Einige Zeit später hatten die fünf Männer sich an einem anderen Lagerfeuer im vorderen Burghof wiedergefunden. Auf Inors und Forsos Drängen hin waren sie einer Spielmannsgruppe aus dem Zwillingsreich hierher gefolgt und saßen nun im Kreise ihrer Untergebenen in Sichtweite des großen Hoftores vor dem Wehrturm, der die Stallungen vom Westflügel trennte. Die vier Männer und drei Frauen der Spielgruppe erfreuten die Ohren mit bekanntem Liedgut in viborianischer Variation und die Augen mit anmutigem Tanz. Jede Darbietung erhielt ehrlichen Applaus, die Damen ernteten begeisterte Pfiffe und wann immer die Krieger Lanois ein Lied erkannten, sangen sie den Text in ihrer Landessprache lautstark mit. Insbesondere Inor und Forso genossen die Darbietungen sichtlich und nachdem selbst Yo nach zwei, drei Stücken in der Sängerin der Gruppe und einer Musikantin die beiden viborianischen Begleitungen der Jungen erkannt hatte, war klar, weshalb die Brüder sie hierher gelotst hatten. Was die zwischenzeitlich aufgehellte Stimmung seines Partners gleich wieder dämpfte.
Nach einigen flott-fröhlichen Liedern schwebten plötzlich eigenartig langgezogene und verzerrte hohe Töne durch die Luft und mit einem Schlag wurde es mucksmäuschenstill. Gespräche und Gesänge erstarben und ausnahmslos alle sahen sich suchend um. Auch Cru horchte sofort auf. Er kannte diese einzigartigen Klänge, doch dass er sie vernommen hatte, war eine Ewigkeit her.
Die sphärischen, nahezu feenhaften Töne entsprangen den zarten Händen Sienneas. Die junge Frau saß in der Mitte der Spielmannsgruppe im Schneidersitz und in ihrem Schoß ruhte ein seltsam anzuschauendes Instrument: ein hölzerner Kasten, der an einer Seite mit kleinen Luftöffnungen und auf der anderen mit einer gebogenen Metallstange, die in die Truhe zurücklief und wie ein großer Griff aussah, versehen war. Oberhalb der Öffnungen ragte ein weiterer Metallstab in die Höhe. Saiten oder Bespannungen, auf denen man spielen konnte, besaß der eigenartige Kasten augenscheinlich jedoch nicht. Versunken saß Siennea da und bewegte ihre geöffnete, linke Hand über der seitlichen Metallschleife mal langsam, mal schneller auf und ab, während die Finger ihrer rechten Hand zitternde Bewegungen vor der aufrechten Metallstange vollführten, als zupften sie eine unsichtbare, dort befestigte Saite.
„Was ist das?“, flüsterte Inor mit hörbarer Ergriffenheit in der Stimme.
„Ein Wilasoy“, raunte Cru.
Damals, auf seinen langen Reisen durch die entlegensten Winkel des Nordens Elobias waren ihm Erzählungen zu einem wundersamen Instrument, das die Barden Ashturiens als Klangkasten der Wilen und Feien besangen, zu Ohren gekommen. Dem Vernehmen nach war es ein Relikt der Viae und wurde den Albellyll oder den Dryanys zugeschrieben. Ein Mysterium, eine Sage, von deren früherer Existenz einzig alte, vergilbte Pergamente und fast vergessene Lieder noch zeugten. In Vashra Thyn, einem alten, mittlerweile aufgegeben Kloster seines Ordens, hatte der damalige Abt ihm einige Zeichnungen sowie ein vollständig erhaltenes Exemplar gezeigt. Und irgendwo in den undurchdringlichen Wäldern Arkantoryias war ihm dereinst das einmalige Glück beschieden gewesen, einem mutmaßlichen Nachfahren der Albellyll zu begegnen und diesem beim Spiel mit jenem geheimnisumwitterten Instrument beizuwohnen.
Schlagartig wurde Cru von der gleichen ehrfürchtigen Faszination ergriffen wie damals in der Wildnis am Lagerfeuer des Verletzten, dessen betörende Melodie seinem rastlosen Herzen tiefe Ruhe und seinem ratlosen Geist Zuversicht geschenkt hatte. Nie hätte er für möglich gehalten, jemals einen Menschen darauf spielen zu hören. Doch die schaurig-schönen Töne, die Siennea dem hölzernen Kasten entlockte, standen denen des Albellyll nur wenig nach. Ein außergewöhnliches Klangerlebnis, das außer ihm wohl noch keiner der Anwesenden je erlebt hatte: Fragil. Unheimlich. Geisterhaft!
