang noch heute, Dekaden nach den Worten Kunsan Samarthas, damit. Sein Volk war geschaffen, um zu bewahren. Er war geschaffen, um zu schützen! Doch egal, wie viele Leben er rettete, er verlor und vernichtete stets mehr.
Trauer erfüllte Crus Herz, schnürte ihm den Brustkorb eng und ließ ihn das Gewicht von tausend Mann auf den Schultern spüren. Ein Gewicht, das ihn mit jedem Atemzug tiefer zu Boden drückte, das er nicht imstande war, zu tragen. Ein Gewicht, dessen er sich nur auf eine Weise entledigen konnte.
Ohne die Augen zu öffnen, setzte der Anführer der Weißen Wölfe sich wieder in den Schneidersitz, legte die Handrücken auf den Knien ab und führte die Fingerspitzen einer Hand zusammen. Ein dunkler, brummender Ton entstand in seiner Kehle, vibrierte in seinem ganzen Leib und weitete seinen Brustkorb zu einem tiefen Atemzug. Alles um sich herum ausblendend konzentrierte er sich ganz auf das Gewicht auf seinen Schultern. Es war an der Zeit, die Toten um Vergebung zu bitten.
„at anma vajnara
pà sin’yt sviiti
at anma séǐt
pà tåin kaân“
Sphärisch und dunkel hallten seine Worte in der Stille der Nacht wieder. Selbst das Feuer schien vor Ehrfurcht verstummt und wagte nicht, auch nur zu knistern. Unvermittelt fiel eine weitere, ungewohnt tiefe Stimme, die von innen wie außen an seine Ohren und in sein Herz drang, in das Gebet ein.
„at anma uurì
pà sin’yt vålo
at anma sar’ad
pà tåin trevaṣ“
Ein Schauer rann Crus Rücken hinunter und sämtliche Härchen auf seiner Haut stellten sich auf. Zögernd öffnete er die Augen und wandte den Blick nach rechts. Was er sah, jagte ihm heiße Wogen in die Wangen. Vom Schein des Feuers hell erleuchtet saß Yo in eben jener Pose, in der auch er sich befand. Den Blick einerseits fest auf ihn gerichtet schien sein Partner andererseits dem Geschehen um sich herum entrückt. Der Sibulek spürte, wie er ihm folgte. Sich in Zeit und Raum verlor. Die Wirklichkeit trat zurück und Erinnerungen ferner Tage manifestierten sich vor seinem geistigen Auge. Der Burghof und die Männer verschwanden in Nebelschwaden und rings um ihn wuchsen die trutzigen Mauern Prucna Tencones empor. Für einen Moment meinte er gar, Yo trage das schlichte, aschgraue Gewand eines Kampfmönches. Obgleich er niemand anderen als seinen Gefährten sah, spürte Cru die Anwesenheit all ihrer Ordensbrüder. Auf dem Grund seiner Seele, eingemauert zwischen seinen Urängsten und begraben unter den Trümmern seiner Kindheitserinnerungen, entfaltete sich ein Leuchten. Eine tiefe Empfindung, die er seit vielen Wintern nicht mehr verspürt hatte, keimte in seiner Brust. Tränen der Ehrfurcht schossen ihm in die Augenwinkel, als große Hände voller Wärme und Güte sich auf seine Schultern legten. Sie gaben ihm Mut, schenkten ihm Kraft. Cru wagte nicht, aufzusehen, und schloss erneut die Augen. Übergab sich ganz der Führung seiner Ahnen.
„al anma kal’varo
pà sin’yt nevina
al anma har’ado
pà tåin velkà“
Die Stimme seines Partners klang um so vieles lauter als die seine und in dieser rituellen Atmosphäre beinahe ebenso alt und ehrwürdig wie die verlorene Sprache selbst. Sie brannte sich in Crus Seele wie vormals Yos glühende Hände und dessen begieriger Blick bei ihrer nächtlichen Zusammenkunft. Mit jeder Silbe spürte der Sibulek die Wärme auf seinen Schultern stärker und das Gewicht leichter werden. Dann folgte die Strophe des Gebetes, die ihn stets am meisten berührte.
