Seine ehemalige Herrin hatte ihm zum Abschied ein Haus in einer Stadt seiner Wahl erworben. Dazu bekam er eine monatliche Apanage auf ein für ihn eigens eröffnetes Konto für all die vergangenen Jahrzehnte in ihrem Dienst. Es war seiner Meinung nach zu viel, doch Lady Jacinda bekam immer ihren Willen.
»Vampire sind ja so gütig«, zischte sein Bruder erbost beim Anblick des kleinen Anwesens. Das Schicksal hatte es mit Charles nicht gut gemeint. Im Gegensatz zu Lady Jacinda waren seine Herrschaften regelrechte Monster, die ihn aus reiner Bosheit in ihrem Verlies quälten. Nahrung gab es nur, wenn er wie ein Hund darum gebettelt hatte. Gerade genug, dass Charles nicht zu einem verdorrten Etwas dahin vegetierte.
Er konnte den Hass verstehen, den sein Bruder für Vampire empfand. An seiner Stelle täte er es mit Sicherheit auch, was allerdings nicht bedeutete, dass das Leben mit Lady Jacinda problemlos vonstattengegangen war. Wie viele Menschen einen unnötigen Tod in ihretwegen gestorben war, weil sie diese schwachen Kreaturen in ihrem Zorn wie Unrat behandelte. Müll, den er zu beseitigen hatte ...
»Charles, verurteile niemanden, den du nicht näher kennst.«
Es war ein gut gemeinter Rat, der bei seinem Bruder möglicherweise irgendwann fruchtete. Doch nicht jetzt, wo die Wunden in seiner Seele noch zu frisch waren. Er schloss zunächst das Gartentor auf und bedeutete seinem Bruder, ihm ins Haus zu folgen. Überall hingen frische Duftsäckchen, weil er nichts dem Zufall überlassen wollte. Der leiseste Verdacht brachte ihn in Teufels Küche.
»Gibt es noch etwas Richtiges zu essen oder war dieses Steak alles, was ich bekomme?«
Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass es nicht genügte. Sein eigener Hunger hielt sich in Grenzen, weil er sich sagte, dass es reichte. Charles konnte – hoffentlich – noch nicht damit umgehen.
Er schaltete das Licht im Flur an und ging an seinem Bruder vorbei in die Küche. Ein feiner Raum mit einem großen Kühlschrank, der genügend Platz für Vorräte bot. Die meisten Gegenstände, wie den Ofen, benutzte er dagegen nie. Es ergab wenig Sinn, seine Mahlzeiten darin zu erhitzen.
Die Ohren gespitzt vernahm er die zögernden Schritte Charles, bis sie hinter ihm verklangen.
»Bedien dich. Es ist ausreichend da.«
»Du willst nichts, Constantine?«
»Nein, danke.«
Wenn er auch nur einen Blick hinein riskierte, überkam es ihn und er wollte nicht in diesen Rausch verfallen. Einer von ihnen sollte bei klarem Verstand bleiben, um ihrer Nachbarn willen. All das konnte Charles selbstverständlich nicht begreifen, sonst spiegelte sich kein Entsetzen in dessen Augen wieder.
»Ich wünsche einen guten Appetit.«
Wer so lange Zeit mit so wenig hatte auskommen müssen, besaß ihn mit Sicherheit.
Er selbst suchte sich im Wohnzimmer ein Buch aus einem Regal und machte es sich auf dem Sofa bequem. Lesen gehörte schon immer zu seinen Leidenschaften, seit Jacinda es ihm gelehrt hatte. In den dunklen Stunden im Kellergewölbe tauchte er in fremde Welten und begab sich auf die Reise in ferne Orte. So nahm er auch an diesem Abend die Geräusche aus der Küche am Rande wahr.
»Hast du jemanden, der dich versorgt oder jagst du?«
Charles ließ sich ihm gegenüber auf einen der Sessel plumpsen und pulte sich mit den Fingern zwischen den Zähnen. Eine wirklich unangenehme Eigenart, die ihn kurz von der eigentlichen Frage ablenkte.
»Menschen benutzen für so was Zahnstocher. Du findest sie in der Schublade mit dem Besteck«, klärte er seinen Bruder auf, was diesen eine mürrische Miene verziehen ließ. Gleich dürfte sie sich noch mehr verfinstern, denn er stellte das Buch zurück ins Regal und kehrte seinem letzten Familienangehörigen den Rücken zu.
»Ich werde nie so tief sinken, dass lebende Menschen auf meinem Speiseplan stehen. Es gibt andere, bessere Wege. Wir müssen nicht morden.«
Lady Jacinda hieße derartiges Verhalten auch nicht gut. Es könnte ihm das Leben kosten, wenn er sich auf jenes Niveau begab. Das Letzte, was er für sich und diese Kleinstadt wollte, war eine Säuberung durch die Vampire, weil er sich nicht zu beherrschen wusste.
»Du solltest eines sehr schnell begreifen, Charles.«
Er drehte sich zu seinem Bruder um und verwies auf das Wappen der Familie Marlow, zu deren Mitgliedern Lady Jacinda gehörte. Eine alte, sehr mächtige Sippe, die zwar Ausrutscher ihresgleichen in einem gewissen Rahmen duldeten, doch niemals welche ihrer Diener.
»Sie behalten uns im Auge. Wenn du dir Verfehlungen leisten kannst, was ich nicht annehme, gehe hinaus und versuch dein Glück. Lebe wie die Abtrünnigen, doch du wirst sehen, was du davon hast. Ich für meinen Teil ziehe mein jetziges Leben vor.«
Brummend zog sich sein Bruder in das für ihn hergerichtete Zimmer zurück. Nachdrücklich wurde die Tür hinter sich geschlossen und die Botschaft war unmissverständlich.
Er hatte auch nicht vor, mit Charles weiter zu diskutieren. Ihn zog es jetzt hinaus in die Nacht, weit ab von den beengenden Wänden seines Zimmers. Er wusste schon, wem er einen Besuch abstatten konnte. Seinen Mantel übergestreift, schnappte er sich den Haustürschlüssel und seinen Geldbeutel, denn den würde er brauchen. Was ihm zu dieser Stunde genehm war, kostete ein ordentliches Sümmchen, doch es war jeden Cent wert. Wenn Charles wüsste, wohin es ihn zog, käme er aus dem Grauen nicht heraus.
»Eine weitere Stunde, Constantine«, gab er sich selbst zu Bedenken, schätzte gleichzeitig ab, ob es tatsächlich eine gute Idee war. Allerdings begab er sich nicht in unwissende Hände, was es um einiges leichter für ihn machte. Diese kannten ihn besser als jeder andere.
»Es ist nur ein weiteres Spiel.«