»Da fällt mir ein, Constantine, du gehst doch wie immer gleich nach Hause?«
Marc räumte seelenruhig den Tisch ab, bevor er ihn lächelnd ansah. Zum Glück ließ der junge Mann den noch recht vollen Teller in seiner Hand unkommentiert. Es war untypisch für ihn, überhaupt etwas übrig zu lassen, aber wenn er noch einen Bissen nahm, müsste er sich wohl oder übel übergeben. Es ging ihm gerade alles andere als gut, dass es eine Weile brauchte, bevor er entsprechend reagierte.
»Ehm, ja, warum?«
»Nun«, Marc sah für einen Bruchteil einer Sekunde zur Seite und schaute aus einem ihm unerfindlichen Grund peinlich berührt aus, »na ja, falls es dir nichts ausmacht, könnten wir uns zusammen auf dem Heimweg machen. Ich hab jetzt Feierabend.«
So viel, wie er anhand von Meghans Benehmen mitbekommen hatte, zögerte Marc seinen Feierabend bereits eine Stunde lang hinaus. Seit sie beide das Restaurant betreten hatten, hielt sie ihm immer wieder eine kleine Standpauke, die er mit einem kurzen Lachen abwehrte. Meghan gefiel das gar nicht und so saß sie beleidigt auf ihrem Platz am Eingang.
Was würde die junge Dame wohl denken, wenn sie zusammen das Restaurant verließen? Sicher das Gleiche wie die Leute, die ihn gemeinsam mit Sion im Supermarkt erblickt hatten.
»Im Gegenteil, Marc, es wäre mir sehr angenehm«, teilte er dem jungen Mann mit, warf aber einen Blick über dessen Schulter auf die unverkennbar neugierige Meghan und deren gespitzte Ohren, »aber hältst du das für eine gute Idee?«
»Mach dir darüber keine Sorgen, Constantine. Ich bin schon mit Schlimmeren fertig geworden.«
Marc zwinkerte ihm noch zu, bevor er sich mit dem Geschirr zur Küche aufmachte.
Wenn sich da mal nicht jemand irrte, aber für genau diesen Moment hatte er geübt. Er war gesättigt, eigentlich schon übersättigt, dass es keinerlei Anzeichen geben sollte, die ihn als etwas Unnatürliches auswiesen. Er hatte nur nicht damit gerechnet, dass dieser Zeitpunkt so früh kam. Ihn beschlich ein mulmiges Gefühl, mit Marc allein auf den spärlich beleuchteten Gehwegen durch die Stadt zu streifen ... was, wenn doch etwas passierte?
Ehe er sich weitere Gedanken machen konnte, stand Marc mit der Rechnung wieder am Tisch. Sein Kellner kannte ihn gut.
»Wie wäre es, wenn wir das Trinkgeld heute beiseitelassen? Nicht, dass ich deine Großzügigkeit nicht zu schätzen weiß, aber ...«
»Dir schwebt eine andere Art der Vergütung vor«, beendete er den Satz und murmelte eine Entschuldigung, als Marc losprustete.
»Ja, so könnte man es auch ausdrücken. Ich gehe mich jetzt umziehen. Wir treffen uns draußen, okay?«
»In Ordnung.«
Sobald er sich von seinem Platz erhob, sprang auch Meghan von ihrem Stuhl auf. Sie wartete mit geschürzten Lippen auf ihn, dass er versucht war, eine Abkürzung durchs Toilettenfenster zu nehmen. Diese Frau, so befand er, verlor zunehmend ihren anfänglichen Charme. Sie ließ ihn nicht aus den Augen.
»Ich wünsche noch einen angenehmen Abend, Meghan«, verabschiedete er sich mit einer leichten Verbeugung, was er bei jedem Besuch tat und nie mit Hintergedanken spielte. So war es ihm beigebracht worden.
»Sie begleiten Marc, Constantine?«
Für einen kurzen Moment glaubte er, in ihren Augen so etwas wie Neid aufflammen zu sehen, doch es verschwand zu schnell. Sie war neugierig, mehr wohl nicht.