„òm sin’yt el’yaṣ
vi’alur àvlit anta’lo
pà ikìn lagnaîr“
‚Geboren, um zu leben, sterben wir alle, um Leben zu geben im ewigen Kreis des Schicksals‘, wiederholte der Sibulek im Geiste. Yos Stimme war in den Hintergrund getreten, doch sowie sie beide die letzte Silbe beendet hatten, fühlte der Anführer der Weißen Wölfe sich von aller Last befreit. Das Leuchten in seinem Herzen erfüllte nun seinen gesamten Körper und er bedurfte keines Beistandes mehr. Kerzengerade richtete er sich auf, atmete tief ein und wandte beim Ausatmen den Blick hoch hinauf in den tiefschwarzen Nachthimmel, der mit unzähligen goldleuchtenden Perlen besetzt war.
„hoy’åna
aṣ’soa akor duskà
ti pìn esméra“
Das Leuchten der Sterne schien im Rhythmus ihrer Worte zu pulsieren, die Hohe Mutter ihrer Fürbitte gnädig lächelnd nachzukommen.
„hoj’får
se’vern akor vålo
åro e̊teyn“
Ein zarter Schleier zog über den Himmel und umhüllte das Leuchten der Nacht, als käme auch der Hohe Vater ihrer Bitte nach und hielte seine schützende Hand über all die erloschenen Seelen. Ergriffen schloss Cru ein letztes Mal die Augen, bevor er die Andacht mit fester Stimme schloss.
„ikìn ḥvila“
Die letzte Silbe war kaum verklungen, da zersprang das Bild vor seinen Augen und der Sibulek war zurück im Innenhof der Serçeburg. Umringt von hunderten Kriegern, die allesamt vom Boden aufgesprungen waren, einen lauten Jubelschrei ausstießen und schwungvoll ihre geöffneten rechten Hände zum Himmel reckten. Ganz so, als würfen sie imaginäre Schwerter in die Luft. Mit diesem symbolischen Akt war die Zeremonie beendet.
Von einem Wimpernschlag auf den anderen herrschte wieder Feierlaune, muntere Musik erklang und das feierliche Grüppchen am zentralen Lagerfeuer wurde aufgelöst. Während Cay sofort von einigen seiner Getreuen zum Würfelspiel animiert wurde und auch ihre Adjutanten sich unter die Männer mischten, blieb Cru noch einen Moment sitzen und spürte der Wärme in seinem Körper nach.
„Danke, Vater“, flüsterte er so leise, dass er seine Stimme selbst kaum vernahm. „Danke.“
Körperlich noch immer geschwächt, doch seelisch gestärkt, erhob der Sibulek sich und ging zu seinem Gefährten hinüber. Dieser saß regungslos da und starrte mit verklärtem Blick ins Feuer. Der jähe Jubel musste Yo aus seiner geistigen Abwesenheit gerissen haben und so ganz schien er noch nicht wieder im Hier und Jetzt angekommen zu sein.
„Na, jetzt Hunger?“ fragte Cru und die Augen seines Freundes erwachten zu Leben.
Langsam wandte Yo den Kopf und blickte fragend zu ihm auf.
„Essen“, sagte der Zweite General und formte jeden Buchstaben des Wortes langsam und deutlich. „Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich Lamorte bei unserer Ankunft dort hinten gesehen.“ Mit ausgestrecktem Arm deutete er etwas links des Portals, durch welches sie auf den Hof hinausgetreten waren.
Mit einem Schnaufen stand Yo auf, warf einen kurzen Blick, den Cru nicht zu deuten wusste, hinter sich und setzte sich dann in Bewegung. Im gleichen Moment war auch Fürst Vîbor auf den Beinen und räusperte sich.
„Wenn Ihr erlaubt …“
Unvermittelt fuhr der Anführer des Roten Mondes herum. „Spar es dir. Als ob du ein Nein akzeptieren würdest.“
Die Antwort des Viborianers war ein spitzbübisches Lächeln. Yo hatte recht. Ein Herrscher akzeptierte kein Nein. Und er pflegte, seine Aufforderung zumeist als Bitte oder Frage zu formulieren. Mit einer einladenden Geste bedeutete der Sibulek Lŷsandro Vîbor daher, sich ihnen anzuschließen, und sie folgten dem dritten Heermeister, der bereits auf dem Weg zum Koch seines Vertrauens war.