Dicht an dicht drängten die Männer, um das Mädchen mit dem Zauberkasten zu beäugen, doch keiner wagte, auch nur das leiseste Geräusch zu verursachen. Es war, als hielte der gesamte vordere Burghof ehrfürchtig die Luft an und lauschte ergriffen der ätherischen Melodie. Selbst Yo hielt in seinem Tun kurz inne.
Forso indes wandte den Blick nicht einen Wimpernschlag von dem wunderschönen Mädchen mit den feuerrot schimmernden Haaren und mochte sich offensichtlich gar nicht sattsehen an dem Anblick dieses lieblichen Geschöpfes. Ein verträumtes Lächeln nahm fast sein gesamtes Gesicht ein und Cru hatte den Eindruck, sein Ziehsohn war der Welt um sich herum entrückt. So wie er vormals beim Totengebet mit seinem Partner. Nur dass dem Blondschopf mit Sicherheit gänzlich andere Gedanken durch den Kopf spukten als ihm vorhin.
Noch während alle Augen auf Siennea ruhten, löste sich die Sängerin der Spielmannsgruppe aus dem Schatten der Musikerin. Mit betörendem Hüftschwung tanzte sie anmutig zu den sphärischen Klängen und als sie ihren Gesang anstimmte, schien es schlagartig auch um Inor geschehen. Blickte er vor wenigen Wimpernschlägen noch so drein, als wollte er seinen Bruder ob dessen übermäßiger Bezauberung necken, starrte er nun gebannt auf Anaise.
Der Sibulek schmunzelte. Ihre romantischen Gefühle standen den Jünglingen direkt ins Gesicht geschrieben. Leugnen war zwecklos. Doch er gönnte den jungen Männern jeden einzelnen Schmetterling und jeden harten Herzschlag, der ihr Blut derart in Wallung brachte, dass beide Farbe im Gesicht bekamen. Und Cru musste gestehen, dass die Damen durchaus eine Augenweide waren. Während Siennea, die augenscheinlich Jüngere, mit mädchenhafter Lieblichkeit betörte, versprühte Anaise einen ganz anderen Reiz. Ihr rotblondes Haar glänzte im Feuerschein, die wilden Locken umspielten ihr sanftes Gesicht mit den feinen Zügen, ihre olivgrünen Augen funkelten mit den lodernden Flammen verheißungsvoll um die Wette und ihren zart geschwungenen Lippen entsprangen Worte der alten Zunge mit einer Stimme die dunkler und kraftvoller war als ihre Sprechstimme. Eine geheimnisvolle Aura umgab ihre Gestalt, die in ein dunkelgrünes Gewand mit vielen Fransen und Bändern, die beim Tanzen um sie herumflogen, gehüllt war.
Ein Seitenblick auf Lŷsandro Vîbor verriet Cru, dass dieser die Gefühle der Vizegeneräle gleichfalls bemerkt hatte und sie wohlwollend aufnahm. Für einen Moment kam es dem zweiten Heermeister gar so vor, als atmete der viborianische Herrscher erleichtert auf. Lediglich Yo konnte sich beim Anblick seines in eine andere Welt entrückten Zöglings keine freundliche Mimik abringen und verengte die Augen zu Schlitzen.
„Jetzt schmoll nicht und freu dich lieber für die Jungs“, raunte Cru ihm auffordernd zu.
Doch sein Gefährte schnaufte nur verächtlich und knurrte: „Ein bis über beide Ohren verliebter Schüler, der seinen Kopf in den Wolken trägt und auf selbigen umher schwebt, ist das Letzte, was ich zu all den täglichen Übeln hier brauche.“
Cru wollte noch etwas erwidern, doch da stimmte die viborianische Spielmannsgruppe ein weiteres Lied an und zog seine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Zum wiederholten Male musste er dem Mut der Liederwahl Respekt zollen. Die alte Weise, die sowohl in den Landen Lanois als auch des Zwillingsreiches vor langer Zeit aus dem erlaubten Liedgut gestrichen worden und daraufhin weitgehend in Vergessenheit geraten war, besang die Tatsachengeschichte einer Edelfrau Lanois, die gegen jede Widerstände dem Weg ihres Herzens folgen und mit einem viborianischen Krieger von Adel den Bund des Lebens eingehen wollte. Am Tag der Hochzeit jedoch fiel die Braut einem heimtückischen Mordanschlag ihres eigenen Bruders zum Opfer und dieser in der Folge der verzweifelten Vergeltung des Bräutigams. Anschließend zog der um das Liebste in der Welt betrogene Mann in die Welt hinaus, kämpfte in ihrem Namen in vielen Schlachten und fiel. Das herzergreifende Lied war ein Lehrstück, das nur noch wenige kannten und noch weniger vorzutragen wagten. Es war eine Mahnung an die heutige Gesellschaft, in der die moralischen Zwänge nicht minder stark waren und eine solche Verbindung wie die besungene sicher noch immer ungern gesehen und mit allerlei Repressalien verbunden war. Wobei Cru eingedenk ihrer Zöglinge hoffte, dass er sich diesbezüglich irrte.