»Man könnte auch sagen, dass er mich begleitet, bis sich unsere Wege trennen«, antwortete er mit einer Andeutung eines Lächelns und schmunzelte in sich hinein, als ihre Augenbrauen nach oben schnellten. Zu gern wüsste er, was sich jetzt in ihrem Köpfchen abspielte, doch ihm stand ein Spaziergang bevor. Dieser könnte sich leicht zu einem Spießrutenlauf entwickeln, wenn er nicht Vorsicht walten ließ.
»Wie gesagt, wünsche ich noch einen schönen Abend.«
Das Bild ihres verdutzten Gesichts begleitete ihn nach draußen, wo er sich die Zeit nahm, um zu entspannen. Bei dem Gedanken an sein Zuhause wurde ihm flau in der Magengegend. Es blieb zu hoffen, dass sich Sion und Mea benahmen. Charles flüchtete sich mit Sicherheit auf sein Zimmer, um den Kampfhähnen aus dem Weg zu gehen. Ein Teil von sich wünschte, Owen höchstpersönlich wäre erschienen, doch angesichts seiner Vergangenheit mit Sion war das wohl doch keine so gute Idee. Wie er es auch drehte und wendete, die Wahrscheinlichkeit, sein Haus in Schutt und Asche vorzufinden, war hoch. Sollte das der Fall sein, durfte sich Sion auf etwas gefasst machen, denn aus der Nummer konnte er sich nicht herausreden.
Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen, das sich verflüchtigte, als Marc hinter dem Haus auftauchte. Er hatte den Kellner bisher immer nur in dessen Arbeitskleidung gesehen. Die ausgewaschene Jeanshose und die dunkle Lederjacke standen ihm ebenfalls ausgezeichnet ... hoffentlich starrte er nicht.
»Hey, kann’s losgehen?«
»Sicher.«
Marcs gute Laune war fast schon greifbar. Er strahlte sie, genau wie seine Wärme, aus und leider auch einen sehr angenehmen Geruch. Es wäre auch schlimm, wenn der Mann den nicht hätte.
»Meg hat dich nicht genervt, oder?«
Den Himmel sei dank für diese ablenkende Frage, die ihn sogar ein kleines Lachen entlockte.
»Noch nicht. Ich fürchte, du wirst morgen in den Genuss ihrer Neugierde kommen, da ich mich recht kryptisch ausgedrückt habe.«
»Wirklich?«
Marc lachte selbst.
»Da mache ich mich besser auf was gefasst, hm? Ich wusste, dass es sie auf die Palme bringt, wenn ich dich vor ihrer Nase wegschnappe.«
Aufhorchend drehte er sich halb zu dem Kellner um.
»Wie bitte? Verstehe ich das richtig?«
»Nun ja«, murmelte Marc, während er sich am Kinn kratzte, »irgendwie schon. Sie motzt etwas rum, dass das Schicksal gemein zu ihr wäre. Da käme endlich mal ein attraktiver Typ in unser Restaurant und wer bekommt ihn? Nicht Meg. Dazu kommt noch, dass er sie vollkommen ignoriert. Schäm dich, Constantine, eine Dame so zu behandeln.«
Der Schalk stand dem jungen Mann in den Augen geschrieben. Faszinierend und ansteckend zugleich, dass seine Mundwinkel unwillkürlich zu zucken begannen.
»Nun, sie ist nicht mein Typ. Mir wurde aber stets beigebracht, zuvorkommend gegenüber jedem zu sein.«
Lady Jacinda hatte stets darauf bestanden. Egal, wie sehr einem eine Person zuwider war. Sie war immer mit übertriebener Freundlichkeit zu behandeln. Die Ausnahme war nur, wenn diese die Herrin beleidigte, was sich niemand angesichts ihrer gesellschaftlichen Stellung unter den Vampiren traute.
Aufseufzend schob er die Erinnerung beiseite und konzentrierte sich auf die plötzliche Stille zwischen ihm und Marc. Der Kellner schien selbst in Gedanken versunken zu sein. Er schürzte gelegentlich die Lippen, bevor er leicht den Kopf schüttelte.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Hm? N-nein, sorry, ich denke nur gerade nach. Du bist schon recht seltsam, Constantine. Nicht, dass mich das stört ... ehrlich nicht. Ich meine das ernst.«
Marc schwor vor seinen Augen auf das Grab seines Urgroßvaters, als würde er ihn mit Unglauben strafen. In einem Punkt musste er dem Kellner jedoch Recht geben, denn es gelang ihm einfach nicht, die sprachliche Hürde zwischen ihm und dem Rest der Welt zu überwinden.
