Am nächsten Morgen saß sein Freund vollkommen verkatert am Küchentisch und rieb sich mit den Fingern die Schläfen.
»Es war wohl noch etwas anderes im Schrank als Portwein.«
So genau hatte er sich seinen Vorrat nie angesehen, um ihn beurteilen zu können. Der Vorbesitzer ließ ihn zurück und er hatte es nie für nötig gehalten, die Flaschen in den Müll zu werfen.
Sein Freund hielt sich nun mit dunklen Ringen unter den Augen kaum auf dem Stuhl, auf dem er Platz genommen hatte, was ihm ein schlechtes Gewissen machte. In der Hoffnung, dass ein kleines Frühstück half, stellte er einen Teller und eine Tasse Tee auf den Tisch.
»Ich verfluche diese alte Hexe«, murmelte Sion mehr zu sich selbst, sich weiterhin die Schläfen reibend, »ihr Gebräu in harmlos aussehende Flaschen abzufüllen ist mehr als gemein.«
Das klang, als wäre der Alb Opfer eines Selbstgebrannten geworden.
»Bitte, sprich nicht von albischen Flüchen. Ich habe keinen Bedarf an einer Konfrontation mit Owen, der dir die Ohren lang zieht, wenn du gewisse Grenzen überschreitest.«
Verwünschungen selbst bargen keine wirklichen Gefahren für Mensch und Tier, doch die Folgen waren nie abzusehen. Gerade ein Hexenmeister wie Owen, der für den Rat arbeitete, müsste eingreifen und das lag mit Sicherheit nicht in seinem Interesse.
»Soll er mir doch den Hintern mit einem Weidenzweig versohlen, Constantine. Ich wurde vergiftet, da darf ich mich auch rächen.«
Das fiel ihm schwer zu glauben, aber was wusste er schon von Alben.
»Wenn das der Fall ist, sollte ich Owen kontaktieren, findest du nicht?«
»Teufel nein! Er hält mir nur einen Vortrag darüber, dass ich selbst schuld bin, wenn er sich überhaupt dazu äußert.«
Sion nahm sich Besteck und pickte sich etwas von seinem Frühstücksteller, während sich seine Lippen kräuselten.
»Ich brauche nur etwas Ruhe und Ablenkung. Also sag mir, Constantine, wie ist es gestern gelaufen?«
Ein Gefühl sagte ihm, dass sein Freund ein überaus linkes Schlitzohr war.
»Du hast doch hoffentlich nicht die ganzen Flaschen geleert, in der Hoffnung, dass es dir heute so schlecht geht, dass ich mich um dich kümmere? Um ganz nebenbei natürlich mein Schweigen über die gestrigen Ereignisse zu brechen.«
Nein, Sion würde sich für solche Nichtigkeiten doch nicht in die Hölle befördern. Doch die aufblitzende Überraschung in dessen Augen verriet ihn trotz leidiger Miene und so stemmte er beide Hände in die Hüften.
»Bei allen guten Geistern, Sion, hast du den Verstand verloren?«
»Wie hätte ich ahnen können, dass sich ein Gebräu der alten Vettel in diesem Haus befindet?«, entgegnete der Alb und schob sich einen Bissen in den Mund, »jetzt lenk nicht vom Thema ab.«
Eine passende Erwiderung lag ihm auf der Zunge, die an seinem Freund ohnehin abprallte, sodass er lediglich resigniert seufzte.
»So schlecht kann es dir wirklich nicht gehen. Es ist nichts passiert, wenn du es genau wissen möchtest. Ich habe ihn nach der Arbeit nach Hause begleitet oder er mich, schließlich fragte er mich, ob wir gemeinsam gehen könnten und wir haben geredet.«
Ehe er es sich versah, landete eine Portion Rührei in seinem Gesicht. Allein der Geruch ließ seinen Magen rebellieren, dass er das Essen mit einem Tuch wegwischte.
»Wofür war das bitte«, fragte er und Sion drehte die Gabel zwischen den Fingern, während sie einander anstarrten.
