Als Noe diesen Sonntag aufstand, hatte er das Gefühl den Kater seines Lebens zu haben. Sein Kopf pochte, ihm war schlecht und er fühlte sich todmüde.
Seine Familie sass bereits am Tisch und frühstückte als er hinunterkam. »Wie geht's dir, Einstein?«, fragte sein Vater ihn und spielte damit auf seine Frisur an. Ihm standen alle Locken vom Kopf ab.
»Frag nicht«, brummte er und schenkte sich Kaffee ein. Seine Geschwister schauten ihn mit einem merkwürdigen Blick an. Es war eine Mischung aus Belustigung und Mitleid.
»Du hast Post bekommen«, bemerkte seine Mutter.
Die Stirn runzelnd sah er sie an. »Von wem?«
Sie zuckte die Schultern. »Es ist kein Absender angegeben.« Evelyn reichte ihm den Brief. Schlichter, weisser Umschlag. Vorne drauf, mit schwarzen Farbe sein Name und die Zustellungsadresse.
Er öffnete ihn, skeptisch aber neugierig. Es war nur ein kleiner A5-Zettel darin. »Du bist der Einzige, der meinen Nickname versteht«, stand in kleinen, engen Buchstaben auf dem Papier. Die Nachricht versetzte Noe einen Stich.
Die erste Message, die er James geschrieben hatte. Dessen Nickname lautete "SWR041901".
»Der Himmel auf Erden«, schrieb er, als er den Mut dazu aufgebracht hatte. James war ihm im Forum immer wieder aufgefallen, alle nannten ihn "Now". Zuerst hatte er gedacht, dass es für das englische Wort "Jetzt" stand, dabei handelte es sich um die letzten drei Buchstaben von Rachmaninows Namen. Zum Schulbeginn, am Sonntag Abend hatte er beschlossen ihn endlich anzuschreiben. Er hatte das Rätsel um James' Namen gelöst und schrieb ihm das.
Als Noe jetzt diese Nachricht von James las, erinnerte er sich daran. Er wusste nicht wieso der Andere ihm heute diese Notiz geschrieben hatte, aber es ärgerte ihn. Er zerknüllte den Zettel, stand auf und warf ihn in den Abfalleimer.
Seine Familie fragte nicht nach, ihnen war klar von wem der Brief stammte. Leia und Kevin begannen über Weihnachten zu sprechen und lenkten ihn ab.
Aber die Notiz wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf. Als James damals geschrieben hatte, hatte er gespannt, neugierig auf dessen Antwort gewartet. Dieser hatte zurückgeschrieben, dass es wahr sei.
Und ganz von selbst hatte sich eine Unterhaltung entwickelt. Sie schrieben über die Musik, ihre Vorbilder und ihren Geschmack. Es war ein wundervolles Gefühl gewesen. Noe hatte sich seit langem wieder glücklich und losgelöst gefühlt.
Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen loszuwerden. James war ein Arschloch. Ein Arschloch mit einem guten Musikgeschmack.
»Ich gehe heute zu Nuriel«, verkündete er seinen Eltern. Die beiden schauten sich an, sie zögerten einen Moment, nickten dann aber.
»Er hat mir einen Brief geschickt«, sagte er zu Nuriel als sie zusammen auf dem Sofa sassen und zusammen eine Folge »Big Bang Theory« schauten.
»Gott?«, fragte sie trocken.
Er lachte und war froh, dass sie diesen Kommentar gemacht hatte, denn es war gefühlt seit Tagen, dass erste Mal, dass er wieder lachte.
»Nein, James«, erwiderte er ernst.
Sofort setzte sie sich aufrechter hin, schaute ihn musternd an. »Was hat er geschrieben?«
Sheldon stritt gerade mit Leonard, doch Noe ignorierte die beiden.
»Er hat geschrieben, dass ich der Einzige bin, der seinen Nickname auf der Plattform, auf der wir uns kennengelernt haben, verstehe. Er hat auf die erste Nachricht angespielt, die ich ihm je geschrieben habe. Wie unsere Geschichte angefangen hat.« Noe fuhr sich seufzend durch die Haare.
Nuriel kaute auf ihrer Lippe rum, sagte aber nichts. Das tat sie nur, wenn sie etwas sagen wollte, sich aber nicht traute. Und das kam bei ihr wirklich selten vor.
»Spuck's aus«, forderte er seine beste Freundin auf.
»Du willst es aber nicht hören wollen«, erwiderte sie mit ernstem Blick.
Er zuckte die Achseln.
Sie seufzte. »Auch wenn du das nicht hören willst und ich will auch nicht sagen, dass du nicht mehr sauer sein sollst. Du hast jedes Recht sauer auf ihn zu sein, weil er wirklich ein totales Arschloch ist, aber dieser Brief, diese Nachricht ist süss.«
»Ich weiss. Sie ist süss, weil er süss ist, aber das ändert nichts daran, was er getan hat. Ich weiss, dass wir nicht zusammen waren, aber es fühlt sich an als hätte er mich betrogen«, antwortete er.
Nuriel nickte. »Ich will nur nicht, dass du dich jetzt für immer verschliesst, Noe. Ich habe Angst, dass..« Sie schluckte. »Dass Kyo und James dafür gesorgt haben, dass du dich in dich zurückziehst, du nie wieder eine Beziehung führen wirst. Und das will ich nicht. Denn du hast jedes Glück der Welt verdient. Und ich bin verdammt nochmal überzeugt davon, dass du es auch finden wirst!«
Er lächelte matt. »Danke.«
Mit einem letzten sanften Blick aus ihren smaragdgrünen Augen sah sie ihn an, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm richtete. Sie kuschelte sich an ihn und er legte ihr den Arm um die Schultern.
»Du bist toll«, flüsterte er lächelnd.
Sie grinste. »Ich weiss. Du auch.«
»Wie geht's Kyle?«, fragte er sie.
»Ihm scheint's gut zu gehen in der Klinik. Ich habe ihn besucht. Es scheint besser zu funktionieren, als die letzten vier Mal«, antwortete sie. Ihre Stimme klang hoffnungsvoll, aber dennoch gewappnet für einen weiteren Fehlschlag.
»Das ist doch gut.« Noe strich ihr über die dichten Locken.
Sie nickte. »Ich hoffe so sehr, dass es dieses Mal klappt.«
»Das wird es, Nuriel. Ich weiss es«, erwiderte er überzeugt von seinen Worten. Denn er glaubte mittlerweile war Kyle der Ernst des Ganzen bewusst. Erstens würden seine Eltern ihn nicht weiter finanzieren, wenn er nicht aufhörte Drogen zu nehmen und zweitens würde Nuriel ihn verlassen, wenn er sich nicht verbesserte.
Während sie weiter Big Bang Theory schauten, schwirrten Noe weiterhin die Worte von James im Kopf umher. Es war eine unglaublich süsse Aktion, aber trotzdem hatte der Andere sich absolut scheisse benommen. Zuerst hatte er ihn sitzengelassen und dann hatte er mit einem Anderen rumgemacht.
Er fühlte sich betrogen.
Und das war eines der beschissensten Gefühle, die es gab.
Er hatte James gemocht, tat es immer noch. Er hatte sich ihm geöffnet, endlich wieder jemanden in sein Herz gelassen, sich Hoffnungen gemacht und James hatte einfach seinen Exfreund oder was auch immer über ihn gestellt.
Vielleicht war es besser so, dachte Noe sich. Denn offensichtlich hatte James ihm mehr bedeutet als er ihm.
Und diese Erkenntnis tat verdammt weh.