Inbrünstig und mit Herzblut gesungen trieb das tragische Lied so manchem Krieger Schwermut in die Augen und ließ verbandelte Recken die Hand an die Brust oder ihre Liebste noch fester an sich drücken. Auch Cru bewegte Anaises Gesang im Herzen und seine Bewunderung für diese selbstbewusste und mutige junge Frau wuchs. Noch immer war der eigentlich gut besuchte Burghof von ehrfürchtigem Schweigen erfüllt. Nur ab und an durchbrachen leise, unterdrückte Seufzer die Stille und ringsum sah man verdächtig viele Hände verstohlene Tränen aus hartgeschnittenen Gesichtern wischen. Yo indes war augenscheinlich der Einzige, der dieser Lobpreisung der Liebe nichts abgewinnen konnte. Was Cru unerwartet einen kleinen Stich ins Herz versetzte.
`Liebe. Pah! Solche Gefühlsduseleien können mir gestohlen bleiben!´, murrte Yo im Geiste und wärmte seine Hände an den Flammen. `Was haben die Menschen und all die anderen Völker nur immer mit der Liebe? Was ist an der schon so großartig?´ Grollend drehte der dritte Heermeister die Augen nach oben und stieß die angestaute Luft durch die Zähne aus.
Ein kühler Hauch von Traurigkeit und Resignation legte sich um Crus Brustkorb. Wie oft schon hatte er versucht, Yo Sinn und Bedeutung dieser fünf Buchstaben zu erläutern? Immer und immer wieder. Seit sie einander begegnet waren, rang er nun schon darum, seinem Freund und Partner begreiflich zu machen, was Liebe war. Welche Magie ihr innewohnte. Wie sie sich anfühlte. Und doch verstand Yo es bis heute nicht. Für ihn war Liebe vor allem Eines: die vielleicht größte aller menschlichen Schwächen! Und allem Anschein nach hatte auch die letzte Nacht nichts daran geändert. Ein Gedanke, der Cru mehr betrübte, als vermutlich gut war.
„Jetzt schau mich nicht so vorwurfsvoll an. Du weißt, was ich von diesem Schwachsinn halte. Also lern es endlich“, sagte Yo. „Wie oft willst du es noch versuchen?“
„Bis du es verstanden hast!“, erwiderte Cru trotzig, bevor dieses Gefühl, das ihm die Kehle zuschnürte, sich Bahn brechen konnte.
An Antwort statt schnaufte sein Gefährte lachend. Unvermittelt wechselte die Musik, schlug beschwingtere Töne an und die Frauen begannen zu tanzen. Yos ungnädiger Blick wanderte zu Inor, der noch immer von Anaises Darbietung gefesselt war.
„Sieh ihn dir an. Dieses dümmliche Grinsen. Als wäre er ein Schwachsinniger. Ich könnte ihn abstechen, ohne dass er es auch nur bemerken würde. Der Junge würde vor aller Augen verbluten, ohne den geringsten Funken Gegenwehr oder auch nur zu ahnen, wie ihm widerfahren ist. Untragbar. Ich brauche einen zurechnungsfähigen Adjutanten, keinen liebestrunkenen Trottel. Seine Begehrlichkeiten sind derart sichtbar, selbst eine Hure könnte sich nicht offenkundiger anbieten.“
„Du übertreibst.“
„Ach ja? Wenn ich dieses Mädchen so anschauen würde, würde er mich auf der Stelle töten.“
Ein heimtückisches Grinsen verzog die Mundwinkel des dritten Heermeisters und seine Augen blitzen im Feuerschein auf. Noch ehe Cru reagieren konnte, versetzte sein Partner Inor einen Tritt in den Rücken und der junge Mann schlug zu Anaises Füßen der Länge nach hin. Lachend half das Mädchen dem völlig überrumpelten Braunhaarigen wieder auf die Beine, klopfte ihm unter dem schadenfrohen Gejohle seiner Schwertbrüder den Staub aus der Kleidung und band ihn dann kurzerhand in ihren Tanz ein. Sofort ergriff Siennea die Gelegenheit beim Schopfe, zog Forso ebenfalls hoch und schloss sich ihnen an. Andere folgten ihnen und innerhalb kürzester Zeit drehte und wiegte sich fast jeder, der eine Begleitung bei sich hatte, im Tanz.
