Helft mir!:
Mit stechenden Rippenbögen rannte Kassie den langen Flur entlang. Mortimer war fünf Schritte vor ihr und sein Vorsprung drohte, dramatisch zu wachsen, denn Kassies Beine wurden immer schwerer und schwächer. Widerstrebend musste sie sich eingestehen, dass sie nicht in Form war – wenn sie überhaupt mal in Form gewesen war. Sollte sie die Tour dieses Mal überleben, so würde sie trainieren müssen.
„Mo – warte“, keuchte sie.
Erstaunt hielt Mortimer inne und ließ sie aufholen. Kassie rang dankbar nach Atem.
In diesem Moment hörten sie eine dünne Stimme, die aus dem Gang vor ihnen kam: „Kassie? Mo?“
„Blaze!“, brüllte Mo und preschte direkt wieder los. Kassie stöhnte und sammelte ihre letzten Kraftreserven, dann folgte sie Mo, so gut es ging.
Sie erreichten eine Galerie, die in eine große Halle führte. Zwei Treppen führten zu den Seiten nach unten, das Geländer direkt gegenüber von der Öffnung des Flurs war zerbrochen. Ebenso die große Fensterfront, die die Rückwand der Halle eingenommen hatte. Glasscherben glitzerten auf dem Boden, der Mond leuchtete zwischen großen Tannen in das Gebäude hinein und beschien eine Barrikade aus weißen Bettgestellen, die zum Glück zwischen den Treppen war und die Freunde nun nicht störte.
Blaze saß in seinem Enthinderer ganz allein zwischen den unzähligen Scherben.
„Blaze!“, wiederholte Mo.
„Gottseidank, ihr seid es!“, Blaze' Stimme klang zittrig. Kassie hörte die Alptraumhunde knurren.
„Helft mir!“, rief Blaze.
Mo jedoch zögerte und auch Kassie verspürte einen Schauer, der ihr über den Rücken kroch. Das fühlte sich falsch an, Blaze' klägliche Stimme klang viel zu sehr nach den Geistern, denen sie im Vergnügungspark begegnet waren. War dies ein Geist von Blaze und der Junge selbst schon tot? Keiner von beiden rührte sich, währen die schwarzen Hunde die Gestalt im Rollstuhl einkreisten.
„Hilfe!“
„Verdammt!“, zischte Kassie und zückte ihre Waffen. Dann eilte sie die Treppe herunter. Geist oder kein Geist, sie konnte das Betteln nicht ignorieren. Doch als sie auf die Wölfe schoss, offenbarte sich das nächste Problem: Die schwarzen Hunde waren wie Schatten, die Kugeln flogen wirkungslos durch sie hindurch. Unbeirrt rückten die Wölfe zu Blaze vor.
„Verpisst euch! Lasst unseren Freund in Ruhe!“, brüllte Mo. Er war Kassie nach unten gefolgt und wedelte mit einem zerbrochen Pfosten aus dem Geländer herum. Die Wölfe schenkten ihnen erstmals Beachtung und hielten inne.
Kassie und Mo sprangen in den Ring der sieben Schattenwesen hinein und stellten sich zu Blaze.
„Ich hab Angst!“, jammerte der Junge leise.
„Keine Angst“, sagte Kassie, während sie fieberhaft überlegte, wie sie den unbesiegbaren Hunden beikommen sollte. „Wir sind bei dir.“
Plötzlich richteten die Hunde sich auf, ihr gesträubtes Fell glättete sich. Im nächsten Moment lagen alle sieben hechelnd auf dem Boden und ließen den Blick unbeteiligt durch den Raum wandern.
„Was zur Hölle?!“, fragte Mo.
Blaze seufzte erleichtert. „Jetzt habe ich keine Angst mehr. Sie greifen nur an, wenn ich mich fürchte.“
„Verdammte Schizo-Hunde!“, knurrte Mo frustriert. „Wie werden wir sie los?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Blaze leise. „Lasst mich nicht wieder allein. Ich habe das Gefühl, dass es jedes Mal schwieriger wird, die Angst zu bekämpfen.“
„Wir finden einen Weg“, sagte Kassie mit falscher Zuversicht.