„General Valkja! Womit darf ich Euch heute beglücken?“, ertönte die fröhliche, brummige Stimme Lamortes und prompt brach Gelächter unter den Umsitzenden aus.
„Fleisch. Blutig!“, antwortet Yo im Vorbeigehen kurz und knapp, dann ließ er sich neben Cru und dem Fürsten an einem kleineren Feuer im hinteren und vermeintlich ruhigeren Teil des Burghofes, an dem bereits Inor und Forso saßen, auf dem Boden nieder. Bissig kommentierte sein Gefährte das zeitige Verschwinden der Jungen vom Bankett und beschwerte sich dann ebenso scharfzüngig über die unangemessene Platzwahl, da seiner Meinung nach nicht ausreichend viele Schritte zwischen ihm und seinem ganz persönlichen Folterkeller, dem Ratssaal, lagen. Das Schmunzeln in den Gesichtern der Umsitzenden wurde mit jedem Wort deutlicher und als ein lautes Grollen aus Yos Magen ertönte, brachen Inor und Forso in Lachen aus.
„Wird Zeit, dass du etwas zwischen die Zähne kriegst, Partner“, sagte Cru grinsend und schlug seinem Freund auf die Schultern. „Du benimmst dich schlimmer als ein ausgehungerter Schattenwolf.“
An Antwort statt knurrte Yo, da hielt Lamorte ihm unvermittelt eine saftige Fleischkeule vor die bleiche Nase. Wortlos entriss der dritte Heerführer sie dem dicken Mann und biss herzhaft hinein. Keinen Atemzug später spuckte er jedoch aus, sprang auf und packte den Glatzkopf am Kragen. „Was, verflucht noch eins, soll das? Ich sagte blutig, nicht roh! Da kann ich ja gleich in dein feistes Fleisch beißen!“
„Aber, aber …“, stammelte Lamorte und hob hilflos die Arme. „Das letzte Mal war sie Euch nicht blutig genug, da dachte ich …“
„Du sollst nicht denken, du sollst braten!“, grollte Yo. „Du hast mich mit deinem Fraß vorgestern schon fast vergiftet. Letzte Chance, Lamorte!“
Mit Schweißperlen auf der speckigen Stirn eilte der Heereskoch unter Johlen davon und kehrte umgehend mit einem großen und gut angebratenen, aber längst noch nicht garen Hüftstück zurück.
„Verdammt, das passiert mir immer wieder“, knurrte Yo in die Runde, während Lamorte schleunig das Weite suchte. „Als wäre ich ein wildes Tier.“
„Nun ja, dann benimm dich doch seltener wie eines“, erwiderte Cru schmunzelnd und nahm einen großen Schluck aus seinem Trinkbecher. Yo, wie er leibte und lebte. Wie hatte er das vermisst.
Zum Glück für die Ohren aller ging die wüste Antwort seines Partners in schmatzendem Kauen unter und er beließ es vorerst dabei. Entspannt lehnte Cru sich zurück, ließ seinen Blick umherschweifen und genoss die ansteckende Ausgelassenheit um sie herum.
Es war lange her, dass er solche Unbeschwertheit und Freude erlebt hatte. Viel zu lange! Für einen Moment schienen die letzten drei Winter so weit entfernt, der Krieg nur das Gespinst eines Nachtmahres gewesen und die letzte Nacht nie geschehen zu sein. Beinahe fühlte Cru sich wieder daheim, innerlich wie äußerlich angekommen. Er mochte es selbst kaum glauben, doch es stimmte. Hier und jetzt, in diesem Moment, fühlte er sich so gut wie lange nicht mehr. Wäre da nur nicht diese ohnmächtige Erschöpfung, die in jeder Faser seines Leibes steckte und ihn jederzeit in den Staub zu schicken drohte, schloss er die Augen nur wenig länger als einen Atemzug.
„Nein! Yo Valkja und ein … Niemals! Ihr wollt mich wohl am Narrenseil führen?“
Die laute Stimme Lŷsandro Vibors durchschnitt die Gedanken des Sibulek und katapultierte ihn wieder ins laute Jetzt. Irritiert blickte er zu dem Regenten Roocs, der in ein angeregtes Gespräch mit Inor und Forso verstrickt war und diese mit leicht aufgerissenen Augen und halbgeöffnetem Mund ansah.
