Die ganze Macht der Wächter:
Elaine Leave hatte Kassie gegenüber nochmals betont, wie wichtig die Aufgabe der Wache war, egal was in ihrem Rücken geschehe, trotzdem konnte Kassie nicht anders, als sich auf dem Pferderücken sitzend den Hals zu verdrehen, um Sam, Elaine und Xeri zu beobachten, die sich um den leblos daliegenden Mo sammelten.
Das Gesicht ihres Freundes war so bleich, wie sie es noch nie gesehen hatte, und sie kannte Mo seit dem Sandkasten, eigentlich schon ihr ganzes Leben lang. Sie hatten sich schon als Kleinkinder angefreundet, früher, als beider Erinnerungen reichten, hatten den gleichen Kindergarten, die gleiche Grundschule und das gleiche Gymnasium besucht. Sogar Ferien hatten sie meist zusammen verbracht, im Grunde war kaum ein Tag vergangen, an dem Kassie und Mo nicht zusammen gewesen waren.
Sie hatten sich natürlich auch gestritten, einmal fast ein ganzes Jahr lang nicht miteinander gesprochen, doch alles in allem war Luca für Amy wie ein Bruder gewesen, und das gleiche war Mortimer für Kassandra.
Jetzt war sein Gesicht fahl und weißlich, mit grauen Lippen und bläulich eingefärbten Lidern. Sam beugte sich über ihn, fühlte seine Stirn und beugte sich dann mit so besorgtem Gesichtsausdruck über Mos Mund, um seinen Atem zu hören, dass Kassie ganz flau im Magen wurde. Sie klammerte sich noch immer an Elizabeth und dachte an all die Freunde, die sie bereits verloren hatte - den kleinen, schüchternen Liam, den tapferen Milo und Eve, die in ihren letzten Tagen einen gänzlich neuen Mut bewiesen hatte. Die fünf Schülerinnen von Sam, ein Tod schrecklicher als der vorherige. Den Autoren Dimitri, den Kassie auf eine gewisse Art gemocht hatte. Karo, die nie jemandem ein Haar gekrümmt hatte. Und schließlich Blaze, der selbst im Enthinderer immer fragil und zu jung für den ganzen Schrecken gewirkt hatte - ganz zu schweigen von den zwölf anderen Teilnehmern der zweiten Hell-Hopping-Tour, die Kassie nicht hatte retten können.
Sie krallte die Finger in Elizabeths schwarzes Jacket. Bitte, nicht noch einen. Nicht noch einen Toten ...
"Er atmet", hörte sie Sam sagen. "Aber er ist schwach."
"Ich hab das schon mal gesehen", murmelte Xeri so leise, dass Kassie sie kaum verstehen konnte. "Sein Leben verlässt seinen Körper – von alleine kann er nicht mehr zurückkommen."
"Worauf wartet ihr dann noch?", fuhr Samstag die beiden Mädchen an. Kassie fragte sich, was die beiden ausrichten sollten. Xeri fuhr zusammen und ihr Gesicht verschwand hinter einem Vorhang brauner Locken, aber Elaine, mit dem strengen, hohen Zopf, aus dem zwei Strähnen über ihre Wangen fielen, zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Sie kniete sich neben Sam. "Lass mich die Wunde sehen. Xeri, halt seine Arme fest. Sam, die Beine."
Mit routinierten Bewegungen schob Elaine Mos zerfetztes, blutiges Hemd über den Rippen zurück.
Kassie fuhr zusammen. Im blutigen Fleisch waren gräuliche Knochen zu erkennen, festes und weniger festes Gewebe, zerrissene Blutbahnen und Nervenstränge, zuckende Muskeln.
"Sieh nicht hin", sagte Elizabeth, doch Kassie konnte den Blick nicht abwenden. Sie presste eine Hand auf den Mund, trotzdem drang ein ersticktes "Mo ..." nach draußen.
Elaine legte beide Hände auf die Wunde und schloss die Augen. Im nächsten Moment glühten ihre Handflächen und dann stieg Rauch von Mo auf. Wie im Traum zuckte der Junge und stöhnte, aber Xeri und Sam mussten nicht viel Kraft aufwenden, um ihn an Ort und Stelle zu halten. Ein süßlicher Geruch wehte durch die Straße, als würde jemand in der Nähe grillen. Kassie würgte.
Dann zog Elaine die Hände zurück. Eine grässliche Delle war geblieben, eine nach Innen gewölbte Kruste in Mos Seite, teilweise noch glänzend vor Feuchtigkeit, teilweise schwarz verbrannt.
