Es war einmal vor undenklichen Zeiten, damals als es noch richtige Winter gab. Da schüttete Frau Holle so richtig ihre Betten aus und das Land stöhnte unter der dicken Last des Schnees. Mit Besorgnis saß Bauer Hinnark am Kamin und stopfte seine Pfeife. Neben ihm züngelte ein winziges Feuerchen Halt suchend an ein, zwei Scheiten. „Wenn es so weiter geht, dann wird uns noch das Dach auf den Kopf fallen“, seufzte er und nickte in die leere Stube. Sein Blick richtete sich auf die dunklen Balken hoch über ihm. Schon im vergangenen Sommer hätte er das Reet austauschen sollen, und in dem davor. Allein, das Geld kam nicht durch den Kamin geflogen, jedenfalls nicht von oben nach unten. In einem Winter wie diesem zog es schon eher als Scheite gen Himmel. Wieder einige Einnahmen, die er nicht hatte machen können.
Hinnark graute davor, was er sehen würde, wenn ihn die Massen des Schnees endlich durchlassen würden hinüber in den Kuh- und den Schweinestall. Hoffentlich hatte es kein Gemetzel gegeben, dachte er, und seufzte erneut. Seit Tagen konnte er das Haupthaus nicht verlassen, um nach den Tieren zu sehen. Ohne Unterbrechung schneite es, als sollte ein Lebensvorrat an Weiß angelegt werden.
Weiß, weiß, weiß! Als Bub hatte er es geliebt und seine Onkel und Tante immer wieder ausgefragt: Warum ist der Schnee weiß? Warum fällt er nur im Winter, wenn es kalt genug ist, und nicht im Sommer, wenn man ihn ganz gut gebrauchen könnte? Wieso hat sich der liebe Gott so etwas Sinnloses ausgedacht, das Menschen und Tiere quält?
An dieser Stelle hatte Tante Anna immer gelacht und gesagt: „Na, hoi, scher dich davon, das wird’s der Herr schon wissen halt.“ Und Onkel Otto hatte knurrend hinzugefügt: „Ganz so gar so schlimm wird er nicht sein, so lange wie du dich da draußen mit den Nübers rumtreiben tust!“
Die Nübers, das waren die drei Söhne und zwei Mädels vom Nachbarsbauern. Sie waren alle fort gezogen, einer nach dem anderen. Onkel Otto und Tante Anna hatten auch längst das Zeitliche gesegnet. Und Hinnark, der heimlich die fesche Sanne Nüber angehimmelt hatte, war alleine geblieben. Zusammen mit dem Jagdhund Bonne, den Schweinen und Kühen.
„O je“, seufzte er zum dritten Mal. Langsam erhob er sich und ging Richtung Küche. Vor dem Kreuz an der Tür blieb er stehen. „Wenn du nichts machst, dann werd ich nie erfahren, warum der Schnee weiß ist“, knurrte er. „Andererseits, vielleicht müsste ich dafür in den Himmel, und das hat wahrlich noch Zeit, wenn's nach mir ginge.“ Er schaute aus dem niedrigen Fenster auf das Weiß davor. Lüften unmöglich. Seit Tagen.
Und als er so schaute war es ihm, als drückte etwas von oben und presste die weiße Masse noch weiter zusammen. Und dann wurde ihm grün vor Augen und im nächsten Moment wusste er nichts mehr.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf einer wunderbaren grünen Wiese. Etwas Nasses fuhr ihm durchs Gesicht: Als er aufschaute, war es Bonne, der seinem Herrn gefolgt war und ihn nun schwanzwedelnd mit großer Begeisterung abschleckte. Wie damals, als er nur wenige Monate alt war, dachte der alte Hinnark. Er wischte sich das Gesicht trocken und setzte sich auf. Wo war er?
Nie zuvor hatte er eine so saftige grüne Wiese gesehen, mit tausend bunten Kräutern und tanzenden Schmetterlingen.
„Hier, hier geht die Farbe hin, wenn sie sich ausruhen will“, hörte er eine Stimme sagen. Der Klang erinnerte ihn an ein Glockenspiel, das er bei seiner einzigen Reise vor vielen Jahrzehnten gehört hatte.
Hinnark schaute sich um, doch konnte er niemanden außer Bonne sehen. Auch auf dem Weg, der sich über sanfte Hügel schlängelte, war niemand.