»Geredet ist jetzt besser eine Metapher für heiße Küsse austauschend. Du hast dir unmöglich diese einmalige Chance entgehen lassen, oder? Nein, das hast du nicht getan.«
Je länger Sion ihn betrachtete, umso mehr hob sich die Falte zwischen seinen Augen. Schließlich rieb er sich wieder die Schläfen mit einem tiefen Seufzer der Verzweiflung.
»Der arme Junge hat mein vollstes Mitgefühl.«
Was sollte das jetzt bedeuten? Er hatte doch nichts Verwerfliches getan. Es gab, wenn er so darüber nachdachte, auch keine Zeichen. Was für welche meine Sion überhaupt?
»Kläre mich auf, mein Freund. Was habe ich deiner Meinung nach verbrochen, dass er ausgerechnet von dir aufrichtige Anteilnahme erfährt?«
»Dass du nichts getan hast, Constantine«, antwortete der Alb, »da geht dieser Mann, auf den du ein Auge geworfen hast, mit dir spazieren und so, wie ich dich einschätze, warst du ganz der betagte Gentleman und hast offensichtliche Zeichen ignoriert, wenn du sie überhaupt erkannt hast. Selbst ein Blinder hätte gemerkt, dass von ihm Interesse ausging und mit Sicherheit - da kannst du mir glauben – mehr getan als nur geredet.«
»Du kennst nicht einmal alle Einzelheiten«, wagte er einen Einwurf, während das mulmige Gefühl wieder in seiner Brust aufflackerte, das ihn bereits gestern in Beschlag genommen hatte.
»Die muss ich nicht kennen, mein Freund. Sag mir, ist es dir nicht in den Sinn gekommen, ihn zu einem Kaffee einzuladen oder warst du in Gedanken mal wieder mit deinen ewigen Befürchtungen beschäftigt? Oh weh, was mache ich nur, wenn meine Augen anfangen, zu glühen wie radioaktiver Müll? Wenn ich ihm plötzlich die Nase abbeißen möchte .... blablabla.«
Er zuckte betroffen zusammen, denn diese harmlose Idee war ihm tatsächlich nicht in den Sinn gekommen. Auch mit dem Rest traf Sion genau ins Schwarze.
»Bist du fertig?«
»Nicht ganz. Was gedenkst du jetzt zu tun«, fragte sein Freund neugierig über den Rand seiner Tasse Tee hinweg.
Er antwortete ehrlich: »Ich weiß es nicht.«
Die ganze Nacht über hatte er sich darüber den Kopf zerbrochen. Alle Möglichkeiten und Szenarien durchgespielt, nur um irgendwann zu dem Ergebnis zu gelangen, dass Marc besser früher als später erfuhr, auf wen er sich möglicherweise einließ und, dass er bei einigen Dingen wirklich Hilfe benötigte.
»Sion ... ich ...«
»Keine Sorge, du bist bei mir gut aufgehoben.«
Der Alb trank mit einem Lächeln auf den Lippen seinen Tee und wieder einmal fragte er sich, ob sein Freund nicht doch Gedanken lesen konnte oder das alles geplant hatte. Sion, der heimlich Amor spielte ... das schien ihm sehr weit hergeholt, da sein Freund Menschen interessierte, die sie ihm die Zeit vertrieben. Nur bei Owen war das anders und jetzt bei Marc. Etwas an dieser Tatsache war ihm alles andere als geheuer.
»Constantine, du sollst ihn zu einem Kaffee einladen und nicht mit einem Löffel gegen ein ganzes Heer kämpfen. Jetzt zier dich nicht so.«
Mit vor der Brust verschränkten Armen wartete Sion an der halbgeöffneten Haustür und tippte mit der Schuhspitze unaufhörlich auf das Parkett. Der Alb ließ ihn nicht einmal Essen, geschweige denn ein Bad nehmen oder sich irgendwie erfrischen, so ungeduldig harrte er an seinem Platz aus.
Er hätte ihm nie alle Einzelheiten verraten sollen, doch jetzt war es dafür zu spät. Jetzt stand er im Türrahmen zur Küche und kratzte sich im Nacken. Wusste Sion eigentlich, was er da im Begriff war zu tun oder kümmerte es ihn gar nicht?