"Xeri", sagte Elaine scharf. Die Braunhaarige hatte den Blick abgewendet und sah fast so blass wie Mortimer aus, als sie die Wunde besah. Dann zog sie ihren kurzen Stock heraus – ein Zauberstab, wie Kassie inzwischen vermutete – und fuhr mit der Spitze sanft über Mos Wunde.
Vor Kassies erstaunten Augen begannen Nerven und Muskelenden, sich wie Würmer zu ringeln, dann krochen die Enden aufeinander zu und flossen vielfach ineinander, als sich zerrissene Teile wieder zusammenfügten und fehlende Stücke sich neu bildeten, alles innerhalb von wenigen, unglaublichen Sekunden.
Mo stöhnte und tat dann einen lauten Seufzer. Xeri zog den Stab zurück. Ein wenig Fleisch war über die alte Wunde gewachsen, eine dünne Schicht, durch die noch immer die Rippen schimmerten.
"Warum hörst du auf?", fragte Sam wütend.
"Ich ... ich kann nicht mehr", stammelte Xeri. "Meine Kraft ist ... "
"Sie hat das Nötigste geschafft", sagte Elaine, als Xeris Stimme zu einem Flüstern verklang. "Haltet ihn fest."
Wieder legte sie die Hände auf, wieder stieg Rauch auf und wehte Bratenduft durch die Luft. Kassie war sich sicher, nie wieder Fleisch essen zu können, nicht nach diesem Anblick.
Schwärze breitete sich unter Elaines Händen aus. Mo schrie und schlug um sich. Sam warf sich mit dem ganzen Gewicht auf Mos Beine, Xeri kniete sich auf seine Arme. Es war ein elender Anblick, bis Mo mit einem Stöhnen in sich zusammen fiel und offenbar ohnmächtig wurde.
Elaine zog schließlich die Hände zurück und offenbarte eine dicke, schwarze Kruste, die Mortimers Seite überzog wie ein Panzer. Sie hatte die Blutung gestillt. Sie stand auf, während Sam wieder Mos Puls fühlte.
"Stärker", bekundete Samstag zu Kassies Erleichterung.
"Leute!", rief Elizabeth so plötzlich, das Kassie fast vom Pferderücken gefallen wäre. Sie sah nach vorne, wo sich die Trümmer der Häuser auftürmten. Einige Schuttteile waren in Bewegung geraten, eine Lawine, losgetreten von einem großen Wesen, das noch außer Sicht war.
"Unsere Zeit ist um", verkündete Elizabeth und wendete das Pferd.
Xeri beugte sich nochmals über Mo, ihr Zauberstab strich über seine Schläfe. Kurz darauf flatterten seine Lider und er öffnete die Augen.
"Wo ... bin ich?"
Kassie rutschte vom Pferderücken und eilte zu ihm: "Mo!"
Er wollte sich aufsetzen, doch Sam hielt ihn mit einer Hand an der Schulter sanft auf. "Xeri hat deine Schmerzen betäubt, doch ich an deiner Stelle würde plötzliche Bewegungen vermeiden. Wenn es geht – Ifrit ist immer noch hinter uns her."
Sam strich Mos Hemd nach oben und zeigte dem Jungen seine schreckliche, verbrannte Wunde.
Mo schluckte. Kassie sah, wie seine Finger zitterten.
"Es ist alles gut, du hast überlebt", sagte Sam und half Mo langsam auf die Füße. Er sprach beruhigend und Kassie spürte, wie ihr eigener Herzschlag sich verlangsamte. Sie trat zu Mo und umarmte ihn, darauf achtend, ihn nicht zu fest zu drücken.
"Es wird weiter verheilen, aber eine hässliche Narbe wird bleiben", klärte Elizabeth Mo auf. "Vielleicht könnte Xeri mehr tun, doch zuerst müssen wir hier fort. Da gräbt sich gerade ein sehr wütender Riesentiger aus einem Haufen Schutt."
"Was habt ihr getan?", fragte Mo, dem nun die Zerstörung hinter ihnen auffiel. "Kann man euch keine zwei Sekunden aus den Augen lassen?"
"Nein", Kassie grinste erleichtert. "Du solltest besser nicht noch einmal ohnmächtig werden!"
"Los jetzt, auf die Pferde", drängte Xeri nervös. Aus der Nähe bemerkte Kassie Tränenspuren auf den Wangen des Mädchens und erinnerte sich, dass sowohl Piek als auch Andy, Xeris Teamkollegen, von Ifrit getötet worden waren. Wieso die Hexe daran nicht zerbrach, war ihr ein Rätsel, doch vermutlich schob sie ihre Trauer auf Später, wie alle Wächter.
"Ich habe einen anderen Plan", sagte Elaine, als sie gerade zu den Pferden zurückkehren wollten. Alle sahen sie fragend an.