Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen.
- Friedrich Schiller: Wilhelm Tell
Es stand ein Olivenhain in einem Land im Süden, in dem schon hundert Reiche aufgegangen und verblüht waren. Ein Mann mit dunklem Haar und groben Kleidern saß dort, auf seinen Hirtenstab gestützt, in den Wurzeln eines uralten Ölbaumes. Sein Name war Colo und er blickte auf die Hügel und Felder, die sein Volk Upeno nannte.
Colos Herde graste inmitten der knorrigen Oliven, die Lämmer tanzten zwischen den Beinen ihrer Mütter. Ein ruhiger Wind wehte den Hang herauf und erfüllte den Hain mit dem Duft von blühendem Oleander. Am Stand der Sonne sah Colo, dass es bald Abend sein würde. Die Tage waren lang um diese Jahreszeit, doch wollte er noch vor Einbruch der Dunkelheit zurück im Dorf sein, konnte er nicht länger verweilen. Er stand auf und schickte seinen Hund, die Schafe zusammenzutreiben. Colo hatte nicht viele Tiere, nur elf mit den Jungen und dazu zwei Widder, doch sie brachten genug für ihn und seine Familie ein und darauf war er stolz. Die meisten Menschen in Upeno waren Schaf- und Ziegenhirten; es gab auch Feldarbeiter und Olivenpflücker und Fischer an der Küste, doch die Herden waren das Herz dieses Volkes und die Hirten sein Atem.
Mit steten Schritten führte Colo seine Herde zurück zum Dorf, das am Fuß des Hügels lag, zwischen kleinen Wäldchen und Weizenfeldern. Sein Hund trottete neben ihm, ein dünnes graues Tier mit borstigem Fell und einer schiefen Schnauze, das Colo hieß. Colos Schwester sagte, es sei dumm, ein Tier nach sich selbst zu benennen, aber Colo verstand nicht, warum er seinem Hund einen anderen Namen geben sollte. Colo, der Hund, gehörte Colo, dem Hirten, er war ein Teil von ihm, er war Colo.
Die Sonne stand tief im Westen als sie das Dorf erreichten und tünchte die kleinen Lehmhütten orangerot. Noch herrschte buntes Treiben überall, Kinder sprangen aufgeregt über Zäune, Hunde bellten, Erwachsene kochten ihr Abendmahl über kleinen Feuern vor ihren Türen. Die wenigen Alten saßen auf Bänken oder lehnten an Mauern und erzählten Geschichten. Es roch nach brennendem Holz und frischem Rosmarin. Dies war das Leben in Upeno: Menschen wurden geboren und starben zwischen Lehm und fruchtbarer Erde.
Ela, Colos Schwester, erwartete ihn vor ihrem Haus und half ihm, die Schafe in den kleinen Stall daneben zu bringen. Sie war eine sehnige Frau, kleiner als Colo, aber von kräftigem Wuchs; dichte schwarze Locken fielen über ihre Schultern und ihre braunen Augen strahlten vor Tüchtigkeit und Leben. Ihr Sohn glich ihr in Aussehen und Charakter, ein strammer Bursche von acht Jahren, mit glühenden Wangen und wendig wie eine Katze: Andro war sein Name. Er hatte eine kleine Schwester namens Pala, unscheinbar und dünn, mit einem runden Gesicht und einem müden Blick. Colo mochte Pala, denn Pala war wie Colo.
Sie nahmen ihr Abendmahl in dem kleinen abgezäunten Bereich vor dem Haus ein. Ein sterbender Schein glühte noch im Westen, doch die Sonne war bereits verschwunden, versunken im Meer hinter den Feldern. Das Feuer und die bemalten Lampions spendeten Licht. Colo aß seinen Reis konzentriert und achtete nicht auf die Geräusche um ihn, auf die Gespräche der Dorfbewohner, das Singen der Zikaden, die prasselnden Feuer, Elas Lachen. Als seine Schüssel leer und sein Magen voll war, starrte er in die Flammen und dachte an den Olivenhain und die Herde. Schafe waren einfacher als Menschen. Schafe redeten nicht. Menschen redeten viel, sehr viel, besonders die Alten.