»Ich weiß.«
Und es war nicht einmal das Außergewöhnlichste an ihm, was Marc aber nicht wissen konnte und es vielleicht sogar nicht sollte. Mit welchen Augen er ihn ansehen würde, wenn er all die kleinen Geheimnisse kannte ... nur nicht daran denken.
»Ich befürchte, ich werde immer seltsam sein.«
»Wie ich bereits sagte, Constantine, ist das vollkommen in Ordnung für mich.«
Marc stupste ihn von der Seite mit dem Ellbogen an und nickte mit einem breiten Lächeln.
»Wir haben alle unsere Macken. Ich für meinen Teil mag dich so, wie du bist.«
Ehe unschöne Gedanken aufkamen, strich ihm der Kellner unverhofft eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»S-sorry, ich fand sie störend. Hier muss ich dich übrigens verlassen.«
Er hatte gar nicht gemerkt, wie weit sie schon gegangen waren. Zu abgelenkt von der leichten Röte in Marcs Wangen. Der junge Mann wich seinem Blick gekonnt aus, doch statt einfach davonzueilen, blieb er weiter vor ihm stehen.
»Danke. Für das Kompliment und für diese unerwartete Geste.«
Wenn möglich, brachte er den Kellner noch mehr zum Erröten. Zumindest eine Nuance tiefer als noch bis eben und irgendwann seufzte dieser leise auf.
»Machst du das eigentlich mit Absicht? Weißt du, wenn du mit allen Leuten so redest, liegen sie dir alle irgendwann zu Füßen.«
»Oh? Ich könnte schwören, dass du noch einen sehr sicheren Stand hast«, zog er den jungen Mann auf, was diesem ein heiteres Lachen entlockte.
»Glaub mir, sie verwandeln sich jede Minute in Wackelpudding.«
Das würde er nur zu gern sehen, doch nicht heute Abend. Er hatte das Gefühl, in diesem Moment auf einem schmalen Grat zu stehen. Jedes Wort oder jede Geste könnte die Stimmung kippen.
Innerlich schmunzelte er also über Marcs Äußerung und auch sein Gegenüber schwieg die nächsten Sekunden, bis er sich einen Ruck gab.
»Also, ich sollte nach Hause. Hat mich gefreut, dich zu begleiten, Constantine. Ich wünsche dir eine gute Nacht.«
Auf sein Nicken hin machte Marc kehrt, der sich nach wenigen Schritten wieder umdrehte.
»Kommst du morgen wieder zur gewohnten Zeit?«
»Das lässt sich einrichten, denke ich.«
»Okay, dann bis morgen Abend!«
Wie so einfache Worte ein Grinsen auf dieses Gesicht zaubern konnten ...
Er schaute Marc nach, bis dieser in einem der Häuser weiter hinunter der Straßen verschwand. Zeit, aufzuatmen, was er auch tat. Alle Anspannung verließ ihn.
»Jetzt könnte ich was von wegen Wackelpudding sagen«, murmelte er und kehrte der Straße den Rücken. Alles in allem war es besser gelaufen, als er es für möglich gehalten hätte. Anfangs hatte ihn Marcs Duft zwar abgelenkt, doch ihm fiel es ausgesprochen leicht, nicht länger daran zu denken. Er konnte sich auch nicht mehr an ihn erinnern, wenn er ihn sich noch einmal ins Gedächtnis rufen wollte.
Ein Ghul blendete für gewöhnlich nur dann Gerüche komplett aus, wenn es sich um Gäste ihrer Herren handelte. Es war eine Selbstverständlichkeit, in ihnen nichts Essbares zu sehen.
»Hm.«
Gut möglich, dass es ihm bei Marc ebenso erging oder seine Sinne spielten ihm einen kleinen Streich. Das wäre ein äußerst schlechter Zeitpunkt, jetzt, wo er alle brauchte, um sich mit zwei Alben und seinem Bruder auseinandersetzen musste.
Hoffentlich stand sein Haus noch.