„Hat wohl nicht ganz geklappt, dein Anschlag“, stichelte Cru und schenkte Yo ein Lächeln, das sicher nicht frei von Spott war.
Zu seiner Überraschung hellte dessen mürrische Miene sich kurz darauf auf. Mehr noch, ohne Aufforderung wandte sein Partner sich ihm zu und begann sogar, mit den Fußspitzen zu wippen. Sämtlicher Groll war aus Yos Gesicht gewichen und hatte einem spitzbübischen Ausdruck Platz gemacht. Fast konnte man meinen, die allgemeine Freude und Ausgelassenheit hatte endlich auch auf den Anführer des Roten Mondes abgefärbt. Doch einerseits kannte er Yo dafür einfach zu gut und andererseits sprach dessen Grinsen, das vor Schadenfreude nur so sprühte, ebenfalls eine andere Sprache. Sein Gefährte freute sich diebisch über irgendetwas. Wenn er nur wüsste, was es war.
„Sag bloß, du findest plötzlich doch Gefallen an Musik und Tanz?“, fragte Cru laut und versuchte, den anderen General aus der Deckung zu locken.
Doch Yo antwortete nicht. Einzig die Augenbrauen zog er hoch und sein Grinsen wurde breiter. Der Ehrgeiz des Sibulek war geweckt. Um sie herum war nichts Auffälliges zu entdecken und auch ihre Zöglinge konnten nicht die Ursache für die verdächtig gute Laune seines Gefährten sein. Eines jedoch war auffällig: Je treibender der Rhythmus der Musik, je aufreizender die Hüftschwünge der Tänzerinnen, je wilder die johlende Anfeuerung der Krieger und je berauschender die ganze Atmosphäre wurde, desto süffisanter wurde Yos Grinsen.
`Was, um alles in der Welt, amüsiert ihn derart?´, grübelte Cru. Das Verhalten seines Partners war befremdlich und dessen Gedanken nicht erraten zu können, kratzte an seinem Stolz.
Ein kurzer Blickkontakt beider Männer, eine fragend hochgezogene Augenbraue seitens Cru und keck platzte es aus Yo heraus: „Wenn der Rat wüsste, was in diesen Liedern besungen wird, würden die alten Vetteln auf der Stelle tot umfallen!“
Irritiert sah Cru, der kein bisschen auf den Liedtext geachtet hatte, zu Fürst Vîbor, der noch immer neben ihm saß, an seinem Tonkrug nippte und sogleich entschuldigend mit den Achseln zuckte. „Ach ja?“, fragte der Anführer der Weißen Wölfe wieder an seinen Freund gewandt und beugte sich zu diesem hinüber. „Was denn?“
Schlagartig verstummte Yo und sah weg. Cru rätselte erneut. Was konnte gleichermaßen den Rat schockieren und Yo belustigen? Der Sibulek spitzte die Ohren, doch die alte Zunge mochte sich ihm in all dem Trubel nicht sofort erschließen. Also verließ er sich auf das einzige Mittel, das ihm blieb: Seinen hartnäckigen, bohrenden Blick, der Yo noch immer aus der Deckung gelockt hatte. Und auch dieses Mal führte er zum Ziel, denn augenrollend gab sein Gefährte nach einer Weile zu verstehen, dass Lieder wie diese in früheren Zeiten üblicherweise zu Orgien und ausschweifenden Gelagen gespielt wurden.
„Oho!“, entrang Lŷsandro Vîbor sich ein langgezogener Ausruf der Verwunderung und ein schiefes Grinsen machte sich im Gesicht des Regenten breit. „Wenn dem so ist, kann ich mir denken, was besungen wird. Wie allgemein bekannt ist, pflegte man zu Zeiten meiner Vorväter in allen gesellschaftlichen Kreisen und Schichten weitaus frivolere und zügellosere Sitten als heute.“
Cru nickte zustimmend und verstand damit auch Yos Belustigung. Eine Frage jedoch blieb. „Woher weißt ausgerechnet du das?“
Erneut zögerte sein Freund und kratze sich am Hinterkopf. „Nun … ich … na ja … Verdammt, Cru, zu unseren Jugendzeiten war die alte Zunge noch vielerorts lebendig. Schon vergessen? Wir sind weit umhergereist. Was weiß ich, wo ich diese dämlichen Texte aufgeschnappt habe? Außerdem sind das uralte Viborianer-Lieder. Also löchere gefälligst ihn hier!“
Damit reckte er das Kinn gen den Fürsten, der die Augenbrauen hochzog und die Hände hob.