Die Hunde schienen jedes Interesse an ihnen verloren zu haben, also wand die Gruppe sich dem Park hinter dem Fenster an. Sie konnten den Rest des Gebäudes hinter den Bäumen sehen, doch zwischen ihrer Position und den nächsten dunklen Scheiben wartete nur undurchdringliche Finsternis.
„Gehen wir durch den Hof oder wollen wir außen herum gehen?“, fragte Kassie und spähte zu den beiden Gängen, die nach hinten von der Halle abgingen und auf beiden Seiten durch die Flanken des Gebäudes führten, also im Bogen um den Innenhof herum.
„Also, ich bin für ein bisschen frische Luft, ehrlich gesagt“, meinte Mo.
„Ich auch“, gab Blaze zu. „Obwohl etwas mehr Licht auch erwünscht wäre.“
„Gut, lasst uns gehen“, schlug Kassie vor. „Ich weiß nicht, wie groß dieses Irrenhaus ist, aber ich möchte hier raus.“
Ihre andere Sorge, dass Ifrit und Asmodai sie hier lassen könnten, wenn sie nicht rechtzeitig bei Morgengrauen am Ausgang waren, verschwieg sie ihren Begleitern. Es war vielleicht besser, Blaze keine weitere Angst zu machen, solange die Wölfe in ihrer Nähe lauerten. Als die drei aufbrachen, standen die sieben Hunde auf und trotteten ihnen nach, streiften schnüffelnd durch die Umgebung oder lauschten wachsam auf ferne Geräusche.
„Sie beschützten uns“, sagte Blaze mit ein wenig träumerischer Stimme, als er Kassies misstrauischen Blick zu den Wölfen bemerkte. „Solange ich mich nicht fürchte, bekämpfen sie alles, was mir Schaden zufügen will. Sie sind aus Angst gemacht und können deshalb nicht sterben, also gewinnen sie immer. Aber wenn man beginnt, sich zu fürchten … es ist ein zweischneidiges Schwert.“
„So, wie sie im Moment sind, finde ich sie sehr nützlich“, gestand Mo mit einem schiefen Grinsen. „Sie töten alles, was sich uns in den Weg stellt? Super, die Tour wird ein Spaziergang!“
„Es ist nicht so einfach“, murmelte Blaze leise, gänzlich unempfänglich für Mos Versuch, ihn aufzuheitern.
Sie folgten einem sandigen Trampelpfad bis zu einer großen Tür am Ende des Innenhofs. Gerade, als sie die Tür erreichten, verspürte Kassie plötzlich einen Druck in den Schläfen. Ihr erster Gedanke war, wann sie zuletzt etwas getrunken hatte, denn sie kannte das Gefühl davon, wenn sie dehydrierte. Doch es war etwas anderes; außerdem hatte Sam ihnen erklärt, dass sie während der Tour eigentlich keine Nahrung brauchen würden – Kassie hatte die Erklärung damals nicht verstanden.
Ihre Augen begannen zu jucken. Sie seufzte und ertappte sich bei dem Gedanken, dass in dem Park doch eine Bank stehen müsste, auf der man sich ausruhen könnte.
Sie hielt an, genauso Blaze und Mo. Blaze legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. „Ich bin für eine Pause.“
„Ich auch …“, murmelte Kassie, doch das Gefühl, das etwas nicht stimmte, ließ sich nicht abschütteln. Wie eine Mücke surrte der Gedanke durch ihren Kopf, dass sie wach bleiben musste. Sie konnte doch jetzt nicht schlafen!
„Mo, Blaze!“, drängte sie – doch ihre Stimme war bereits schläfrig. „Das ist irgendein Zauber. Bleibt wach.“
Sie wusste nicht, ob ihre Freunde sie noch hören konnten.