Mira schwieg nach wie vor, als sie Arm in Arm ins Blickfeld der alten Trauerweide traten. Eine kühle Böe zog an ihnen vorüber. Kathrins Haare tanzten und ein eisiger Schauer rann ihr beginnend des Halses bis zum Steiß hinab.
Jona räusperte sich erschrocken und Mira erstickte ein Quieken mit den Händen vor dem Mund.
So lau dieser belanglose Windhauch auch hätte nur sein dürfen, was ihnen ihre Augen offenbarten, sprach gänzlich anderes.
Der Rasen wogte, als fege ein Sturm darüber hinweg. Schwere Bretter, selbst das Glas der offenstehenden Fenster vibrierten im Einklang.
Auf direktem Wege zu ihrem seltsamen Fund wuchs dieser unscheinbare alte Baum. Dessen Astwerk peitschte unnatürlich wie aufbrausend. Die Schatten derer zeigten gekrümmte Klauen, die gierig um sich griffen.
»Steht hier nicht rum. Ihr stört«, bemerkte ein grimmig Vorbeischreitender. Der Mann trug eine Bohle auf der Schulter und ging kopfschüttelnd um sie herum. »Gaffer und dann noch Gören. Zum Kotzen«, motzte dieser anmaßend und ohne das offensichtliche zu bemerken. Kathrin wollte schon mahnend den Arm heben, um den Handwerker vor den Klauen zu warnen, als sie unterbrochen wurde.
Eine Hand legte sich auf ihre linke Schulter und eine weitere auf Jonas rechten. »Nach eintausendeinhundert und einem Jahr versucht er es nun abermals.«
Mira zuckte zusammen und sprang erschrocken rückwärts, doch der Mann hinter ihnen war schneller. Seine noch eben auf Jonas Schulter ruhende Hand schnellte vor und ergriff sie am Kragen.
Die Trauerweide gab ein grollendes Stöhnen von sich. Ihre Ruten peitschten wild durcheinander. »Du Närrin. Was die Unwissenden nicht sehen oder berühren kann, interessiert sich hingegen ganz besonders für euch«, schnauzte er, ohne seine Stimme zu erheben.
»Wer ...«, begann Jona, der sich mutig zwischen seine Freundin und dem Neuankömmling schob.
»Ist das Mut oder Torheit? Von beidem wirst du brauchen, mein Junge. Unwissend habt ihr etwas beschleunigt, dass noch hätte ruhen müssen.«
»Ihr«, stellte Kathrin fest. »Ich habe sie nahe des Schulhofes gesehen.«
Der Mann nickte, doch seine Lippen blieben geschlossen. Seine Körperhaltung, ja seine Geste rundheraus schien der Erkenntnis unberührt.
»Dieses gesamte Gelände hier hätte niemals bebaut werden dürfen. Sie hätten lieber hören sollen«, lamentierte er mit gehobenem Blick. Seine Augen ruhten auf der windigen Weide. »Diesen Kampf fochten wir vor Generationen schon einmal«, drohte er dem Baum. »Erinnere dich, was dir wiederfuhr.«
»Wer oder was glauben sie zu sein«, forderte Mira zu erfahren und zuckte abermals zurück. Sie bemühte sich derweil außerhalb der Reichweite, dieses schemenhaften Astwerkes zu bleiben. Der Mann vor ihnen machte keinerlei Anstalten ihnen weiteren Raum zu gewähren, wohl wissend, dass die Schatten länger wurden.