„Ich?“, fragte Lysandro Vibor lachend. „Tut mir leid, Yo, aber dafür bin ich etwa zwei bis drei Generationen zu jung. Mein Urgroßvater hätte Euch sicher weiterhelfen können und bei seinem Charakter wäre es ihm auch eine Freude gewesen.“
Damit wollten es sowohl der Fürst als auch der dritte Heerführer augenscheinlich bewenden lassen, doch Cru hakte erneut nach. „Das war nicht die Frage, Yo. Die Frage war: Was hat dich denn bitte auf eine Orgie verschlagen?“
Augenblicklich huschte ein Hauch von Blau über die Wangen seines Gefährten und Yos Blick nahm einen gleichermaßen drohenden wie bittenden Ausdruck an. Ein seltsamer Gedanke drängte sich Cru auf und formte ein befremdliches Bild, das unmöglich wahr sein konnte, vor seinem geistigen Auge.
„Ich meine, da wird gefeiert, getanzt, gelacht, geküsst und körperliche Nähe ausgetauscht. Alles Dinge, mit denen du ja bekanntlich nichts anfangen kannst“, sagte er mit Nachdruck, um eben jenes Bild aus seinem Kopf zu vertreiben.
„Na danke, du Mistkerl!“, zischte sein Partner und knirschte mit den Zähnen. Dann beugte er sich leicht zu ihm und verengte die funkelnden Augen. „Du solltest wissen, wozu ich diese Feste genutzt habe. Menschen in Rausch und Ekstase sind leichtsinnig und schutzlos. Es fällt kaum auf, wenn dabei jemand verschwindet.“
Cru wurde heiß und kalt, noch bevor Yo ausgesprochen hatte, und rechts neben ihm ertönte ein ersticktes Geräusch, als ob der Herrscher Roocs sich am Inhalt seines Kruges verschluckt hatte. Betreten biss der Sibulek sich auf die Zunge und blickte zu Boden. Verdammt! Diese Möglichkeit hatte er überhaupt nicht bedacht. Dabei lag sie auf der Hand und gerade er hätte es wissen müssen. Cru wagte nicht, seinen Gefährten anzusehen. Genauso wenig wie den Fürsten.
„Du wolltet es ja unbedingt wissen“, grollte Yo kleinlaut und schnaufte.
Indes hallten seine Worte im Geiste des Sibulek nach: `Menschen in Rausch und Ekstase sind leichtsinnig und schutzlos.´
Ein eigentümliches Gefühl, das er nicht beschreiben konnte, erfüllte Crus Brustkorb. Es war wie eine Art Wärme, die ihn frieren ließ. Eine Wärme, die gleichermaßen Unbehagen und Behaglichkeit, Angst und Wohlbefinden erzeugte.
„Nicht nur Menschen“, schlüpfte es begleitet von einem leichten Seufzer über seine Lippen, noch ehe der Zweite General über seine Worte nachgedacht hatte. Im selben Augenblick jedoch fiel ihm siedend heiß ein, dass sie nicht allein waren, sondern inmitten von an die hundert Schwertbrüdern saßen und zudem einen Gast an ihrer Seite hatten. Eine glühende Woge stieg in sein Gesicht und mit Sicherheit nahm seine Haut nicht nur dort gerade eine verräterische Violettfärbung an.
„Alles in Ordnung?“, fragte Yo und als er ihn ansah, las Cru ehrliche Ahnungslosigkeit in dessen Augen. Hohe Mutter, dieser Gesichtsausdruck war einfach zum … Am liebsten hätte er seinem Partner ein lautstarkes „Nein!“ entgegen gebrüllt, doch stattdessen erhob er sich ohne ein weiteres Wort und ging.
„Was hab ich denn nun schon wieder falsch gemacht?“, rief Yo ihm noch hinterher.
`Nichts´, antwortete Cru telepathisch, dann schüttelte er den Kopf und brach den Kontakt ab. Eine Flut ekstatischer Bilder wirbelte einem Orkan gleich durch seinen Geist und drohte, ihn wie eine Lawine unter sich zu begraben. Flucht schien ihm der einzige Weg, dem zu entkommen. Entschlossen, die Erinnerung nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, entfernte er sich schnellen Schrittes und steuerte ein Feuer weiter hinten, an dem sein Quartiermeister und zehn weitere seiner Männer saßen, an.
