Ein kleines Grüppchen lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich, als er auf die Hauptstraße bog. Sie wankten quer über den ganzen Asphalt und lachten ausgelassen über derbe Scherze, deren genauer Wortlaut ihm entging. Was Alkohol mit Menschen anstellte, erstaunte ihn immer wieder. Leider verloren sie dadurch schnell ihre Hemmungen und, er rümpfte die Nase, war die Fahne widerlich. Der Geruch schlug ihn wirklich in die Flucht, dass er den schnellsten Weg nach Hause nahm. Die Begegnung hatte noch andere Folgen für ihn, die weitaus schlimmer als jener Gestank war. Sein Magen begann, leise vor sich hin zu knurren.
Hätte er ewig keine Mahlzeit mehr zu sich genommen, müsste er sich Sorgen um seinen Zustand machen. Sich wie ein Dieb im Schatten bewegen, damit ihn niemand zu Gesicht bekam. Es war leider so, dass der Hunger ihn veränderte. Er raubte ihm quasi den Verstand und weckten die Urinstinkte. Seine Augen glommen dann in einem Farbton, die jedem eine Heidenangst einjagten. Ja, es missfiel ihm selbst, dass ihm die Kontrolle entgleiten konnte. Es half nur, sich regelmäßig und ausgiebig zu ernähren, wenn man keinen Besuch des Reinigungstrupps wollte.
Er war nicht glücklich mit dieser aufgezwungenen Existenz. Die Wenigsten waren das, denn sie erwartete eine Ewigkeit in der Dunkelheit. Er hatte aber begonnen, sich ein anderes Leben aufzubauen und an dem hing er.
Was ihn ernüchterte, als er Zuhause ankam und den Kühlschrank öffnete, waren die Boxen darin. Auf jedem klebte ein Zettel mit einem Datum, was einem Mindesthaltbarkeitsdatum für Lebensmittel recht nahe kam.
Es hatte bei Lady Jacinda nie welche gegeben. Sie wusste es nicht besser. Selbst nach all den Jahrzehnten türmten sich noch ihre Verfehlungen im Keller, um die sich kaum mehr einer kümmerte, wie er es getan hatte. Er fragte sich schon, wer den Müll beseitigte und befand schließlich für sich selbst, dass es ihm egal sein musste. Dieses Leben lag hinter ihm. Zumindest ein Teil davon.
Er nahm sich einen Behälter und öffnete ihn. Seine Nasenflügel blähten sich automatisch, um mehr von dem Aroma wahrzunehmen. Wasser lief ihm im Mund zusammen, als er die Box höher hob. Zwei, höchstens drei Tage altes Fleisch lag in seinem eigenen Blut. Mehrmals schluckend schloss er das Gefäß und betrachtete sein Ebenbild in der Spiegelung der Kühlschrankoberfläche. Giftgrün leuchteten seine Augen. Ein kaum erträglicher Anblick, wenn man unbedingt einem Menschen gleichgestellt sein wollte, aber er verschloss sich nicht davor. Er nahm das Fleisch und bereitete es so zu, dass es einem echten Burger gar nicht so unähnlich war. Im Gegensatz dazu blieb sein Essen roh und stammte von keinem Tier. Jeder Bissen für ihn trotzdem ein Genuss.
Irgendwann bekomme ich dich dazu, dass du mehr als nur ein rohes Stück Fleisch möchtest.
Er wischte sich den Mund mit einer Serviette ab, während er an Marcs Worte dachte. Seine Mundwinkel zuckten leicht.
»Das wäre wirklich schön.«
Zu seinem Leidwesen könnte er das Essen wohl nicht ausreichend genießen, um den jungen Mann zufriedenzustellen. Was nicht hieß, dass er sich keine Mühe gäbe, genau den Eindruck zu vermitteln. Er aß alles, was ihm Marc vorsetzte, nur um dessen Lächeln zu Gesicht zu bekommen. Wirklich alles.
Früh am morgen klingelte es an der Hintertür, was nur bedeuten konnte, dass es wieder eine Lieferung gab.
»Guten Morgen, Owen«, grüßte er, als er den für ihn zuständigen Beobachter hereinbat. Lady Jacinda und andere Herrschaften hatten auf den Hexenmeister bestanden. Man hatte ihn erst davon unterrichtet, als es beschlossene Sache war. Sehr zu Owens Missfallen blieb ihm kaum etwas übrig, als zu gehorchen.
»Ich will deinen Bruder nicht hier haben.«
Der Hexenmeister redete nie um den langen Brei herum, wenn ihn etwas beschäftigte. Er hatte auch nichts anderes erwartet.
»Ich weiß, es ist eine zusätzliche Last für dich, wo du ohnehin viel zu tun hast. Versteh bitte, dass ich ihn eine Weile in meiner Nähe haben möchte. Der Einstieg ...«
Owen stellte die Kiste auf den Küchentisch und warf ihm einen mürrischen Blick über die Schulter zu, der ihn verstummen ließ. Er wollte es sich nicht mit dem Hexenmeister verscherzen.
