»Hey Mira.« Kathrin schien skeptisch. Ihr Kopf zuckte kaum merklich und ihre Brauen runzelten in Richtung Nasenansatz. »Wo versteckt sich dein Schatten?«
»Hör mir bloß auf«, gab ihre Freundin genervt zu, sah zurück zur Tür und stapfte weiter. »Kommst du?«
»Aber ... Jona?«
»Bitte.«
»Mmh, wie du meinst.« Sie legte ihr den Arm um die Schulter, wohl wissend, dass sie etwas zu verheimlichen schien. Der gut aussehende Mistkerl würde sie nie und nimmer allein zur Schule gehen lassen. Sie waren ein Paar und das zeigte er überdeutlich.
Kaum dass beide außer Hörweite der Schulbitches gelangten, knallte Mira mit der flachen Hand gegen einen Spind.
»Was bitte ist los? Was hat dieser Schuft angestellt?«
Angesprochene sah auf und ihre Augen waren schwer gerädert. Wow, wenn ich nicht wüsste, dass Jona zuhause an seinem Laptop gesessen ist, würde ich meinen ... Moment mal. »Es ist hoffentlich nicht das, was ich denke«, ihre Stimme klang bestimmend, wenngleich ein Anflug von Entsetzen darin mitschwang.
»Was? Nein.« Kleinlaut fügte sie hinzu: »Ich weiß nicht einmal, was dir überhaupt für Bilder im Kopf umherspuken.«
»Bist du ...«
»Kath, ich bin was?«
»Fremdgegangen?«
Weit öffnete sie die Augen und stierte ihre Freundin entgegen. Sie suchte in ihren Zügen nach Spott oder Hohn.
Nein, das glaubte sie nicht ernsthaft? »Spinnst du jetzt total? Was glaubst du ... Ich gehöre nicht zu den Schlampen.« Ihr Kinn deutete derer Richtung, wo sie tuschelnd die Köpfe ineinander steckten.
»Was ist es dann? Du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht hindurch deinen Spaß gehabt. Ein Film kann es wohl kaum gewesen sein.«
Da war etwas und das ahnte, nein wusste Kathrin. Mira verschloss sich ihr gegenüber und das war für dieses Mädchen absolut untypisch. Sie waren echt gute Freundinnen geworden, als sie sich kennen lernten. Sie trauten einander und teilten so manches Geheimnis. Auch was ihre Vorstellungen von Kerlen anbelangte und wie sie es sich insgeheim vorstellten.
Mira war es daher nicht fremd, dass Kathrin ab und an von ausgerechnet ihrem Freund schwärmte. Die Zwei fantasierten sogar von gemeinsamen Abenteuern mit ihm. Wie sie ihn im Sommer, hinter den Sträuchern, unten am See, dazu verführen, würden können.
»Kath, du bist wie eine Schwester für mich. Ich würde alles und jeden mit dir teilen ...« Ihr Mund wurde ihr mit einem Finger verschlossen und ihre Gegenüber zischelte beschwörend. »Pssst.«
»Endlich, da bist du ja.« Der Sprecher kam offensichtlich völlig außer Atem daher und keuchte angestrengt.
Kathrin zwinkerte sie verschwörerisch an. »Was hat dich denn aufgehalten. Du bist spät dran und ich mag es nicht, wenn man mich als Trostpuppe missbraucht.«
Jonas Gesicht war puterrot. Er schien den Schulweg mit dem Rad gekommen zu sein. Das tat er bei schönem Wetter des Öfteren, nur war er meist früher auf dem Gelände als der Bus, da er verschiedene Abkürzungen nutzen konnte. Außerdem wusste Mira dann zuvor davon.
»Ich, ähm.«
»Lass gut sein, ja.« Nun wieder versöhnlicher umarmte sie den Ankömmling und knuffte ihn mit der Faust. »Hast du was herausgefunden?«
Anstatt zu antworten, senkte er den Blick und schluckte schwer. Sein Atem wurde Hecktisch, als er sich seine linke Hand besah.
Schnell war Mira heran und nahm die Seine in die ihre. Sie drehte die Verbundene mit der Innenfläche nach oben und musterte sie mit gerunzelter Stirn von allen Seiten. »Was ist?«
Beschämt sah er auf, einen traurigen wie gehetzten Glanz in den Augen. Seine Lippen zitterten.
»Jona?«, fragten beide Mädels zugleich. Besorgnis in jeder einzelnen Silbe seines Namens.
»Ich habe stundenlang recherchiert.«
»Und«, begehrte Kathring neugierig auf und fing sich einen strafenden Blick Miras ein.
»Ich fand tatsächlich etwas, dass interessant sein könnte.«
»Lass ihn«, zischte Mira durch aufeinanderliegende Zähne und hielt Kathrin somit von der nächsten Frage ab.