Drei Krüge Most, etliche unanständige Witze und ein kurzes Tänzchen später waren die Wogen in Crus Geiste wieder geglättet. Die Gesellschaft seiner Männer tat dem Sibulek gut und das komödiantisches Talent seines Marschalls Maryk in Kombination mit den aberwitzigen Erlebnissen seines Bruders Kregar, der auf Freiersfüßen wandelnd im zweiten Frühling des Krieges versehentlich für chaotische Zustände im Lager der Weißen Wölfe gesorgt hatte, zauberte ihm wieder ein Lachen ins Gesicht. Während die Krieger laut johlend ihre Tonkrüge über dem Kopf des verhinderten Freiers zusammenstießen und diesen für seine Verkettung unglücklicher Missgeschicke noch einmal nachträglich mit Met und Schwarzgebranntem übergossen, wagte der Sibulek einen Seitenblick auf seinen Gefährten. Den ersten seit gefühlt einem Sandglas.
Yo saß, beide Beine aufgestellt und die Oberarme auf den Knien abgelegt, noch immer am selben Platz, hielt noch immer dasselbe Stöckchen in der rechten Hand und schaute noch immer kein bisschen freundlicher drein. Die Lippen zu schmalen Strichen zusammengepresst, starrte er ohne zu blinzeln ins flackernde Feuer und rührte sich nicht. Schuldbewusst atmete Cru aus. Es war nicht gerade gebührlich gewesen, seinen Partner wortlos sitzen zu lassen. Zumal Fürst Vîbor zwar noch immer neben diesem saß, sich aber augenscheinlich einen redseligeren Gesprächspartner gesucht hatte, und dem dritten Heermeister nur hin und wieder einen prüfenden Blick schenkte.
Für einen Augenblick tat Yo dem Sibulek leid. Im nächsten jedoch gewahrte er die blutrote und irisierende Aura seines Partners, die wie ein schwerer Herzschlag um diesen herum pulsierte. Auch deuchte ihm, Yo hielte sich an dem dünnen Hölzchen in seiner Hand regelrecht fest. Alarmiert stellte Cru seinen Becher neben sich ab. Irgendetwas stimmte nicht. Yos Gestalt wirkte steif und hart wie Stein. Als wäre jeder Muskel seines Leibes gestrafft. Einzig der Brustkorb seines Freundes hob und senkte sich. In einem Ausmaß, das dem Sibulek eine große innere Anspannung verriet. Wachsam ließ der Anführer der Weißen Wölfe seinen Blick von Lagerfeuer zu Lagerfeuer und zwischen den Feiernden umher gleiten. Allein, er konnte nichts Verdächtiges entdecken. Dafür erspähte er etwas Anderes.
Der Anführer der Grünen Nebel stand nur zwei Feuer von Yo entfernt in ein lockeres Gespräch verwickelt und beobachtete seinen Partner dabei mit unverhohlener Neugier. Wie lange schon, konnte Cru nur raten, doch seinem Gefühl nach nicht erst seit Kurzem. Er kannte diesen Ausdruck in Cays Augen: Der Blick eines Jägers, der seine Beute im Visier hatte. Unwillkürlich erinnerte sich der Sibulek der Auseinandersetzung beider Männer im Ratssaal, deren Eskalation er nur um Haaresbreite verhindert hatte, und erhob sich.
„Entschuldigt mich, Männer.“
„Wartet, General“, rief Maryk und sprang ebenfalls auf die Füße. „Ihr schuldet mir noch eine Antwort.“
Der Sibulek grinste ob der Hartnäckigkeit seines Hauptmanns und bedeutet ihm mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen, worauf sich noch drei weitere Neugierige anschlossen. Festen Schrittes ging Cru auf Yo zu, schnappte sich im Vorbeigehen einen Becher mit Wasser und ließ den ersten Heermeister, der ihn noch nicht bemerkt zu haben schien, keinen Wimpernschlag aus den Augen. Was führte Cay im Schilde? Worauf wartete er auch jetzt augenscheinlich wieder? Und womit hatte er Yo heute Nachmittag aus der Deckung locken können? Worum war es in dem Streit gegangen? Fragen über Fragen, die sich in einer einzigen bündelten, als die bleichen Wangen seines Partners eine merkliche Blaufärbung annahmen und dieser den starren Blick hastig vom Feuer auf seine Fußspitzen lenkte: Was war nur los mit Yo? Er benahm sich wirklich seltsam. Cru erkannte ihn kaum wieder.
„Ist alles in Ordnung, Yo?“, ertönte unvermittelt Lŷsandro Vîbors Stimme. Na bitte. Selbst dem Fürsten war die Anspannung seines Schwertbruders aufgefallen. Wenn Yo jetzt die Flucht ergriff, würde Cay sich ohne Zweifel an dessen Fersen heften und ihn zu einer erneuten Konfrontation veranlassen.
