Veröffentlicht in der Anthologie: Skurrile Weihnachszeit
Was, wenn es wahr wäre?
HRSG: Gitta Rübsaat.
https://www.amazon.de/Skurrile-Weihnachten-wenn-wahr-waere/dp/1539343928/ref=asap_bc?ie=UTF8
Oh je du Fröhliche
Es kam morgens um acht mit einem Fahrradkurier: Ein gewöhnlich aussehendes buntes Schächtelchen, wie es in jedem Feinkostgeschäft zu erwerben ist. „Wir wünschen eine schöne Weihnachtszeit“ stand in verschnörkelten Buchstaben darauf. Doch der Inhalt sollte sich als etwas Besonderes erweisen.
Als Frau Agathe Riemenschneider das Päckchen im Empfang nahm, sagte der Fahrradkurier mit einem gefälligen Lächeln: „Es ist von Ihrer Nichte.“ Frau Agathes ohnehin säuerliches Gesicht verzog sich, die tiefen Falten auf ihrer Stirn glichen einem Spinnennetz. „Danke“, knirschte sie mit zugepressten Lippen. Sofort nahm sie das Päckchen an sich und machte die Tür zu. Die ausgestreckte Hand des Fahrradkuriers hatte sie absichtlich übersehen. Trinkgeld gab es bei ihr nicht.
Es war bald Weihnachten, jedoch daran war Agathe Riemenschneider nicht schuldig. Sie wohnte hier in ihrer kleinen Einzimmerwohnung und hielt das Geld zusammen, das ihre Nichte Christa sinnlos ausgeben wollte.
„Tante Agathe ist alt, geizig und unfreundlich“, pflegte Christa zu sagen. Jeder der Agathe kannte wusste, dass sie im Geld schwamm. Christa sollte ihr Vermögen erben. Sie war die einzige verbliebene Verwandte, seit ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren.
Christa war siebzehn, lebenslustig, hatte kein Geld und keine Arbeit. Als sie die Tante fragte ob sie einen klitzekleinen Teil von ihrem Erbe bekommen könne, hatte die knorrige Alte abgelehnt. „Später wirst du froh sein, dass ich dir das Geld nicht gegeben habe“, argumentierte sie.
Tante Agathe hatte keine Ahnung von Christas Lebensstil. Die monatliche Zuwendung die sie bekam, reichte vorne und hinten nicht. Es gab so viele schöne Dinge zu kaufen. Und verreisen wollte Christa auch. Es musste demzufolge etwas geschehen. Kurt, Christas Freund, der den größten Teil seines kurzen Lebens vor dem Fernsehapparat verbracht hatte, war auch dieser Ansicht. Seine große Leidenschaft waren Kriminalfilme. Folglich schien es ihm gut zu sein, so zu handeln, wie er es jeden Tag im Fernsehen sah. „Wir machen es wie im Film, wir schicken Tante Agathe Pralinen und impfen eine davon mit Arsen. Damit schaffen wir diese senile Alte aus der Welt, und das Vermögen gehört uns, “ sagte er. „Du bist ein Genie“, entgegnete Christa und umarmte ihn. Kurt war am Erbe seiner Freundin interessiert. Und er liebte Christa von Herzen.
Agathe Riemenschneider beäugte das Schächtelchen neugierig. Nie hatte sie von ihrer Nichte ein Geschenk bekommen. Aber bald war Weihnachten, und vielleicht meinte es das Kind gut mit seiner alten Tante. Vorsichtig öffnete sie die Verpackung. Köstlicher Schokoladenduft stieg in ihre große Nase. Ihre Augen glänzten. „Pralinen“, murmelte sie und machte vorsichtig den beiliegenden Brief auf. „Für meine liebe Tante Agathe zum ersten Advent“, hatte Christa geschrieben. „Das gute Kind“, murmelte Agathe und nahm behutsam eine der Pralinen aus der Schachtel. „Marzipan“, sagte sie zu ihrem Kater Felix, der ihr schnurrend um die Beine strich.
Das laute Schrillen des Telefons ließ Agathe aufschrecken. Hastig steckte sie sich die Praline in den Mund und griff zum Telefon. „Ist das Päckchen bei dir angekommen?“ Christas Stimme klang eifrig und besorgt zugleich. „Ich bedanke mich herzlich“, posaunte Agathe in den Hörer. „Gut, gut, ich wollte dir noch sagen, dass die Pralinen mit den Mandeln am Besten schmecken. Esse sie bald, sonst werden sie bitter.“ Damit, und mit der Erklärung, dass sie es eilig habe, beendete Christa das Gespräch.
Die dunkle Jahreszeit machte ihrem Namen alle Ehre. Graue Wolkenfetzen trieben über den Himmel. Der Regen floss in Strömen und klatschte gegen die Fenster.
Für ein paar Stunden war es hell gewesen, jetzt versank die Silhouette der Stadt im nebligen Grau. Einzelne Fußgänger, die hastig versuchten ins Trockene zu kommen, waren noch unterwegs. Hinter den Fenstern glitzerten Kerzen. Weihnachtsklänge schwebten durch die Lüfte. Auch aus Agathe Riemenschneiders Wohnung kam Musik. „O du Fröhliche, “ sangen die Wiener Sängerknaben zum achten Mal mit heiseren Stimmen. Das uralte Grammophon wurde nur einmal im Jahr benutzt.
Mit andächtiger Mine legte Tante Agathe das Schächtelchen mit den Pralinen unter den künstlichen Weihnachtsbaum. Wie jedes Jahr feierte sie nur mit ihrem Kater. Felix hatte sich den ganzen Tag nicht sehen lassen. Anscheinend streunte er noch draußen herum. Am Morgen hatte Agathe versucht, Christa anzurufen, um ihr ein schönes Weihnachtsfest zu wünschen. Sie war nicht zu Hause. „Wir sind in der Karibik“, sagte ihre fröhlich-kindliche Stimme auf dem Anrufbeantworter. „Wann wird dieses alberne Ding endlich erwachsen?“ Hatte Agathe zu Felix gesagt, der ihr schnurrend um die Beine strich. Dann hatte sie eine der Mandelpralinen aus der Schachtel geholt, und sie ihrem dicken Kater gegeben. „Weil heute Weihnachten ist“, sagte sie. Und Felix, das Schleckermaul sah sie dankbar an.