Es herrschte eine beunruhigende Stille, als er in die Straße einbog, die zu seinem Haus führte. Instinktiv horchte er auf und suchte nach Hinweisen. Es verhieß nichts Gutes, wenn kein Laut zu hören war, nicht einmal ein laufender Fernseher oder das Schnarchen eines der Nachbarn.
»Oh bitte, lasst mich meinen Ausflug nicht bereuen«, raunte er mit flauem Gefühl in der Magengegend, als er seinen Schlüssel aus der Jackentasche zog. Owen machte ihm die Hölle heiß, wenn irgendwas mit Mea geschehen war. Und Sion? Der Hexenmeister wäre vielleicht hoch erfreut, aber so weit wollte er sich nicht aus dem Fenster lehnen. Ihre Beziehung zueinander war dann doch zu kompliziert. Auf jeden Fall gab es Ärger, wenn auch nur einem in diesen vier Wänden ein Haar gekrümmt wurde.
Aufseufzend öffnete er die Tür und lauschte einen Moment der Stille im Haus.
»Ich bin wieder da! Sion? Charles? Me...«, seine Stimme verlor sich bei dem Anblick, der sich ihm im Wohnzimmer bot. Sein Bruder lag am Boden zwischen dem verschobenen Kaffeetisch und dem Sofa und auf dessen Gesicht saß die Succubus, während Sion weiterhin auf seinem Sessel lümmelte – ein Glas Wein in der Hand.
»Ah, da ist er ja wieder. Einen schönen Abend gehabt?«
Um Ruhe bemüht, legte er seine Jacke auf der Lehne seines Sofas ab. Hierfür gab es eine gute Erklärung.
»Lebt Charles noch?«, erkundigte er sich mit Blick auf die still daliegende Gestalt seines Bruders und Mea gab einen leisen Ton der Entrüstung von sich.
»Natürlich tut er das. Er wollte auf eigenen Wunsch, nähere Bekanntschaft mit mir machen.«
»So kann man es ausdrücken«, stimmte der Alb kichernd zu und nippte an seinem Glas.
Es war gut, zu wissen, dass Ghule nicht ersticken konnten. Wahrscheinlich saß Mea schon die ganze Zeit auf Charles Gesicht. Eine wirklich erniedrigende Art und Weise, den Abend zu verbringen.
»Könntest du bitte von ihm runtergehen? Ich bin mir sicher, dass er jetzt mehr von dir weiß, als ihm lieb ist.«
Mit den Augen rollend erhob sich die Succubus, nicht ohne vorher noch seinem Bruder einen Kuss auf die Nasenspitze zu drücken. Sie grinste bis über beide Ohren, als Charles angewidert das Gesicht verzog.
»Oh Schätzchen, so schlimm war es auch wieder nicht.«
»Mir würden schon fünf Minuten unter ihr reichen, um mein Leben beenden zu wollen«, raunte ihm Sion ins Ohr und brachte ihn damit zum Schmunzeln. Er könnte sich auch Schöneres vorstellen, andererseits ...
»Du hättest Charles helfen können, aus Meas Fängen zu entkommen.«
Wie erwartet, lehnte sich Sion abwinkend zurück.
»Bin doch nicht lebensmüde. Ich bleibe allein wegen der Unterhaltung und des Weines.«
Und eventuell doch ein Auge auf einen gewissen Hexenmeister werfen zu können, was der Alb nie zugäbe. Manchmal kam ihm Sion vor wie ein offenes Buch.
»Vielen Dank, dass ihr beide die Mühe auf euch genommen habt, auf meinen Bruder aufzupassen. Das nächste Mal würde ich mir bessere Manieren von eurer Seite wünschen.«
Er warf einen bedeutungsvollen Blick in Sions Richtung, den der Alb mit einem halben Grinsen quittierte. Mit den Lippen formte dieser das Wort Langweiler, bevor er aufstand und sich streckte.