Im selben Moment, in dem sein Partner tatsächlich ruckartig aufsprang, trat Cru vor ihn, drückte ihm den Becher Wasser in die Hand und Yo wortlos, aber bestimmt wieder nach unten. Den aufgewühlten, ertappten Ausdruck in den Augen seines Gefährten ignorierte er, so gut er konnte, und setzte sich seelenruhig neben ihn.
„Benimm dich nicht so auffällig. Cay beobachtet dich argwöhnisch“, war das Einzige, was er Yo knapp zuraunte. Dann stieß er mit seinen Männern, die sich im Halbkreis um ihn herum niedergelassen hatten an, verfiel wieder in angeregtes Plaudern und tat so, als ob nichts gewesen wäre. Die Frage, was Yo so heftig aufgewühlt hatte, schob er beiseite, obgleich sie ihm unter den Nägeln brannte.
Nur wenig später kehrten Inor und Forso in Begleitung von Schwertbrüdern aller drei Heere an ihre Seite zurück und das ehemals kleine Grüppchen um ihr Lagerfeuer war zu zwei Dutzend Kriegern angewachsen. Er und Yo saßen genau in der Mitte und waren damit eingekesselt. Flucht unmöglich. Was auch sein Partner zwischenzeitlich bemerkt hatte. Seltsamerweise hatte Yo sich aber nach einem großen Schluck aus dem Wasserbecher mit einem resignierten Seufzen einfach in sein Schicksal ergeben. Cru konnte es erneut kaum glauben. Noch weniger, als sein Freund sich dann auch noch einen Ruck gab, die freundlichste Miene, zu der er unter diesen widrigen Umständen fähig war, aufsetzte und sich allen Ernstes spärlich an den angeregten Gesprächen beteiligte. War das wirklich noch Yo? Was war nur mit ihm geschehen? War dieses seltsame Verhalten dem Krieg geschuldet oder war es … seine Schuld?
Der Anführer der Weißen Wölfe schluckte und mit einem Mal spürte er wieder dieses dumpfe Kreisen in seinem Kopf und die Erschöpfung in seinem Leib. Die Welt um ihn herum begann, sich langsam zu drehen, und für einen Wimpernschlag fragte er sich, was er überhaupt noch hier machte. Warum lag er nicht längst in seinem Bett und gönnte seinem Körper und seinem Geist die dringend benötigte Ruhe?
„Ihr dreckigen Saufbolde!“, polterte Yo plötzlich ohne Vorwarnung neben ihm los und sprang behände auf die Füße. „Wenn ihr sie nicht verlieren wollt, dann sperrt ihr eure Lauscher jetzt ganz weit auf! Fürst Vîbor ist ein hoher Gast Kãn o‘ Kaams und daher unantastbar! Also hütet eure Zungen, bevor ich sie euch aus euren versoffenen Mäulern reiße! Außerdem steht dieser Mann unter meinem persönlichen Schutz und ich dulde es nicht, dass jemand das Wort oder gar die Hand gegen ihn erhebt! War das deutlich genug?“
Verwundert blickte der Sibulek sich um. Was war denn jetzt los? Einige Schwertbrüder, vornehmlich aus dem dritten Heer, hatten sich vor Lŷsandro Vîbor, dessen Haar seltsamerweise nass war, aufgebaut. Es sah ganz so aus, als wäre die Stimmung in der kurzen Zeit seiner geistigen Abwesenheit gekippt und der Herrscher Roocs von einigen Männern angepöbelt oder gar bedroht worden. Augenscheinlich hatte einer von ihnen gar seinen Krug über dem Haupt des Fürsten geleert. Und offenbar hatte nicht ein Einziger damit gerechnet, dass ausgerechnet der Anführer des Roten Mondes dem Viborianer zur Seite stehen würde. Cru selbst im Übrigen auch nicht.
Betretenes Murmeln und Raunen ging nun durch die Reihen der Krieger und die lautstark Zurechtgestutzten sahen kleinlaut zu Boden. Doch Yo schien dies nicht zu genügen.
„Sollte es einer von euch Schwachköpfen in seiner grenzenlosen Dummheit dennoch wagen, mich zu Handgreiflichkeiten zu veranlassen, werde ich ihn mit Freuden höchstpersönlich und unverzüglich an diesem Baum dort aufknüpfen oder ihm mit der nächstbesten Klinge Manieren und eine schöne Körperzeichnung beibringen! Und jetzt geht mir aus den Augen, ihr stinkenden Hornochsen, und lasst euch erst wieder blicken, wenn ihr euren Rausch ausgeschlafen habt und wieder klar im Kopf seid!“
Yos Ansage saß! Nicht nur bei den eigenen Untergebenen. Kleinlaut baten alle Beteiligten den Fürsten um Entschuldigung und schlurften dann sichtbar einen Kopf kürzer von dannen. Schnaubend ließ Yo sich wieder fallen und knurrte weiter unverständlich vor sich.