»Ihr drei«, begann er und sah einem jeden ins Gesicht. Er schien nach etwas zu suchen, war jedoch nicht sonderlich begeistert. »Es ist für euch noch viel zu Früh. Müsstet reichhaltig lernen, dass euch jetzt noch fremd erscheint. Hättet getrennt werden sollen, um künftig wieder hier herzufinden. An diesem Ort, wo es begann, sein Ende fand und erneut hervorbricht. Wozu einst einer ausreichte, mussten vor eintausendeinhundert und einem Jahr Drei antreten.« Er schenkte ihnen nun doch ein gewisses lächeln und beugte sich hinab. »Wer von euch Dreien sieht, wer hört und wer spürt?«
Der Mann, zweifelsfrei indianischer Herkunft wartete geduldig, als sie die Freunde in Erwartung Blicke zuwarfen. Mira warf fortwährend Seitenblicke hinüber zu diesem Baum, der ihre gänzliche Aufmerksamkeit beanspruchte. In ihren Augen schimmerte immer noch dieses gewisse Etwas, das sie weiterhin für sich behielt.
Jona hingegen sah oftmals verlegen zu seinem Verband, auf welchem sich erst kürzlich ein winzig roter Punkt abzeichnete. Das Jucken wurde ihm mittlerweile unangenehm und würde sich nicht mehr lange zurückhalten können. Kathrin. Ja, was war mit ihr? Sie war es bisweilen gewesen, die immer wieder aus ihrem Fenster stieren und diesen Baum ansehen musste. Jetzt hingegen war dieser seltsame Auftritt dieses nicht minder merkwürdigen Mannes deutlich ereignisreicher. Sie ergriff, was Jona hätte als männlicher Part zustehen sollen, doch dieser schien offensichtlich anderweitig beschäftigt. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er gegen irgendetwas ankämpfte und sich konzentrierte. Vermutlich würde es nun nicht mehr lange dauern, bis Jona wie gestern in der Schule einen Anfall bekam. »Wer oder was glauben sie zu sein? Ich meine, dass hier ist mein Zuhause und sie stehen in unserem Garten.«
Anstatt gleich zu antworten, schnaubte der Mann belustigt und spie seitlich aus. Soviel also zu Eigentumsverhältnissen. »So? Euer Grundstück, euer Garten? Meine Liebe, meine kleine Unwissende, mutig dreinschauende Kämpferin. Dieses Land ...« Sein Kopf wanderte von links nach rechts. »... und dessen Grenzen ihr nicht einmal erahnen könnt, ist älter als eure ach so tolle Zeitrechnung zurückreicht. Auf diesem flecken Erde trugen sich Ereignisse zu, derer Erkenntnisse nicht einmal ansatzweise in Bücher Platz fanden, die ihr für Wissenswert haltet. Die Christen, welcher Glaubensrichtung auch immer, waren, sind und werden es vermutlich künftig ebenso bleiben wie alle anderen - verbohrt und blind. Es waren eben diese Leute, die jemanden anbeteten und unerklärlicherweise weiterhin anbeten, der gespinnsten entspringt. Sie schufen sich ihre eigene anbetbare Götzengestalt. Einen den sie nach ihren Empfindungen lenken und formen konnten. Sie lehnten alles andere ab und verurteilten jene, die den alten Gottheiten huldigten. Mehr noch. Sie zerstörten nahezu alles, was euch hätte warnen, lernen und einlenken lassen können. Was uns blieb, ist das Wissen weniger, was eines Tages auf euren Schultern müsste ruhen.«
»Ich verstehe nicht, was sie von uns wollen oder wir damit zu tun haben sollten«, gestand Kathrin ohne Rückendeckung ihrer Freunde.
»Mädchen. Du bist ganz unvoreingenommen jene, die spürt. Lass deine Gefühle zu dir sprechen und ergründe die Wahrheit. Denke nicht über meine Worte nach, spüre sie«, drängte der Mann seine junge Gegenüber. »Der junge Mann hier scheint jener zu sein, der sieht.« Sein Blick huscht hinab zu seinem sichtlich rot verfärbten Verband. »Was sie anbelangt ...« sein Augenmerk ruhte auf Mira. »... Sie muss demnach die sein, die hört, wenngleich sie auch zu sehen vermag. Gewissermaßen, vermute ich.«
»Was sieht sie denn?«
Er sah zurück zu Kathrin. Hob seine linke Braue und betrachtete den Baum. »Eine alte Erinnerung, die sie schwer belastet.«