„Nun weißt du es“, sagte die Stimme. „Du musst wissen, jede Frage wird beantwortet.“
„Oh, wirklich?“ Hinnark erhob sich – und staunte nicht schlecht, dass es ihm so gar keine Mühe bereitete. Seit er damals vergeblich der Sanne den Hof gemacht hatte, war er nicht mehr so beweglich gewesen. „Wo ist denn hier?“
Ein helles Lachen.
„Was gibt’s da zu lachen?“
„Nichts. Hier ist hier. So viele Fragen auf einmal? Du könntest besser wählen!“
„Na“, knurrte Hinnark. Er bückte sich nach dem Ast, den sein treuer Gefährte vor seinen Füßen abgelegt hatte. Mit fliegenden Ohren sauste Bonne dem Wurfgeschoss nach. „Für ihn ist's wohl das Paradies.“ Dann erinnerte er sich an seine anderen Tiere. Und er fragte sich, wie es denen wohl ergangen war.
„Schon eine bessere Wahl. Was bedeuten dir die Tiere?“
Hinnark strich sich durch den Bart. Zu den Katzen hatte er keine Beziehung. Aber sie waren noch rechtzeitig ins Herrenhaus geschlüpft, bevor kein Durchkommen mehr war. Und so waren sie da, um seinen Bauch nachts zu wärmen, und ihren Teil am Hundefutter zu bekommen. Hinnark und Bonne hatten sich beide an sie gewöhnt. Und zumindest Hinnark genoss es heimlich, die Wärme zu spüren. Aber das hätte er niemals zugegeben.
Die Schweine? Nun, er hatte keine persönliche Beziehung zu ihnen. Mit etwas Glück würden sie die vergangenen Tage überlebt haben. Sie waren zäher ohne Futter, als man bei ihrer Gefräßigkeit vermuten konnte. Ja, die Schweine, die waren schlau. Vielleicht hatten sie daran gedacht, die Tür zu durchbrechen, um an die Futtervorräte zu kommen, bevor sie verhungerten. Ob sie so schlau waren? Hinnark gönnte es ihnen. Nicht ganz uneigennützig, denn die Schweine waren ganz wesentlich für seinen eigenen Unterhalt. Ohne sie würde er nicht auskommen. Nicht lange. Oh Gott, lass sie überlebt haben, dachte Hinnark.
Und dann waren da noch die Kühe. Hinnark musste sich zwingen, an sie zu denken. Tagelang ohne Futter! Mit etwas Glück hätte das Stroh reichen können, auf dem sie standen. Vielleicht konnten auch sie im Notfall selbst in die Futterkammer finden. Aber ihre Euter! Wie sollten sie sich selbst melken? Oh Gott! Hinnark betete, wie er es nicht mehr getan hatte, seit Sanne ihn verlassen hatte.
Sanne! Wo war Sanne? Was war aus ihr geworden? War es ihr gut ergangen in der Stadt? Hatte sie das Leben gefunden, das sie sich erträumt hatte?
Plötzlich brach der lange zurückgehaltene Schmerz als Tränen aus den Augen des Bauern und war so heftig, dass er sich hinknien musste. Sanne! Sanne! Sanne! Wenn es nur möglich wäre zurückzugehen, nach damals, als die Sonne lachte und er noch verrückte Fragen stellte. Hätte er sie bloß niemals ziehen lassen! Was wäre dann jetzt? Würde er auch hier auf der Wiese stehen, mit all dem Schmerz um Schweine und Kühe? Mit Bonne als einzigem Herzensgefährten?
Sanne! Wenn er nur etwas weniger gezögert hätte. Wenn er bereit gewesen wäre für ein Abenteuer, und nicht so ans Land seiner Vorfahren gefesselt. Wenn er Onkel und Tante hätte lebe wohl sagen mögen. Und sei es nur für eine Weile...
Eine neue Welle aus Wasser und Salz ergoss sich aus den Augen, die noch nie so offen geweint hatten. Und Hinnark merkte nicht einmal, dass Bonne seine Schnauze in seine Seite drückte. Als er endlich aufschaute, begann die Sonne unterzugehen. Hinnark fühlte sich erschöpft wie nicht einmal am härtesten Tag auf dem Feld. Er stand auf und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes übers Gesicht. Dann seufzte er. Und weil er nichts anderes zu tun wusste, folgte er dem Pfad. Dabei merkte er, wie er sich seltsam leicht fühlte. Als hätten die Tränen viel von seinem Gewicht mit sich genommen. Mit dem letzten Tageslicht kam er um eine Kurve und vor ihm lag ein wunderschönes Anwesen. Rauch stieg aus dem Schornstein auf und hinter einigen Fenstern leuchtete Kerzenschein. Zielstrebig schritt Hinnark geradewegs auf die Tür zu. Er hatte schon die Faust erhoben, hielt aber inne. Wer mochte hier wohnen? Was sollte er sagen?
