»Noe! Die Nakamuras wollen mit dir reden«, brüllte seine Mutter, als er gerade aus der Dusche kam. Er hatte noch duschen wollen, bevor Kyo kam. Er hatte ihm vorher geschrieben, dass er in wenigen Minuten da sein würde. Er fragte sich, wieso dessen Eltern jetzt anriefen, aber er dachte nicht weiter darüber nach. In einer Trainerhose, den Oxford-Pullover erst halb über dem Kopf rannte er die Treppe runter und nahm das Telefon in die Hand.
»Hi. Hier ist Noe.«
»Guten Abend, Noe«, erwiderte Hina, Kyos Mutter.
»Ist etwas passiert?« Ihre Stimme hatte einen merkwürdigen Unterton, den er nicht recht einordnen konnte.
Es war sehr lange still am anderen Ende der Leitung, bis endlich eine Antwort kam. »Ja, Noe, Ja. Es ist etwas passiert.« Er konnte hören wie Hina schluckte. »Kyo hatte einen Unfall.«
Bei diesen Worten rutschte sein Herz in seine Hose.
»Geht’s ihm gut? Was ist passiert?«, ratterte der Jugendliche runter.
»Es war ein Unfall«, wiederholte sie. Mit zitternden Fingern hielt er das Telefon in den Händen.
»Geht. Es. Ihm. Gut?«
»Er hat nicht überlebt. Kyo...Kyo ist tot.«
Und da hörte sein Herz auf zu schlagen.
Der Telefonapparat rutschte ihm aus der Hand, knallte auf den Boden. Völlig erstarrt stand er da, unfähig sich zu regen, zu sprechen, zu denken.
Kyo ist tot.
Immer wieder nur dieser Satz.
Das konnte nicht sein.
Er konnte nicht tot sein.
Energisch den Kopf schüttelnd, ansonsten völlig erstarrt, stand er im Wohnzimmer. Er konnte sich selbst in der Spiegelung der Fensterscheibe erkennen, leichenblass.
»Noe? Was wollte Hina?«, fragte Mum ihn als sie aus dem Keller kam, einen Korb voller frisch gewaschener Wäsche.
Ohne eine Antwort zu geben, starrte er weiter sein Spiegelbild an ohne es wirklich wahrzunehmen.
»Noe? Alles in Ordnung?« Mit langsamen Schritten näherte sie sich ihm. Sanft berührte sie ihn am Arm, wobei sie den Wäschekorb neben sich auf den Holzboden stellte.
»Er ist tot«, flüsterte er. »Aber er kann nicht tot sein. Kyo kann nicht tot sein.« Noe hörte seine eigene Stimme als käme sie von weit entfernt, als hätte er Ohrstöpsel in den Ohren.
Der geschockte Gesichtsausdruck seiner Mutter spiegelte sich im Fenster, ebenso wie sein ausdrucksloser.
Ihr Blick schweifte zu dem Telefon auf dem Boden, woraufhin sie es hochhob und sich ans Ohr hielt. »Hina? Bist du noch dran?«
Er konnte die Antwort nicht hören, aber da Mum weitersprach, war sie wohl noch dran. »Was ist passiert?«
Ein erstickter Aufschrei rutschte Lisa Reed raus. »Einfach überfahren, auf der Forge Lane.«, murmelte sie leise. »Es tut mir leid. Wirklich, so unglaublich leid, Hina.«
Danach war das Gespräch wohl beendet, denn seine Mutter legte das Telefon zur Seite und trat näher an ihn heran.
»Noe? Noe, schau mich an«, bat sie leise. Mechanisch drehte er den Kopf und schaute in ihre blauen Augen, die seinen so ähnlich waren.
»Alles wird gut.« Sie zog ihn in ihre Arme, umschloss ihn wie ein Kokon eine Raupe.
Und in diesem Moment legte sich ein Schalter um.
»Er ist tot, Mum. Tot!«, schluchzte Noe.
Alles brach über ihm zusammen.
Seine Welt zersplitterte in tausend Scherben. Während er zitternd dastand, wurde es in ihm drin wieder ganz still.
Als wäre das Ventil kurz geöffnet worden, die Gefühle aus ihm herausgebrochen, doch jetzt war es wieder zugedreht worden und die Emotionen in ihm gefangen.
Mit ungelenken Bewegungen löste er sich von ihr und ging in den Eingangsbereich, wo er sich die Schuhe anzog, in eine Jacke schlüpfte und mit einer Mütze in der Hand verliess er das Haus.
Als er sich die Kopfhörer in die Ohren stöpselte, tat er das aus genau einem Grund.
Er wollte etwas hören.
Etwas fühlen.
Er hatte das Gefühl die Fir Tree Grove entlang zu schweben, statt zu gehen. Am Ende der Strasse bog er in die Hurstwood Road ein. Der Regen prasselte auf ihn nieder, doch er spürte ihn kaum.
Dann kam die Abzweigung nach rechts in die Forge Lane. Mit betäubten Schritten lief er die Strasse entlang, die Hände zitterten leicht.
Als es etwas nach oben ging, dort wo die Brücke war und das Ortsschild von Bredhurst, das fast verborgen in den Sträuchern lag, war es.
Da war ein verdammter Hinweis, dass man nur noch mit 20 Kilometern pro Stunde fahren durfte!
Benommen torkelte er die Strasse weiter nach vorne. Um den Tatort waren Absperrbande aufgestellt worden, die im Wind flatterten. Die Polizei und der Täter und Kyo waren nicht mehr da.
Aber da war noch was.
Glänzend, total verbogen lag es im Regen.
Zitternd ging er auf das kaputte Fahrrad von Kyo zu. Da waren rote Flecken auf dem eigentlichen grauen Lack. Der Lenker schaute in die völlig falsche Richtung und die Speichen waren vollkommen zerdrückt und teilweise gerissen.
Kyo war auf dem Weg zu ihm gewesen.
Doch dann hatte irgend so ein Vollidiot ihn überfahren.
Die Regentropfen prasselten immer stärker auf ihn nieder, aber er nahm es kaum war. Zusammengekrümmt sass er auf dem Boden, hielt das verbogene Fahrrad von seinem Freund in den Händen.
»Heavy« von Birdtalker drang aus den Kopfhörern laut in seine Ohren. Der Text, die Musik rasten durch seinen Körper, direkt hinein in sein Herz.
Und irgendwas löste die Gefühle wieder aus.
Auf einmal war das Ventil wieder geöffnet. Nein, es war entfernt worden.
Die Emotionen brachen noch schlimmer aus ihm heraus als zuvor.
In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass es die Wirklichkeit war.
Dass der Satz »Kyo ist tot« von nun an eine Tatsache war.
Unveränderbar.
Die Tränen vermischten sich mit den Regentropfen, während er zitternd am Boden sass.
Es war einfach zu viel.
Dieses Gefühl der Trauer.
Dieser Schmerz, der sich tief in seine Knochen bohrte und sein Herz wie Papier in Stücke riss.
Die tausende Erinnerungen, die er zusammen mit Kyo erlebt hatte, spielten sich im Schnelldurchlauf in seinem Kopf ab.
»Wieso? Wieso er?«, brüllte er in den Regen hinaus. Er schrie und brüllte solange, bis seine Stimme heiser war und sein Kopf weh tat, vor lauter Weinen und Schreien.
Da wurde ihm bewusst, dass da keine neuen Erinnerungen dazu kommen würden.
Es war das Ende.