Er schnaufte, bevor er abermals das Wort ergriff. Den Kopf hielt er nach wie vor gesenkt. »Ich habe den Bericht noch nicht gelesen. Ich möchte, dass wir das gemeinsam machen, ja?«
Es war Kathrin, die ihm vorsichtig, fast ängstlich die linke Hand auf den Arm legte und sanft zudrückte. Ihr Kiefer mahlte und die Muskulatur tanzte. Ihre Laute klangen flüsternd, nahezu flehend. »Was hast du gesehen?«
Erschrocken sahen beide auf. Gesichtszüge, die nahelegten, dass sie verstanden.
Rasselnd sog Mira Atem durch ihre Nase. »Du auch?«
»Mich zieht es seit drei Tagen immer zu ans Fenster. Ich kann es mir nicht erklären.« Sie zuckte stets dann mit der einen Schulter, wenn sie tatsächlich überfragt war, so wie jetzt. »Da draußen ist nichts. So rein gar nichts, aber ich muss einfach raus sehen. Nichts als dieser blöde alte Baum.«
»Ich höre immer dann, wenn ich allein bin, Stimmen«, gab Mira ebenso leise zu. »Sie klingen wie die von ... Kindern.«
»Was sagen sie?«
»Kath, ich ...« Eine Träne rann ihrer Wange hinab und sie warf sich in Jonas Arme. »Sie rufen nach mir. Diese Kinder, ihre Stimmen, jemand hält sie gefangen und foltert sie.« Deutlich hörbar versuchte sie ein Schluchzen zu unterdrücken, welches ihr natürlich nicht gelang. »Was passiert hier?«
»Das ist ...«
»Gruselig? Nein Jona, das ist ... entsetzlich. Was ist mit dir?«
Er ging nicht darauf ein und hob mit der unverletzten Hand Miras Kinn. Er gab ihr einen Kuss, der aufmunternd sein sollte.
»Man Jona. Lenk jetzt nicht ab. Du siehst selbst, dass hier irgendeine Scheiße passiert und wir stecken mittendrin.«
»Kath, meinst du zufällig die große Weide, bei euch hinterm Haus?«
Sie schaute verwundert drein, nickte aber. »Ja, aber was hat das denn damit zu tun?«
»Vielleicht hängt das Miteinander zusammen. Wir sollten ...«
Weiter kam er nicht, da die Glocke zum Unterricht läutete und ihre Mitschüler lautstark zu den Klassen trabten.
Ihm lief es eisig den Rücken hinab. Wie gestern Abend, als er sein Gesicht oder vielmehr ein Gesicht im Spiegel sah. Ebenso begann wiederholt seine Hand zu jucken. Wie tagszuvor.
Als er diese anhob, um einen Blick darauf zu werfen, tropfte es aus dem bereits blutdurchtränkten Verband. Der gekachelte Boden unter ihm wies längst eine Lache davon auf. Zurückblickend sah er eine Spur, beginnend der Eingangstür, bis hier hin, wo er mit seinen Mädchen stand.
Die ansonsten sauberen Flure, nunmehr dunkel und schmutz beladen. Wände so schartig und verdreckt, als wären Jahrzehnte anstatt Sekunden vergangen. Obskure Zeichen prangten daran. Ihre Linien wiesen verlaufene Nasen auf, als habe der benutzte Pinsel zu viel Farbe ... oder Blut? ... aufgetragen.
Er schloss die Augen und wusste, dass sich sein gestriges Erlebnis wiederholte, nur mit dem Unterschied, dass er nicht in seinem Bett erwachen würde, so als litt er an einem Albtraum. Es war Real und geschah ... jetzt.
Jemand sprach seinen Namen. Die Stimme war ihm geläufig und gut bekannt, doch er traute sich nicht. Erst als er glaubte jene Laute zu vernehmen, welche ihn aus den Latschen hauten, zwang er sich Widerwillen.
»JONAHHHHHHH«, hauchte diese. Ein grotesk missgestalteter Typ wartete im Durchgang zum Quergang. Beine wie Arme schienen mehrfach gebrochen und standen absurd ab. Sein Rücken bezeichnete einen derben Buckel und sein Bauch wie Brust waren überseht mit unverheilten, eiternden Narben.
Das, was den Kopf darstellen sollte, glich einer deformierten geschwärzten Birne, ähnlich einem Stück Kohle.
Die Augen quollen ihm hervor und die Zähne wirkten bedrohlich und spitz - nach vorn gerichtet wie das einer Milbe.
Sein Gang war schleppend wie ruckend, so als versuche das Wesen jemand zurückzuhalten und erwehre sich diesem Drang.
»JONAHHHHHHH«
Mit erhobenen Armen kam es auf ihn zu.
Er glaubte jeden einzelnen gebrochenen Knochen, in dessen Leib knirschen zu hören, während ihm war, als zerrten unsichtbare Hände nach ihm.