Normalerweise stehe ich jeden Morgen gegen sechs Uhr früh auf und mache mich in hektischer Eile auf den Weg zur Uni.
Normalerweise.
Aber seit gestern ist nichts mehr normal. Statt vom schrillen Geschrei meines Weckers aus meinem traumlosen Schlaf geweckt zu werden, sitze ich schon seit Stunden wach im dämmrigen Licht eines immer weitergleitenden Zuges. Wenn ich aus dem Fenster schaue, zucken nur die blassgrauen Schemen einer kahlen Winterlandschaft vor meinen Augen vorbei. Bis auf das ständige Dröhnen des Zuges, was mit aller Gewalt auf meine Ohren drückt und mir Kopfschmerzen bereitet ist es still. Ich sitze da, den Rücken an die harten Polster gelehnt und kritzle abwesend in einem kleinen Schreibblock herum. Wirklich Sinn ergeben die schwarzen Striche, die sich langsam zu Buchstaben, Wörtern und Sätzen formen eigentlich nicht. Genauso wenig Sinn wie alles, was in den letzten Stunden passiert ist.
Angefangen hat alles mit unbedeutenden Kleinigkeiten. Ein Streit hier, eine unangenehme Situation da. Dies das, was halt jedem so mal passieren kann.
Alles rauscht an mir vorbei, viel zu viele Gedanken toben in einem wirren Sturm lautlos schreiend durch meinen Kopf. All die Gefühle und Gedanken, die ich verdrängen wollte, vor denen ich geflüchtet bin, kommen zurück und drängen durch jeden Spalt in meinen Körper. Ich kann nur dasitzen und versuchen, sie zu ertragen. Ich frage mich schon seit ich von zu Hause weg bin, wie es nur so weit kommen konnte. Warum alles so aus dem Ruder laufen musste, dass ich den einzigen Ausweg darin sah, wegzulaufen und mein altes Leben zurückzulassen. Was mich eben hierher in den Zug geführt hat.
Eigentlich waren doch die letzten Wochen ganz gut verlaufen. Nicht wunderbar oder großartig toll, aber was soll man schon vom Leben erwarten.
An dem Tag, als alles außer Kontrolle geriet, hatte ich wie immer Mühe mich aus dem Bett zu etwas Sinnvollem aufzuraffen. Und zu tun habe ich eigentlich immer mehr als genug, oh ja. Trotzdem liege ich viel lieber auf dem Sofa und vertreibe mit der Musik aus meinem alten kleinen Radio die Gedanken an all das ganze Zeug, was ich eigentlich noch erledigen müsste.
Der Zug ruckelt plötzlich stärker, mein Kugelschreiber hinterlässt eine lange zittrige Linie auf meinem Block. Ich schaue auf, draußen kommt die Landschaft langsam zum stehen. Mit unnötigem Gedränge schieben sich einige wenige Passagiere in den Zug hinein. Das ist das erste Mal seit Stunden, dass überhaupt jemand mal in den Zug dazusteigt. Kein Wunder, die Zugstrecke führt ja auch fast durchgängig durchs gefühlte Nichts. Abseits von größeren Städten und Dörfern, durch die entlegenste Gegend, wo im Umkreis von mehreren Kilometern nur ab und zu ein paar Häuser oder ein Bahnhof inmitten der eintönigen Landschaft auftauchen.
Warum ich ausgerechnet durch so eine karge Landschaft ins scheinbare Nichts unterwegs bin? Glaub mir, das hier war auch nicht wirklich meine erste Wahl. Aber auf die schnelle konnte ich keinen anderen Ausweg finden, der auch nur halbwegs so realisierbar wie mein bescheuerter Plan hier schien.
Tja, ich könnte mir auch einiges vorstellen, was jetzt schöner wäre, als in diesem miefigen Zug zu sitzen und ohne genauen Plan wegzufahren. Wenn ich nun versuche, an etwas Schönes zu denken, kommt mir als erstes Jonah in die Gedanken. Wenn die Situation mit ihm anders wäre und ich die Wahl gehabt hätte, würde ich mich am liebsten bei ihm verkriechen. In meiner jetzigen Lage scheint dies leider unmöglich. Was hätte ich ihm bitte sagen sollen? „Ja hallo, ich bin von Zuhause abgehauen und weiß nicht ganz, wohin ich jetzt soll. Und irgendwie mag ich dich, deswegen bin ich hier und es wäre nett, wenn ich etwas bleiben dürfte…“ Ha, nie im Leben könnte ich auch nur ansatzweise etwas in der Art zu ihm sagen. Geschweige denn, einfach vor seiner Tür stehen. Ich kenne Jonah vielleicht gerade mal zwei Wochen und habe absolut keine Ahnung, was er von mir hält. wenn ich plötzlich so ankäme, würde er wahrscheinlich nur denken, dass ich anscheinend völlig gestört bin. (Was ich wirklich nicht bin!!).
Schon seltsam, obwohl ich Jonah erst so kurz kenne, geht er mir einfach nicht aus dem Kopf. Vor meinem inneren Auge sehe ich wenn ich an ihn denke immer wieder, wie er sich zu mir rüberbeugt, um leise einen spöttischen Kommentar zum Unterricht in mein Ohr zu flüstern. Sein Lächeln, bei dem es mir angenehm den Rücken herunter rieselt. Seine Art, wie er sich entspannt auf den Stuhl lehnt und mit angenehmer Stimme etwas erzählt. In meinem Traum sitzt er neben mir und ich kann meinen Kopf an seine Schulter anlehnen, habe seinen angenehmen Duft in der Nase und alles ist wäre wieder gut. Der Traum bleibt aber nunmal Traum und stattdessen sitze ich weiterhin im kalten Zug und zum Anlehnen habe ich höchstens die kalte Glasfensterscheibe neben mir. Der Gedanke an Jonah lässt einen unangenehmen Klumpen auf meinem Herz zurück. Ich kann dieses Gefühl schlecht beschreiben, es ist wie eine Kälte, die daran sitzt und mich umklammert hält.