»Hast du eine Ahnung, wie schwer es ist, zwei von deiner Sorte zu versorgen? Wir sind hier nicht in einer Großstadt wie New York, wo es kaum auffällt, wenn ein Mensch plötzlich verschwindet.«
Dessen war er sich bewusst. Sein Wunsch war nicht grundlos wochenlang von Lady Jacinda und den Anderen diskutiert worden. Auf den Entschluss hatte Owen keinerlei Einfluss gehabt, was ihn sichtlich ärgerte.
»Es tut mir leid, dass wir dir solche Umstände bereiten. Ich sorge dafür, dass es keine Probleme gibt. Versprochen.«
Er lehnte sich weit aus dem Fenster, was auch Owen nicht entging. Der Hexenmeister verschränkte mit erhobenen Brauen seine Arme vor der Brust.
»Fünfzehn Jahre spiele ich jetzt den Wachhund für euch Monster. Verzeih, wenn ich nicht mehr an jedes Versprechen glaube, dass einer von euch mir gibt.«
»Ich verstehe. In meinen Augen bist du weit davon entfernt, ein Wachhund zu sein«, erklärte er, »Ich bin sehr froh, dass du die Stadt vor mir beschützt und umgekehrt.«
Es waren ehrlich gemeinte Worte, die Owen tatsächlich verlegen machten. Sich am Kinn kratzend sah dieser an die Decke, bis er sich die Jacke richtete und seinen Autoschlüssel klimpern ließ.
»Du solltest übrigens weniger Zeit mit Sion verbringen. Er verdirbt jeden Charakter.«
Lächelnd biss er sich auf die Zunge, um seine Äußerungen nicht laut auszusprechen. Es sprach da jemand aus Erfahrung.
»Ehrlich gesagt, habe ich Interesse an jemand anderen.«
Irgendwann musste er um Erlaubnis bitten. Das konnte er genauso gut jetzt tun, wenn Owen schon mal da war. Er rechnete nicht mit Zuspruch, sondern mit totaler Ablehnung. Die Augen des Hexenmeisters schienen im dumpfen Licht fast schwarz zu sein, als er ihn ansah. Ein Muskel zuckte gefährlich in der Wange, was alles Mögliche bedeutete. Ihn erschreckte es jedoch recht wenig.
»Wer? Ich will einen Namen.«
»Marc Sinclaire.«
Ein Name, der sicher auch Owen bekannt war. Tatsächlich entspannte sich die Schultern des Hexenmeisters und strich sich mit einer Hand durchs Haar.
»Oh Gott sei Dank, einer von der Sorte«, seufzte er zudem, »viel Glück mit den Verrückten.«
»Bist du nicht besorgt?«
Er nahm an, dass es ein Problem war. Immerhin ging es hier um einen Menschen, doch Owen lachte zu seiner Überraschung.
»Wir reden hier von den Sinclaires. Die schlagen eher dich in die Flucht als du sie. Der arme Marc kann einem schon leidtun. Mit so einer Familie als Ballast ist man wirklich gestraft.«
Jetzt verstand er. Eine Frage beschäftigte ihn dennoch.
»Dann bist du einverstanden? Mich erwartet keine Bestrafung, wenn ich mich ihm annähere?«
»Versteh mich nicht falsch.«
Owen schob seine Hände in die Hosentaschen seiner Jeans, als er sich ihm zuwandte.
»Es geht mir jedes Mal gegen den Strich, wenn sich einer von euch mit Menschen einlässt. Aber Marc ist nicht dumm und wir beide wissen, was passiert, wenn du gewisse Grenzen überschreitest.«
»Ich habe nicht die Absicht, Marc zu meinen persönlichen Kauknochen zu machen.«
Hoffentlich bedurfte es keiner weiteren Erklärung, wie seine Pläne mit dem jungen Mann aussahen. Owen musste nur wissen, dass ihm sein Leben etwas bedeutete. Der Hexenmeister schien unbeeindruckt, bevor er die Hintertür öffnete und das Haus verließ.
»Bis zum nächsten Mal.«
Nur nicht zu bald, aber er verabschiedete sich mit einem wohlwollenden Lächeln. Sollte es widererwarten passieren, dass seine Vorräte sich frühzeitig dem Ende neigten, blieb ihm keine Wahl als seinen Bruder fortzuschicken. Es widerstrebte ihn, auch nur daran zu denken. Genauso erging es ihm, als er die gelieferte Kiste öffnete und sich einen Überblick über den Inhalt beschaffte.
Irgendwo da draußen wurde vermutlich ein leerer Sarg in die Erde hinuntergelassen. Er hatte Owen nie gefragt, woher die Boxen stammten. Im Grunde wollte er es auch nicht wissen. Er war versorgt. Das war alles, was zählte.