Da ging die Tür auf und eine wunderschöne junge Frau lächelte ihn an. „Nur zu, heute Nacht wirst du mein Gast sein“, sprach sie mit Glockenstimme.
„Du... äh, was?“ Hinnark starrte sie an und hielt den Mund, als er merkte, dass er keinen vernünftigen Satz würde sprechen können.
Sie nahm ihn an die Hand und schloss die Tür hinter dem Jagdhund, der weniger Probleme mit der Gastfreundschaft hatte als sein Herr. Sogleich war er dem einladenden Duft in die gute Stube gefolgt.
Hinnark staunte nicht schlecht, als er den gedeckten Tisch erblickte. Eine gefüllte Gans, Wein, Salate, frisch gebackenes Brot und eine riesige Schüssel voller Kartoffeln standen da nebst einer mit Apfelkompott und Schlagobers. „Na, da werd ich doch...“ Doch das erfuhr die Welt nie. Die junge Frau rückte ihm einen Stuhl zurück und drückte ihn darauf. Dann füllte sie seinen Teller reichlich und setzte sich ihm gegenüber.
Hinnark langte tüchtig zu und ließ auch manchen Brocken für Bonne fallen. Erst als er eine gewisse Sättigung erreicht hatte, bemerkte er, dass seine Gastgeberin keinen Bissen zu sich genommen hatte. Er wollte gerade fragen, ja, sich entschuldigen für seine unbotmäßig erscheinende Gier und bekam schon Schuldgefühle, was er dieser Frau wegnahm.
Doch kaum hatte er den Mund geöffnet, um sich zu erklären, legte sie ihm auch beschwichtigend die Hand auf den Arm. „Das wäre keine gute Wahl“, sagte sie und schenkte ihm noch einmal das Weinglas voll. „Iss nur weiter und gedenke dessen, der du wirklich bist.“
Zögernd nahm Hinnark einen Bissen und trank sein Glas leer. Was meinte sie. Wer er wirklich ist? Ihm entging ihr verschmitztes Lächeln, da er sich wieder seinem Teller zuwandte. Offenbar wollte sie, dass er aß. Wie Tante Anna. Er lächelte vor sich hin.
Als er beim besten Willen nichts mehr essen konnte, führte seine Gastgeberin ihn in eine ansehnliche Kammer unter dem Dach, in der ein pralles Daunenbett aufgeschüttelt war. „Nun schlaf, und im Traum wirst du alle Antworten bekommen.“
Zunächst dachte Hinnark, er würde noch lange wach bleiben und all die offenen Fragen wälzen, die ihn beschäftigten. Doch kaum hatte er sich hingelegt, war er auch in einen tiefen Schlaf gefallen.
Das nächste, woran er sich erinnerte, war eine andere Frauenstimme. Er hatte sie so vermisst! Seine Sanne!
Moment, seine Sanne? Hinnark setzte sich auf. So richtig war sie nie seine geworden, oder? Er schaute sich um – neben ihm streckte sich die einzige Frau, die ihm jemals begehrenswert erschienen war. Und was für ein Wunder! Sie war noch so jung, wie damals, als... Er konnte nicht mehr als ein paar Worte stammeln, da lachte sie ihn an und fiel ihm um den Hals. Das ließ er sich mehr als gerne gefallen und so dauerte es ziemlich lange, bis sie sich wieder voneinander lösten. Jetzt sprang Bonne auf die Decke und ließ keinen Zweifel, dass nun er Recht auf Aufmerksamkeit hatte. Die beiden Menschen zogen sich an und traten gemeinsam aus dem Bauernhaus.
Am Ausgang fiel sein Blick auf einen Buchtitel: „Wie die Farbe zum Winter kam“. Von Hinnark T. Bolds. Sein Name. Sein Name!? Eilig ergriff er es und las: „Es war einmal vor undenklichen Zeiten, damals als es noch richtige Winter gab. Da schüttete Frau Holle so richtig ihre Betten aus und das Land stöhnte unter der dicken Last des Schnees...“
Frau Holle!
„Heute Abend ist die Buchpräsentation, vergiss das nicht“, sagte Sanne. Ein wenig kam er ihr seltsam vor. Aber das war er früher ja auch gewesen.
Hinnark grinste breit. „Keine Bange, das werd' ich nie vergessen!“ Dann umarmte er sie heftig und riss sie mit hinaus in den Sonnenschein.