»Ich halte das für keine gute Idee.«
»Ich schwöre dir, wenn du es nicht selbst tust, schaue ich bei ihnen vorbei. Dann kann ich mich gleich bei der alten Vettel bedanken«, entgegnete der Alb mit einem süßen Lächeln auf den Lippen, bei dem es ihm eiskalt den Rücken herunterlief.
»Du weißt, es ist besser, wenn ich wenigstens vorher etwas esse.«
»Du bist bis oben ihn vollgestopft und gehst immer auf Nummer sicher, damit auch rein gar nichts passiert. Etwas mehr Selbstvertrauen, mein Guter, würde dir gut tun. Und jetzt raus mit dir.«
Sion wies mit dem rechten Daumen auf die Tür, stieß sie sogar mit dem Fuß noch etwas weiter auf.
»Falls du Hasenfuß wirklich denkst, du würdest am helllichten Tag jemanden anfallen, werde ich selbstverständlich nicht weiter drängen.«
»Als ob«, murmelte er und schritt am Alb vorbei ins Freie. Hoffentlich rächte sich diese Zuversicht nicht am Ende. Durfte man heutzutage aus heiterem Himmel an fremde Türen klopfen, ohne seinen Besuch vorher anzukündigen? Lady Jacinda hatte stets darauf bestanden, dass zuvor Visitenkarten verschickt werden. Er wusste nicht, ob dies inzwischen aus der Mode gekommen war, aber so ging es ihm mit dieser ganzen fixen Idee.
»Sion, es ist mir ausgesprochen unangenehm, mit dir als meinen Schatten vor Marcs Haustür zu erscheinen und ihn um eine Verabredung zu bitten. Gibt es eine Alternative, auf dir wir uns einigen können?«
Sein Freund schürzte kurz die Lippen, bevor er sich an den Türrahmen lehnte. Die ungeteilte Aufmerksamkeit war ihm so sicher wie das Amen in der Kirche. Ihm musste nur etwas einfallen.
Es gab zu dieser frühen Morgenstunde kein Etablissement, mit dem Sion einverstanden wäre und in sein Haus käme nur über seine Leiche eine käufliche Person aus dem Rotlichtmilieu. Sie durften die Stadt auch nicht ohne Erlaubnis verlassen, wenn sie nicht Owens Unmut weiter auf sich ziehen wollten.
»Ich bin auf diesem Gebiet nicht sehr bewandert, daher läge es an dir, einen Ort auszusuchen, wo du dich wohlfühlst und ich mich nur ein wenig bis auf die Knochen blamiere. Außerdem müssen wir Charles mitnehmen ...«
»Zu deiner Information: Das wird nie etwas, wenn du nicht mal was riskierst, aber ich bin überaus gnädig«, säuselte der Alb. Manipulativ wäre die bessere Wortwahl gewesen, doch um des Friedens willen behielt er es für sich, da Sion erfolgreich von seinem ursprünglichen Vorhaben abgelenkt wurde. Sich die Hände reibend marschierte sein Freund zurück ins Haus, um mit einem sich windenden Charles über der Schulter wieder herauszukommen. Dass Sion derart stark war, hatte er bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal geahnt.
»Komm schon, Constantine, Zeit ist Geld!«
»Hast du meinem Bruder etwa einen Knebel in den Mund gestopft?«
Sion winkte ab.
»Keine Sorge, sämtliche Polizisten kennen mich. Die werden das als normal abtun.«
Wie schön für die Vertreter des Gesetzes, doch was war mit Charles? Der war sicher anderer Meinung, wenn sie ihn fragten.
»Lass ihn runter. Er ist doch kein Kartoffelsack!«
Mühsam beherrschte er sich, dem Alb nicht seinen Bruder aus den Fängen zu reißen und damit noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, als sie es mit Sicherheit bereits taten. Das hatte ein Nachspiel. Wohin Sion sie auch schleppte, würde er sich an diesem Mann rächen, obwohl ihn solche Gelüste zutiefst abstießen.
»Wäre ich doch nur mit ihm zu Marc gegangen ...«