Escos lautes Schmatzen und Murmeln riss Colo aus seinen Gedanken. Esco war ein alter Mann, der bei ihnen wohnte. Ela behauptete manchmal, er wäre ihr Großonkel, der Onkel ihres toten Vaters, aber das stimmte nicht. Nicht viele Menschen in den Dörfern Upenos wurden so alt wie Esco, und noch weniger überlebten all ihre Kinder und Verwandten. Esco war allein und Ela war mitfühlend; dies war der Grund, weshalb sich Colo eine Schlafkammer mit einem Greis teilen musste. Colo mochte Esco nicht, genauso wenig wie die anderen Alten. Alte Menschen waren noch schlimmer als junge, sie machten Arbeit und konnten selbst nichts arbeiten, sie sangen vor sich hin und redeten Unsinn. Am schlimmsten waren die Geschichten: Blödsinnige Märchen aus grauer Vorzeit, weitergegeben von einer Generation zur nächsten, aus den Mündern der Greise in die Ohren der Kinder, hunderte und tausende Jahre lang. Esco kannte besonders viele Geschichten und das machte ihn in Colos Augen besonders unerträglich.
„Iss, Väterchen“, sagte Ela mit lachender Stimme und füllte Escos Schüssel nach. Esco antwortete ihr mit ungeduldigem Murren und Colo strafte seine Undankbarkeit mit finsteren Blicken.
Während Esco noch seinen Reis schmatzte, nahm Ela die leeren Schüsseln und wusch sie in einem Kübel mit Regenwasser. Sie wies Andro und Pala an, ihr zu helfen, doch die Kinder waren in einen spielhaften Streit vertieft und hörten sie nicht.
„Sie sind so groß wie ein Haus und sie essen Ziegen und Schafe und aus ihrem Kopf wachsen Nadeln“, sagte Pala aufgebracht.
Andro schnaubte. „Das stimmt nicht. Sie sind klein und zottelig. Und Ardo meint, sie sehen aus wie Katzen.“
„Ardo ist ein Dummkopf!“ Pala schüttelte ihren Kopf so stark, dass sich ihr kurzer Zopf löste, den Ela ihr gebunden hatte, in der verzweifelten Hoffnung, das Haar ihrer Tochter würde dann weniger aussehen wie das Fell von Colo, dem Hund. „Er hat doch noch nie einen gesehen! Oria sagt, sie sehen aus wie Wölfe, nur viel größer und mit Nadeln auf dem Kopf.“
„Oria ist alt. Und alle sagen sie ist nicht richtig im Kopf.“
„Das ist nicht wahr! Sie hat viel mehr gesehen als Ardo und sie sagt, dass sie aussehen wie Wölfe.“
„Oria sagt auch, ihr Mann sei von einem eisernen Bären getötet worden. Sie ist nicht richtig im Kopf.“ Andro schien die Sache damit als geklärt zu sehen. Er stand auf, nahm seine Sitzmatte und wollte ins Haus gehen, doch Pala hatte noch nicht aufgegeben.
„Väterchen, Väterchen!“, rief sie aufgeregt und weckte Esco, der noch in die Reisschüssel vertieft war, aus seiner Trance. „Väterchen, wie sieht ein Löwe aus?“
Esco brauchte einige Momente, um sich von seiner Schüssel zu lösen und ins Diesseits zurückzukehren. Colo beobachtete abschätzig, wie seine Augen langsam nach Pala suchten, wie sich tiefe Furchen in der faltigen Stirn bildeten und schließlich die verfaulten Ruinen eines Gebisses hinter einem schiefen Lächeln sichtbar wurden. „Ein … Löwe?“, sagte er und hustete einige Reiskörner auf den Boden.
„Ja, ein Löwe! Du hast doch sicher einen gesehen, oder? Du warst weg von hier, hinter den Bergen!“ Pala starrte Esco erwartungsvoll an, und auch Andro ging zurück zu seinem Platz und ließ sich neben seiner Schwester nieder.
Esco murmelte unruhig vor sich hin bevor er zu einer Antwort ansetzte. „Löwe, ja … freilich hab ich einen Löwen gesehen …“ Er stieß ein keckerndes Lachen aus, das Colo mit mehr Abscheu erfüllte.