„Doch, doch, Hoheit, glaubt es ruhig. So wahr ich hier vor euch sitze, so wahr sind meine Worte.“
In des Viborianers Erstaunen mischte sich Belustigung und ein Schmunzeln zuckte um dessen Mundwinkel. Cru verstand kein Wort.
„Oh, also das hätte ich nun als Allerletztes erwartet!“, platzte es aus dem Fürsten heraus, bevor er die Stimme wieder senkte. „Versteht mich nicht falsch, Euch und General Kanîja kann ich mir durchaus gut an einem heiligen Ort wie Prucna Tencone vorstellen“, sagte er leise und schielte dabei auffällig zu Yo. „Doch, nun ja … Yo Valkja als … … … Mönch? Tut mir leid, das übersteigt meine Phantasie.“
„Wir wissen genau, was Ihr meint“, kicherten die Jünglinge und auch Cru schmunzelte unwillkürlich.
Über neun Winter war es nun her, dass sie das Kloster, in dem er nahezu sein komplettes zweites Leben und auch die Brüder den Großteil ihrer Kindheit verbracht hatten, auf Grund einer fixen Idee seines Gefährten verlassen hatten. Ein Atemzug nur im Zeitsand der Geschichte und doch fühlte es sich an wie eine kleine Ewigkeit. Wie ein Wachtraum längst vergangener Tage. Ein Traum, an dem der Sibulek festhielt und zu dem er zurückkehren wollte. Sicher nicht heute oder morgen, vielleicht auch nicht in einigen Tagen oder Mondzyklen. Doch über kurz oder lang wollte er Yara hinter sich gelassen haben und in die friedvolle Abgeschiedenheit Arkantoryias zurückgekehrt sein.
Ein Leuchten erglomm in Lŷsandro Vîbors Augen, als er erneut zu Yo hinübersah und eine Hand nach diesem ausstreckte.
„Besser, Ihr sprecht ihn nicht darauf an“, warf Cru ein und legte die Hand sanft, aber bestimmt auf den Arm des Viborianers.
„Wieso das, wenn ich fragen darf?“ Die Stimme des Fürsten klang gleichermaßen verwundert wie erzürnt.
„Nun, dies hätte mit Sicherheit eine höchst unbrüderliche Antwort zur Folge“, entgegnete der Anführer der Weißen Wölfe und zog seine Hand zurück.
Dies war zwar nicht die volle Wahrheit, sollte für den Moment jedoch genügen. Dankenswerterweise grinsten Inor und Forso ob seiner Antwort unwillkürlich bis über beide Ohren und nickten zustimmend. Dennoch blickte Lŷsandro Vîbor nicht so drein, als ob er es dabei bewenden lassen konnte. Oder wollte.
„Nun, sicher könnt Ihr mir ebenso gut Auskunft erteilen, General Kanîja.“
Lautlos atmete Cru aus. Er hatte es geahnt.
„Ich nehme an, dies ist der Grund für Eure außergewöhnlichen Sprachkenntnisse?“
Mit festem Blick sah der Sibulek den Viborianer an. Er hatte mit jeder anderen Frage gerechnet. Fürst Vîbor schien sich dieses Mal nicht mit Höflichkeitsgeplänkel aufhalten und gleich zur Sache kommen zu wollen.
„Ich verstehe nicht“, entgegnete der Zweite General abwartend.
„Nun, ich denke doch“, lächelte der Regent Coos und Cru wusste nicht, ob diese Geste ihn beruhigen oder provozieren sollte. „Es ist lange her, dass ich die alte Zunge vernommen habe, doch ich meine, die klangvollen Laute von Alt-Ashturisch erkannt zu haben.“
„Ark’…“, verbesserte der Sibulek unwillkürlich, biss sich aber noch im selben Moment auf die Zunge.
Einen Augenblick lang sah Lŷsandro Vîbor ihn mit verengten Augen an, dann schien sein Geist das abgebrochene Wort zu Ende geführt zu haben und seine Mimik hellte sich schlagartig auf. „Natürlich! Die verlorene belcantische Sprache der Albellyll. Daher dieses dunkle Timbre und Vibrato der Laute“, rief der Viborianer laut aus und seine Augen erstrahlten.