»Hattest du nicht eben erst ein Date mit deinem Süßen? Muss schrecklich gelaufen sein, wenn du so unentspannt bist. Armer Marc, wird wohl auf ewig ungevögelt bleiben.«
»Achte auf deine Wortwahl, mein Freund«, ermahnte er seinen Gast und ärgerte sich insgeheim, dass er auf die Provokation hereinfiel. Sion kicherte hinter vorgehaltener Hand.
»Oh? Sag bloß, du durftest ...«
»Ich würde es begrüßen, wenn du gehst.«
So gern er seinen Freund auch hatte, wollte er jetzt kein Gespräch mit ihm über den heutigen Abend führen. Wenn sie unter sich waren, ließe er sich dazu hinreißen. Da waren schließlich auch nicht Owens Dienerin und Charles zugegen. Sein Bruder kämpfte sich bereits mit einer Grimasse zurück auf die Beine.
»Wie schön, dass du einen netten Abend hattest.«
»Kleiner, es gibt jede Menge Leute, die würden dasselbe über deine paar Stunden im Himmel sagen. Meine Schwester ist immerhin eine äußerst talentierte Succubus.«
Das klang auf so viele Ebenen verstörend, dass er sich eine Bemerkung verkniff. Selbst Mea verhielt sich ruhig im Hintergrund. Nur Charles sah aus, als ginge er gleich an die Decke.
»Ihr seid widerlich«, meinte dieser kurz angebunden und ging mit gestrafften Schultern hinauf in sein Zimmer.
Ein Seufzen ausstoßend, entschuldigte er sich für das Benehmen seines Bruders. Die Chancen, dass ein Zusammenleben funktionierte, standen immer schlechter. Er musste sich was einfallen lassen.
»Ich weiß, ihr amüsiert euch königlich, indem ihr ihn ärgert, doch zügelt euch etwas. Ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr das macht.«
Das war doch nicht zu viel verlangt?
Sion nahm einen Schluck aus seinem Glas Wein, während Mea auf der Lehne des Sofas Platz nahm. Den Blick starr auf ihre Fingernägel gerichtet, brauchte es keinen Übersetzer, was sie damit zum Ausdruck bringen wollte.
Jetzt, da er wieder da war, konnte sie zu Owen zurückkehren und diesem Bericht erstatten. Dann konnte Charles sich auch entspannen.
Keiner der Beiden machte jedoch Anstalten, das Haus zu verlassen.
»Ihr dürft übrigens gehen.«
»Das wissen wir, Constantine, aber du dürftest bemerkt haben, dass sich vor deiner Haustür etwas Magisches abspielt.«
Der Alb schaute ohne ein gewohntes Lächeln auf den Lippen aus dem Fenster. Vor sich hin summend, schwenkte er das Glas in der Hand und entlockte dem Wein leiseste Töne als Resonanz auf das Zauberspiel dort draußen.
Er hatte Sion noch nie etwas beschwören sehen. Bisher dachte er, dass Alben lediglich die Fähigkeit besaßen, sich in die Träume von Menschen zu flüchten und mit ihnen alles mögliche anzustellen.
»Wenn ich wollte, könnte ich die Fee bei Owen richtig in die Irre führen«, sann der Alb schmunzelnd.
»Nur, wenn du den Zorn von zwei Hexenmeistern auf dir spüren willst. Leg dich besser nicht mit ihnen an, Brüderchen.«
Neben Owen befand sich noch ein weiterer Hexenmeister in der Stadt? Und eine Fee noch dazu ... eine Menge ging an ihm vorbei, wie es schien.
»Ist etwas vorgefallen?«
»Nur das übliche Prozedere alle paar Monate«, erklärte Sion und gähnte herzhaft, »zerbrich dir darüber nicht dein hübsches Köpfchen, Constantine. Es betrifft nur böse Geister und Dämonen. Mea und ich blieben hier, bis es vorbei ist.«
Sie könnten wenigstens vorher fragen, ohne es von sich aus zu bestimmen. Soweit er wusste, war dies immer noch sein Haus. Er wollte sie weder rauswerfen noch sich selbst überlassen und fragte stattdessen, ob sie noch etwas bräuchten.