„Und? Wie sah er aus? Hat er dich angegriffen? Wie viel Zähne hatte er? Womit hast du dich verteidigt?“
„Hatte er Nadeln auf dem Kopf?“
„Er sah aus wie eine Katze, oder?“
Die Kinder stellten mehr Fragen als Colo zählen konnte. Ahnend, dass eine von Escos elenden Geschichten folgen würde, rückte er weg vom Feuer und setzte sich unter einen hellen Lampion. Mücken kreisten um die kleine Lichtquelle wie Hungernde um ein Stück Brot, doch Colo störte sich nicht dabei. Er nahm sein Messer und ein Stück Olivenholz und begann zu schnitzen während Esco sich über das Feuer beugte und mit kratziger Stimme zu einer Mär anhob:
„Ein schreckliches Ungeheuer, der Löwe … im Norden hab ich ihn gesehen, nicht weit von den Großen Bergen. Ein Sumpfland ist dort, müsst ihr wissen. Tiefe, dunkle Sümpfe sind das, doch am Grund – wenn man genau hinschaut, sieht man es glänzen – Gold … funkelndes, glitzerndes Gold.“ Ein heiseres Kichern. „Das Goldene Moor heißt man es, doch niemand lebt dort. Niemand geht dort hin, viele Geschichten. Niemand kehrt zurück, sagen sie. Oh, aber ich war dort, ja … hab es mir angesehen das Gold, das funkelnde Gold, das Silber. Manch ein Tor taucht hinunter und nicht wieder auf. Will das Gold holen, vom Grund holen, aber ich nicht, hab’s mir nur angesehen und seht her! hier bin ich noch.
Es ist eine Stadt, wisst ihr … wie die Ruinen im Norden von hier, wie die im Süden, wie Esepicur. Eine Stadt aus der Götterzeit … alt, sehr alt. Aber das Goldene Moor ist anders. Nicht verfallen, nein, nicht bröselnder Stein wie Esepicur – versunken! Versunken im Meer und versumpft. Nur ein paar Felsen ragen noch aus dem Wasser, ein paar verfaulte Häuser, und das Gold glänzt am Grund. Ich war dort, habe es angesehen, hab in den Sumpf gepinkelt und gelacht über die Altvorderen und ihre verfallenen und versunkenen Städte, hehe …“
Colo sah von seinem Holz auf. Esco musste erneut husten und spuckte mehr Reis auf den Boden. Er stierte eine Weile ins Feuer, bevor er fortfuhr, sein Gesicht plötzlich noch eingefallener, noch dürrer, mit einem fast bangen Blick.
„Dann sah ich ihn“, sagte er langsam, seine Stimme leiser, höher und noch heiserer als zuvor. „Tauchte auf einmal vor mir aus dem Nebel auf … puff, einfach so … der Löwe …“ Ein Schaudern schien ihn zu überkommen. „Riesig war er … furchterregend, mit Pranken groß wie Schafsköpfe. Kein Fell, kein Haar, nur eine grüne, starre Haut wie von Stein. Leere Augen ohne Pupillen … ein schreckliches Maul, groß genug, um ein Kind ganz zu verschlingen, verzogen zu einem garstigen Grinsen … kleine, bleiche Zähne und eine lange Zunge. Und auf seinem Rücken – Schwingen, riesige Schwingen, die mit jedem Schlag den Nebel zerstoben und das Wasser aufwühlten. So kam er auf mich zugeflogen …“ Esco hielt inne und begann, mürrisch vor sich hinzumurmeln.
Die Kinder sahen sich ratlos an; selbst Palas müde, stets halboffene Augen waren groß geworden und starrten unfassbar zu Esco, der sich wieder seinem Reis zuwandte.
„Aber was…“, begann Andro.
„… hast du dann getan?“, endete Pala.
Unwirsch sah Esco von seinem Reis auf, seine andächtige, ängstliche Stimme war verflogen, seine Miene wieder finster und kantig. „Gelaufen, was sonst“, brummte er. „Hab mich umgedreht und bin gerannt wie noch nie zuvor in meinem Leben und auch nie danach bin ich so gerannt. Hab keinen Blick zurück geworfen. Bin nie wieder dort hin. Hab’s auch nicht vor.“
Damit beendete er seine Geschichte und kein Jammern und Klagen der Kinder konnte ihn dazu bewegen, noch mehr zu sagen. Er aß seinen Reis auf und kratzte auch nachdem das letzte Reiskorn in seinem Rachen verschwunden war noch in der Schüssel. Ela scheuchte Andro und Pala ins Haus um sie zu Bett zu bringen und verfuhr mit Esco danach in ähnlicher Weise. Sie machte Anstalten, auch Colo aufzujagen, besah sich aber anders und zog sich zurück.
Colo saß noch eine Weile an der kahlen Hauswand, lauschte den Zikaden und den sterbenden Stimmen um ihn herum als sich tiefe Nacht auf das Dorf senkte. Als das Licht des Lampions beinahe erloschen war, stand er auf und blickte auf die kleine Figur aus Olivenholz in seiner Hand: ein groteskes Tier mit Wolfsmaul und Bärentatzen, und Adlerschwingen auf dem Rücken.