Im selben Moment drehten sich einige Männer skeptischen Blickes zu ihnen um und der Fürst verstummte. Mit Unschuldsmine wartete er, bis alle Augen sich wieder auf andere Dinge richteten, und fuhr dann mit gesenkter Stimme fort. „Ark’antoryianisch ist eine meiner liebsten Sprachen der alten Welt, müsst Ihr wissen. So wunderschön.“ Lŷsandro Vîbor seufzte.
Cru erwiderte nichts. Einerseits teilte er des Regenten Faszination für diese wirklich wunder- und klangvolle Sprache, die insbesondere in Gebeten, Andachten und Liedern ihre ganze Schönheit entfaltete. Andererseits stand das Studium der alten Zungen in Lanoi ebenso streng unter Strafe wie jegliches sonstige Wissen um die alte Welt.
„Wie, wenn ich fragen darf, ist es denn zu dieser ungewöhnlichen Begebenheit gekommen?“
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Cru Lŷsandro Vîbor an. Welche Begebenheit? Was meinte der Fürst? Der Heermeister konnte dem plötzlichen Umschwung nicht folgen.
„Was Euch ins altehrwürdige Heiligtum des Dritten Ordens der Battámon verschlagen hat, meine ich. Soweit mir bekannt, war dieser Orden noch nie besonders aufgeschlossen gegenüber Fremdlingen.“
Cru verengte die Augen. Der Herrscher Roocs war gut informiert. Beängstigend gut! Besser als jeder Spion. Und noch immer ließ der Viborianer weder in Mimik oder Gestik noch Worten seine Gesinnung erkennen. Der Sibulek wurde einfach nicht schlau aus diesem Mann. Dennoch sagte sein Instinkt ihm, dass Lŷsandro Vîbor keine Gefahr, kein Feind war. Wenngleich er selbiges Urteil gestern Nacht auch über Yo gefällt und diesen Irrtum beinahe mit dem Leben bezahlt hatte.
Der Anführer der Weißen Wölfe spürte, wie er rot wurde, und warf einen zaghaften Blick auf Yo, der noch immer ausschließlich mit seinem Essen beschäftigt war und ihre Gespräche komplett ignorierte. Seufzend zwang Cru sich, seinen Blick auf die vertrauten Gesichter ihrer Schüler zu lenken. Diese sahen einander grübelnd an und zuckten beinahe zeitgleich mit den Schultern, worauf sich nun drei Augenpaare erwartungsvoll auf ihn richteten. Er jedoch schwieg. Über die Zeit, bevor Yo und er die Jungen bei sich aufgenommen hatten, und insbesondere über die ersten Winter ihrer Bekanntschaft hatten sie seit jeher geschwiegen.
„Das ist eine lange Geschichte“, entgegnete er daher und winkte ab. Doch weder der Fürst noch die Jungen schienen seine abschlägige Antwort zu akzeptieren und sahen ihn unvermindert interessiert an. „Eine sehr lange Geschichte“, fügte er mit Nachdruck an und wandte demonstrativ den Blick ab. Zwar war das mit Sicherheit nicht der feinste Umgang mit einem Regenten, doch der Viborianer schien ihm geschickt genug, seinen Gesprächspartnern unbemerkt Informationen zu entlocken. Eine Gefahr, der der Zweite General nicht trotzen wollte. Nicht in der heutigen Nacht.
Lŷsandro Vîbor schien, seinen Affront ebenso gelassen hinzunehmen, wie am Nachmittag die mehrmalige Brüskierung durch Yo. Offenbar war der Ruf, der dem Herrscher Roocs vorauseilte, wahr und der Fürst ihm in Sachen Langmut ebenbürtig. Vielleicht war er aber auch einfach nur Taktiker genug, um von seinem Zielobjekt abzulassen, wenn dieses sich augenscheinlich verweigerte, und sich stattdessen leichterer Beute zuzuwenden. Mit beiden Ohren lauschte Cru daher heimlich der wiederaufgenommenen Unterhaltung des Fürsten mit Forso und Inor.