„Habt Dank für Eure Unterstützung, Yo“, wandte sich Fürst Vîbor nun an seinen Verteidiger. „Ich muss gestehen, bisher habe ich mich mehr geduldet denn eingeladen gefühlt.
Cru las ehrliche Dankbarkeit, doch nicht minder ehrliches Erstaunen in den Gesichtszügen des Regenten, der mit einer Handbewegung, seine an seine Seite geeilte Leibwache wieder fortschickte.
„Ich habe gleich gesagt, dass das keine gute Idee ist. Aber auf mich hört ja keiner.“
Lächelnd winkte der Viborianer ab und verwickelte den Bezwinger des Zwillingsreiches in ein höfliches Gespräch.
„Mir ist aufgefallen, Yo, dass Ihr als einer der Wenigen, wenn nicht gar Einziger, hier im Burghof den ganzen Abend über nur Wasser getrunken und auf dem Bankett ebenfalls keinen einzigen Tropfen Wein oder Met angerührt habt. Auch Eure harten Worte gegenüber Euren Männern zeugen von einer gewissen Geringschätzung. Ihr trinkt wohl kein gebranntes Wasser?“
„Diesen Fusel? Nein!“, wehrte Yo angewidert sofort ab und schüttelte sich dabei.
Amüsiert fragte der Fürst nach: „Niemals?“
„Niemals!“
„Eine bemerkenswerte Einstellung. Und wenn ich mich so umsehe, verstehe ich nun auch, dass Ihr an Festlichkeiten dieser Art keine besondere Freude findet. Meiner Erfahrung nach sind sie ohne ein gewisses Maß Met oder Brannt tatsächlich nur schwer zu ertragen, geschweige denn zu genießen.“ Lächelnd zwinkerte der Viborianer Yo und ihm zu. Cru erwiderte die Geste höflich, Yo jedoch verdrehte nur genervt die Augen. „Gibt es einen besonderen Grund dafür?“, fragte Fürst Vîbor höflich weiter. „Mich deucht, Ihr könntet gebranntes Wasser auf Grund Eurer … Andersartigkeit vielleicht nicht vertragen?“
Mit dieser Vermutung kam der Regent Roocs der Wahrheit näher, als Cru oder gar Yo lieb sein konnte. Denn sein Gefährte vertrug tatsächlich weder Wein noch Met noch sonst irgendeine andere alkoholische Zubereitung, was sich insbesondere bei Heil- und Wundertränken jeglicher Art immer wieder gezeigt hatte. Neben all den hässlichen Nebenwirkungen, die diese Giftbrühe, wie Yo sie nannte, auch bei Menschen zeigte, beraubte sie den dritten Heermeister fatalerweise der Kontrolle über seine feuermagischen Fähigkeiten. Eine verhängnisvolle Schwäche, die Yo seiner gut gehüteten Tarnung berauben konnte und daher um jeden Preis unentdeckt bleiben musste.
Da Yo zu keiner Erwiderung gewillt schien, Cru diese Frage aber nicht im Raum stehen lassen wollte, antwortet er an seines Freundes statt: „Sagen wir, mein Partner bevorzugt gehaltvollere Getränke, Fürst. Oder um mit seinen Worten zu antworten: Wo Alkohol in Strömen fließt, selten etwas Gutes sprießt.“
„Ernsthaft?“, murrte Yo und schüttelte den Kopf.
Die Augen des Fürsten verrieten Cru, dass dessen Neugier keineswegs gestillt war und er wahlweise ihn oder seinen Gefährten liebend gern in ein weiteres Kreuzverhör verwickelt hätte. Dennoch schien der Viborianer seine höfliche, aber bestimmte Weigerung, nähere Auskünfte zu erteilen, zu akzeptieren. Überhaupt machte Lŷsandro Vibor in keinem Punkt seines Auftretens einen zwieträchtigen oder missgünstigen Eindruck und ließ auch keinerlei feindliche Gesinnung ihnen gegenüber erkennen. Doch allein die Tatsache, dass Cru ihn nicht richtig einschätzen konnte und der Fürst eine auffallende Neugier für sensible Informationen an den Tag legte, machte ihn enorm vorsichtig. Der Sibulek nahm sich daher vor, den Herrscher Roocs von nun an im Auge zu behalten und seinem Partner alsbald von dessen Wissbegier zu berichten.