Sie kam eines morgens zu mir und mit ihr die Sonne. Erst nahm sie nur ein Stückchen des zimtfarbenen Vorhangs, der mich seit Jahrzehnten umgibt, zur Seite. Langsam öffnete sie den Spalt weiter und trat schließlich nah an mich heran. Die Reifen an ihrem Arm klimperten, als sie ihn ausstreckte, um mich zu berühren. Ruhig blieb ich auf meinem schwarzen Sockel, während sie mich umrundete. Ihre Hände fühlten sich warm und weich an auf meiner glatten, runden Oberfläche. Fast wie in alten Zeiten, damals, als mein Meister regelmäßig mit mir arbeitete. Wie ihm schickte ich jetzt ihr blaue Blitze aus meinem Inneren. Sie trafen sich an meiner Oberfläche mit ihren Fingerspitzen.
„Wer bist duß Woher kommst du? Bist du schon lange hier?“ Fragen über Fragen murmelnd umrundete sie mich weiter, ihre Hände auf mir gleitend.
Gerne hätte ich ihr geantwortet, aber nach dem Willen meines Meisters darf ich nur auf die richtigen Formeln reagieren. Da sie die nicht nutzte, musste ich mich mit Farbblitzen begnügen. Genau solche, wie sie meine billigen Verwandten erzeugen.
Bezeugt von den Morgenstrahlen der Sonne knisterte es zwischen der jungen Frau und mir. Staubkörner tanzten mit uns. Wie gerne hätte ich mehr erfahren über sie! Doch auch Fragen stellen ist nichts, wofür ich erschaffen wäre.
So blieb uns nur unser tiefes Gefühl voller Verbundenheit. Ich, das Geheimnis. Sie, die Suchende. Es klingt romantisch. Aber ich sage euch: Es ist schrecklich. Nichts ist so furchbar wie die unerfüllte Sehnsucht nach der Unbekannten, wenn kein Weg zu ihr führt.
Zum Abschied schenkte sie mir Trost, der mich ganz in die Sehnsucht trieb: „Ich werde dich wieder besuchen.“ Das sind die letzten Worte, die sie zu mir sprach. Dann senkte sie den Stoff des Vorhangs auf mich herab und verschwand. Allein im Dunkeln bin ich seitdem.
Wer bin ich?