Nachdem ihr Gast sich zufriedenstellend nach dem Verbleib seiner beiden Untertaninnen erkundigt hatte, löcherte er Inor und Forso mit allerlei Fragen über Land, Leute und Gepflogenheiten. Alles harmlos und kaum verfänglich. Die jungen Männer gaben gut gelaunt Auskunft und wie üblich verfiel insbesondere der Blondschopf dabei rasch in lebhaftes Erzählen. Seine Worte schmückte er mit Anekdoten aus und entfernte sich zumeist recht schnell vom Kern der ursprünglichen Frage. Typisch Forso eben. Lŷsandro Vîbor schien dies jedoch in keiner Weise zu stören. Im Gegenteil, immer wieder befeuerte er den Rededrang der Jünglinge durch geschickte Nachfragen. Doch auch das war weder als heikel noch bedenklich zu beurteilen, befand Cru. Vielleicht war der Fürst ja tatsächlich nur neugierig. Das angeregte Gespräch in seinem Rücken rückte daher zusehends in den Hintergrund seiner Wahrnehmung, während die fröhliche Musik und die weinseligen Gesänge sich mit Macht in den Vordergrund spielten.
Erst als zum dritten Mal der Name seines Gefährten fiel, wurde der Sibulek hellhörig und gewahrte, dass Lŷsandro Vîbor über verschlungene Pfade immer wieder auf diesen zu sprechen kam. Gerade eben erst hatte er von Inor in Erfahrung gebracht, wie es um die Treue des dritten Heeres zu seinem Anführer und umgekehrt stand, und nun schien dem Fürsten die Frage nach der Loyalität Yos gegenüber dem Herrscherhause Lanois auf der Zunge zu liegen. Allmählich wurde es doch verfänglich.
Bevor der Viborianer die mutmaßliche Frage jedoch stellen oder der Sibulek einschreiten konnte, ertönten die zitternden Klänge einer Zosaj. Das urtümliche, lanoische Saiteninstrument, das ob seiner jammernden, an menschliches Weinen erinnernden Laute über die Landesgrenzen hinaus bekannt und bei laienhaftem Spiel berüchtigt war, zog die Aufmerksamkeit aller in Windeseile auf sich.
„Was ist das für ein Lied? Ich meine, es zu kennen, und doch scheint es mir völlig fremd“, fragte Fürst Vîbor in die Runde.
Lächelnd erwiderte der Sibulek: „Das ist gut möglich, Fürst. Cynbelhien, ein altes Klagelied, das an die Vergänglichkeit von Allem erinnert, ist in abgewandelter Form und variierender Ausführung im Liedgut nahezu jeden Volkes verwurzelt. Ich bin mir sicher, dass auch in viborianischer Tradition eine Fassung davon existiert.“
„Ȼîmbalînĵa“, warf Yo plötzlich ungefragt beiläufig ein. Dann schnippte er den letzten, sauber abgenagten Knochen ins knisternde Feuer und wischte die blutverschmierten Finger kurzerhand an seiner dunklen Lederhose ab.
„Die Elegie des Schweigens!“, rief Lŷsandro Vîbor im Ton der Erkenntnis und deutete einen leichten Schlag mit dem Handballen an die Stirn an. „Ihr habt recht: Das ist eine seit Generationen überlieferte Melodie, die insbesondere in stark verwurzelten Häusern mit sehr langer Familientradition zu Leichenbegängnissen gespielt wird.“
„In Lanoi ist es üblich, nach überstandener Schlacht und Beendigung eines Krieges dieses Lied im Gedenken an gefallene Schwertbrüder zu spielen“, erklärte Inor. „Nach alter Sitte am Abend der Brennenden Bänder zu jedem leeren Sandglas bis zum letzten Schrei des Gragals. Ihr werdet es heute Nacht also noch mehrmals zu hören bekommen.“
„Zu jedem Sandglas?“, fragte der Viborianer und zog die Augenbrauen hoch.
„So will es der Brauch.“
„Pf, was für ein Aufstand!“, warf der Dritte General von der Seite her ein und schnaufte verächtlich. Sofort bedachte Cru ihn mit einem strafenden Blick.
„Was denn?“, hob sein Partner sich keiner Schuld bewusst die Arme. „Ist doch so: Erst einen Krieg anzetteln und dann Klagelieder anstimmen.“
„Was genau meint Ihr damit?“, hakte der Fürst mit deutlich irritierter Miene nach.
