Geschwisterliebe:
Ifrits Schrei, zuerst ein jämmerliches Heulen, nun ein bedrohliches Knurren, ließ Mo unwillkürlich frösteln. Uralte Instinkte kamen an die Oberfläche und der Drang, wegzulaufen, wurde übermächtig.
Ifrit ließ sich nach vorne auf alle Viere fallen und wuchs im selben Moment an, bis sie ein riesiger, roter Tiger war, mit mindestens drei Metern Schulterhöhe, eine Gestalt, die Mo noch aus dem alptraumhaften Finale der zweiten Tour kannte.
Er machte einen Schritt nach hinten und spürte einen Widerstand an der Ferse, dann hörte er das Klappern einer Blechdose, die davon rollte.
Der große Tiger wirbelte mit blitzenden, gelben Augen herum und stieß die Limousine dabei wie ein Spielzeug mit einer Tatze beiseite. Die senkrechten Pupillen wurden schmaler, als er Mo fixierte. Mortimer blieb das Herz stehen, im nächsten Moment machte Ifrit auch schon einen gewaltigen Satz auf ihn und Kassie zu.
Er brachte es fertig, seine Freundin aus der Bahn des angreifendes Tigers zu stoßen, ehe er sich umdrehte und floh. Er hörte, dass Kassie beim Aufprall auf den Boden einen Schmerzlaut ausstieß, doch er hörte auch, dass Ifrit die Gefallene nicht weiter beachtete und ihm folgte.
Vor ihm lag nur eine offene Straße, auf der die vier Pferde standen. Zu seinem Erstaunen sah Mo, wie das zweitgrößte der Tiere, der dunkelbraune, schlanke Luzifer mit Piek und Xeri auf dem Rücken, auf ihn zu galoppierte.
Er spürte den heißen Atem des Tigers schon im Nacken, als Piek Mauskat, die Auffällige der Schwestern, neben ihm auf den Boden sprang.
Mo lief an ihr vorbei, dann hörte er einen Schrei und spürte warme Flüssigkeit im Nacken. Er drehte den Kopf, stolperte und fiel auf den warmen Asphalt, der stellenweise noch kochte.
Der Tiger hielt Piek Mauskat im Maul und schüttelte die bereits leblose junge Frau, die in den mächtigen Fängen wie eine Puppe wirkte. Ihre Glieder schlackerten kraftlos um die Schnauze der Bestie.
Mo starrte die Szene mit aufgerissenen Augen an, bis Ifrit Piek ausspuckte und wieder ihn anstarrte. Um fortzukrabbeln, warf er sich auf die Seite, da spürte er auch schon die großen Zähne, die sich unter seinem Arm in seinen Körper schlugen.
Er verlor den Kontakt zum Boden, als er angehoben wurde. In dem kurzen Moment, bevor die Schmerzen einsetzten, als seine Nervenbahnen noch vom Schock betäubt waren, spürte er das leise Knirschen, mit dem die Fangzähne über seine Rippen schabten. Dann explodierte der Schmerz und Mo wurde schwarz vor Augen. Immer noch spürte er, wie er durchgeschüttelt wurde, dass sein Nacken knackte. Mit den Händen tastete er über die erstaunlich weichen Lefzen der Raubkatze, tastete nach einem Halt, einer Möglichkeit, zu fliehen oder zu kämpfen, irgendwas ...
"Luca!", hörte er Kassie schreien, schrill und panisch. "Luca, nein!"
"Ifrit!", rief eine andere Stimme, die kalte, klare Stimme von Anna van Helsing. Mo spürte einen Ruck, der durch den Tiger verlief, dann waren die Zähne plötzlich fort und er fiel.
Er landete auf dem Boden. Der Aufprall sandte neue Schmerzwellen durch seinen Körper. Als er brüllte, konnte Max die Häuser sehen, die sich über ihn beugten wie Ärzte in der Notaufnahme. Er presste die Hände auf die Seite und fühlte viel Blut, aber keinen festen Widerstand mehr. Ihm wurde übel.
Am Rande seines Gesichtsfelds sah er den Tiger stehen. Ifrit blickte ihn an und knurrte, ihre Schnauze war mit Blut gesprenkelt. Blut lief auch in frischen, schwarzen Strömen über ihre rechte Schulter und Mo erkannte einen Armbrustbolzen, der in dem roten Fell steckte.
Noch während er sich wunderte, schlug mit einem dumpfen Geräusch ein zweiter Bolzen ein. Mo entdeckte Anna van Helsing, die mit ihrer großen Armbrust auf den Tiger zielte.
Brüllend fuhr Ifrit herum und stürmte auf die beiden Reiter auf den Kaltblüter zu. Andy Hill wich mit Pandora zur Seite aus, Kassie, die im Weg stand, warf sich zur anderen Seite.
Ifrit beachtete keinen von beiden, sondern verfolgte Anna, die ihr graues Tier gewendet hatte und zu einem halsbrecherischen Galopp trieb. Trotzdem holte der Tiger auf.
Plötzlich war jemand neben Mo, ein Schatten fiel auf ihn. Er zuckte zusammen und wollte sich in Sicherheit bringen, aber die Schmerzen hielten ihn an Ort und Stelle.
"Ganz ruhig, ich bin's."
Sams Stimme. Mo spürte, wie sich erneut Nebel über ihn senkte, eine Ohnmacht, die ihn mit gnädigem Vergessen erwartete. Er musste sich nur fallen lassen.
Jemand – Sam? – schob die Arme unter ihn. Mo ächzte vor Schmerz. Dann wurde er getragen.
"Luca! Luca!"
"Zur Seite, Kassie. Wir müssen hier weg."
Schwärze hatte sich über Mos Augen gelegt. Die Stimmen schienen weit entfernt.
Sein Körper wurde bewegt, stieß gegen Widerstände. Mo hatte jeden Orientierungssinn verloren, und eigentlich interessierte es ihn auch nicht mehr. Aus irgendeinem Grund sah er die Gesichter seiner Freunde, die ihn zweifelnd ansahen, als er ihnen begeistert von der neuen Attraktion erzählte, die er im Internet entdeckt hatte. Eine gute Gelegenheit, ihr bestandenes Abi zu feiern: Die Hell-Hopping-Tour!
"Mortimer, bleib bei mir. Du musst wach bleiben!"
Aber die Dunkelheit war so viel gnädiger, denn dort gab es keine Schuld und keinen Schmerz.