Je mehr ich daran denke, desto mehr wünsche ich mir, ein anderer Mensch zu sein. Einer, der nicht in so einer beschissenen Situation steckt wie ich. Einer, der nicht vor seinen Problemen wegläuft. Jemand, der sich mehr traut das zu machen, was er wirklich will. Der zu seinen Dingen steht und keine Angst davor hat, auch mal Fehler zu machen.
Ich schaue mein Abbild in der Spiegelung der Fensterscheibe an. Ein schmales, blasses Gesicht mit wässrig blauen Augen. Das strähnige Haar hängt platt herunter. Auf meinem Schoß liegt zwischen meinen Händen der Schreibblock, der sich mehr und mehr mit schwarzer Tinte füllt. Mein Körper ist in einen etwas zu großen aber dafür umso bequemeren Pulli und eine Jacke gehüllt. Nicht besonders hässlich, aber auch nicht wirklich attraktiv. Ich versuche mein Spiegelbild anzulächeln, der Mund verformt sich zu einer schiefen Grimasse.
Mit einem Ruck löse ich mich von meiner Betrachtung. Mittlerweile ist der Zug an der Endstation angekommen. Ich steige mit den wenigen restlichen Passagieren aus und wende mich in Richtung Busbahnhof. Gottseidank ist alles gut ausgeschildert und doch finde ich es schwierig, mich alleine in der Fremde zurecht zu finden. Mit zögerlichen Schritten steige ich die Bahnhofstreppe Stufe für Stufe herunter. Den Kopf gesenkt, die Kapuze gegen den Wind tief ins Gesicht gezogen. Trotzdem schneidet mir der eisige Wind ins Gesicht, nimmt mir den Atem und zerrt drängend an meinen Kleider. Er zieht an mir wie meine Gefühle, die mich stets von innen bedrängen.
Der Bus, mit dem meine Reise weitergeht, steht schon abfahrbereit mit laufendem Motor an der Haltestelle. Ich steige ein, zeige meine Fahrkarte dem mürrisch dreinblickenden Busfahrer vor und lasse mich erschöpft in einen Sitz fallen. Noch ist es ruhig. Doch schon kurze Zeit später öffnen sich die Bustüren erneut und eine Gruppe Jugendlicher quillt angeregt schnatternd in den Bus. Gleich einer riesigen Welle überschwemmen sie alles mit ihrem Gekreische, Gekicher und Gejohle. Ich sehne mich nach der Stille im Zug zurück. Trotz des Lärms fallen mir die Augen zu und ich schaffe es nicht wach zu bleiben.
Ich erwache erst langsam, als der Bus durch einen steinigen Feldweg rumpelt. Meine Lippen sind total ausgetrocknet, mein Hals ist rau und ich spüre, wie mein Magen hungrig rumort. Die Gruppe Jugendlicher ist schon ausgestiegen, aber das habe ich wohl verschlafen. Nurnoch leere Chipstüten und Müll von anderen Snacks, sowie eine stinkende Lache verschütteten Biers zeugen von dem Aufenthalt der Jugendlichen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr wundere ich mich, dass ich trotz des Tumults schlafen konnte.
„Ackerweg“ tönt die blecherne Sprechanlage durch den Bus und reißt mich aus meinen Gedanken. Für mich ist das nun die Endstation. Ab da muss ich gleich zu Fuß weiter. Schnaufend kommt der Bus neben dem verwitterten Bushaltestellenschild zum stehen. Die Farbe des Schilds blättert schon ab und auch sonst sieht der Weg hier eher ziemlich verlassen aus. Mit schweren Gliedern klettere ich steif aus dem Bus. Kaum stehe ich draußen, braust der Bus schon wieder mit überhöhter Geschwindigkeit davon.
Ich stehe alleine neben dem Bushaltestellenschild und schaue den leeren Feldweg entlang. Mein Rucksack, den ich mir erst locker über eine Schulter geworfen habe, drückt jetzt mit seinem Gewicht schwer herunter. Der Wind bläst durch meine losen Haare und lässt sie wie trockene Halme im Sommer vor meinem Gesicht tanzen. Sommer… schön wär’s! Ich ziehe fröstelnd die Schultern hoch und wickle die Jacke enger um meinen Körper. Seit meiner Abfahrt ist knapp ein Tag vergangen und die Welt sieht immer noch genauso grau aus, wie am Anfang meiner Reise. Doch meine Gefühle haben sich verändert. Die Verzweiflung, Wut und Hoffnungslosigkeit, die mich von zu Hause fortgetrieben haben, sind aus mir gewichen. Stattdessen bin ich von einer Art leisen Hoffnung erfüllt. Ich weiß, dort hinten wartet ein neuer Anfang auf mich. Irgendwo, am Ende vom ganzen Grau, am Ende des langen Feldwegs. Ich kann nicht sagen, was auf mich zukommt. Aber es kann nur besser werden. Ich schultere mit einer schnellen Bewegung nochmal meinen Rucksack und stapfe entschlossen los, den Feldweg entlang ins ungewisse Neue.