Cru ahnte, was Yo erwidern würde, und schüttelte verneinend den Kopf. Wie üblich übersah sein Freund dies aber geflissentlich, richtete sich stattdessen kerzengerade auf und blickte dem Viborianer direkt in die Augen.
„Ich meine: Es ist doch immer wieder dasselbe mit euch Menschen! Zieht man in einen Kampf, weiß man, dass es Tote geben wird – auf beiden Seiten –, und braucht sich hinterher nicht zu beklagen. Ist man dem Leben aber derart verhaftet wie ihr, die ihr für eure Gefallenen jedes Mal so ein Tamtam veranstaltet, sollte man einfach die Finger vom Schwert lassen!“
Feingefühl war wirklich nicht Yos Stärke, dachte Cru bei diesen Worten kopfschüttelnd und sah ihn erneut tadelnd an. „Yo!“
Inständig hoffte er, dass Yo solch unbedachte Reden nicht allzu oft vor den eigenen Kriegern oder gar dem Magistraten geschwungen hatte. Von den falschen Ohren gehört, konnten Worte wie diese sehr schnell ein sehr hässliches Nachspiel haben!
„Entschuldigt bitte, Fürst Vîbor. Mein Partner ist bisweilen etwas unsensibel“, sagte Cru an den erschrocken dreinblickenden Regenten Roocs gewandt und seufzte, wobei er Yo abermals mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte.
Augenscheinlich zwei zu viel für dessen Geschmack, denn sein Schwertbruder wandte sich schnaufend wieder ab. ‚Ist es denn zu glauben?‘, maulte Yo im Geiste weiter. ‚Jetzt darf ich also nicht einmal mehr im Kreise meiner Freunde meine Meinung sagen, bloß weil das hochwohlgeborene Sensibelchen Lŷsandro Vîbor anwesend ist. Dabei sehe ich ihn noch ganz genau zu meinen Füßen kriechen und um das Leben seines Bruders winseln, als wäre es erst gestern gewesen.‘
‚Ich kann dich hören.‘
„Ist doch wahr“, brummte Yo hörbar laut und verschränkte die Arme vor der Brust. Noch immer abgewandt murrte er ungeachtet der Anderen weiter vor sich hin, während er mit einem Stöckchen im Lagerfeuer herumstocherte. „Wenn ich vom Schlachtfeld nicht wiedergekehrt wäre, hätte kein Gragal danach gekräht. Im Gegenteil, vermutlich hätten sie sogar noch ein Freudenfest ob meines Ablebens gefeiert. Eines ist mal sicher: Sollte eines fernen Tages tatsächlich der Zeitpunkt meines Todes kommen, würde niemand einen solchen Zirkus für mich veranstalten. Niemand um mich trauern.“
Cru konnte kaum glauben, was er da hörte, und verschluckte sich an seinem Getränk.
„Doch! Wir!“, insistierten Inor und Forso gleichzeitig.
Augenblicklich drehte Yo sich wieder um und warf ihnen lachend entgegen: „Das hättet ihr wohl gern, was? Ha! Darauf könnt ihr lange warten. Das erlebt ihr nicht!“
Die Bestürzung stand sowohl dem Fürsten Roocs als auch den Jünglingen ins errötete Gesicht geschrieben. Insbesondere Inor sah noch im selben Moment weg und Traurigkeit mischte sich in seine Gesichtszüge. In Momenten wie diesem war der Braunhaarige nur zu bedauern. Yo schien völlig vergessen zu haben, was sein Ziehsohn in den letzten Wintern an seiner Seite durchgemacht hatte und dass er mit solch gedankenlosen Reden gerade ihn am härtesten traf. Genauso wenig, wie er zu merken schien, welch ungeheuerliche Botschaft er unterschwellig damit sandte.
Erneut schüttelte der Sibulek ungläubig den Kopf und fragte sich, wie man derart zielsicher sensible Situationen verkennen konnte. Manchmal war er tatsächlich versucht, seinem Gefährten einfach mit handfesten Mitteln ein wenig Einfühlungsvermögen und Vernunft einzubläuen. Denn selbst diese allgemeine Betretenheit entging Yo, der sich nur vielsagend grinsend wieder ab- und seiner Lieblingsbeschäftigung zugewandt hatte: Dem Spiel mit den Flammen des Lagerfeuers vor ihm.