»Du bist ein komischer Kauz, Farlaine.«
Das hörte er nicht zum ersten Mal. Unter seinesgleichen stach er tatsächlich raus wie ein buntes Tier, doch ihn kümmerte es wenig.
»Meine Herrin fand Gefallen an meinen Umgangsformen.«
»Oh, ich glaube, nicht nur sie mag das«, kicherte Sion auf seinem Platz, das Glas Wein vor sich her schwenkend. Zeigte der Alkohol letztendlich doch seine Wirkung beim Alb oder tat dieser nur so, um gewissenlos zu provozieren?
Er ignorierte ihn und verabschiedete sich.
Die Tür zu Charles Zimmer blieb selbst nach mehrmaligem Klopfen für ihn verschlossen. Ein deutlicheres Zeichen, dass sein Bruder ihn weder sehen noch sprechen wollte, brauchte er nicht.
»Es tut mir leid, was Mea mit dir gemacht hat. Ich weiß, wie sehr du Alben jeglicher Art verabscheust und es war sicher nicht förderlich, dass sie auf deinem Gesicht saß.«
Wem machte er hier etwas vor? Seine Worte klangen so leer, dass er sie selbst kaum glaubte. Er hätte energischer sein müssen, als er Charles am Boden liegen sah. Es war allein sein Fehler.
»Ich wünsche dir trotz allem eine geruhsame Nacht.«
In seinem eigenen Zimmer ließ er sich als Erstes auf das Bett sinken und sah hinauf zur Decke. Er war ein schlechter Bruder. Je länger seine Gedanken darum schweiften, wie er Charles am besten behandelte, desto mehr kam er zu dem Schluss, dass sein Bruder an einem anderen Ort besser aufgehoben war. Fern von Wesen, die er verabscheute und keine Gefahr darstellte.
»Jetzt tust du so, als ginge von dir keine aus, Constantine«, wies er sich selbst zurecht. Bisher hatte er sich gut unter Kontrolle, doch es lag immer im Bereich des Möglichen, das sich das änderte. Wenn ihm jemand wie Marc zu nahe käme ...
Ein Knoten bildete sich bei der Vorstellung in seiner Magengegend. Seufzend setzte er sich auf und knöpfte sein Hemd auf, um es sich von den Schultern zu streifen. Marc regte einen ganz anderen Appetit an, mit dem er sich früher oder später auseinandersetzen musste.
Es gab unter seinesgleichen Individuen, die mit Menschen auf jede erdenkliche Art und Weise zusammenkamen. Nicht wenige Begegnungen endeten in einem Blutbad. Es hatte dazu geführt, dass der Rat der Vampire einschritt, um den Treiben Einhalt zu gebieten. In ihren Augen waren derartige Verbindungen nahezu abscheulich und wider der Natur, obwohl sie selbst oft die Grenzen überschritten.
Er hatte sich immer vorgenommen, sich an die geltenden Regeln und Gesetze der Menschen zu halten. Einem Fressrausch nicht nachzugeben, egal wie groß der Drang auch wurde.
Kaum mehr als Wunschdenken, doch er würde es nicht ertragen, wenn Marcs lebloser Körper in seinen Armen lag und er seine Zähne in dessen Fleisch schlug.
Die Lippen zusammengepresst, schüttelte er das Bild ab. Dazu käme es nie. Es gab Mittel und Wege, um das zu verhindern und wenn er Owen um Beistand anflehte. Soweit musste er hoffentlich nicht gehen, aber ein bisschen Hilfe bräuchte er schon. Ihm standen Unmengen an Büchern zur Verfügung oder er fragte die einzige Person in diesem Haus mit genug Erfahrung für mehrere Leben. Nur nicht heute.