Rennen gegen die Zeit:
Zielstrebig hielten die Wächter, Mo und Kassie auf das ferne Tor zu, das ihren Ausgang aus dieser schrecklichen Dystopie darstellte. Die ausfahrbare Brücke von Andy erwies sich dabei als ihr wertvollster Besitz: Das Brett musste nur an den Rand eines Abgrunds gelegt werden, entfaltete sich dann selbst auf die nötige Länge und zog sich wieder zusammen, wenn alle sicher auf der gegenüberliegenden Seite angekommen waren. Dann konnte Sam es aufheben und zum anderen Ende des Dachs tragen.
Auf diese Weise hatten sie bereits unzählige Hochhäuser überquert, wobei ihr Weg leicht nach unten ging. Die wenigsten Häuser waren gleich groß, und Sams Suche nach dem geringsten Höhenunterschied führte sie mit erschreckender Präzision weiter nach unten. Mo wartete nur darauf, dass sie auf ebener Erde ankommen würden, was ihn zugleich mit Angst und Hoffnung erfüllte. Angst, weil er sich auf dem Boden viel weniger gut geschützt vorkam, und Hoffnung, weil er auf den Straßen endlich den Vorteil des Skateboards richtig ausspielen könnte. Bisher trug er das Brett meist unter dem Arm, wenn sie die Brücke überquerten. Kassie dagegen behielt ihre Rollschuhe angeschnallt – die alten, abgetragenen Stiefel hatte sie von einem Dach geworfen – und arbeitete sich mit wachsendem Mut über die behelfsmäßigen Brücken aus dem Brett und Mos Seilrolle.
Mo könnte das nicht. Wenn er von dem schmalen Brett nach unten sah, drehte sich ihm der Magen um. Er war froh über das Seil, an das er sich klammern konnte, obwohl es ihm viel zu dünn und unsicher erschien. Und er war froh, keine Rollen unter den Füßen zu haben.
Gerade stolperte er erleichtert auf das nächste Dach, als Elaine ein warnendes Zischen ausstieß.
"Was ist?", fragte Elizabeth alarmiert. Die Wächter griffen nach ihren Waffen, Mo und Kassie taten es ihnen gleich.
"Vor uns ist etwas", flüsterte Elaine, die angestrengt lauschte. Sie zog ihre Begleiter in den Schutz eines Lüftungskastens auf dem Dach.
Schließlich hörte auch Mo schlurfende Schritte, die scheinbar von allen Seiten auf sie zu kamen. Er spähte an dem Kasten vorbei und hielt die Luft an.
"Zombies", sagte Elizabeth so ruhig, als würde sie eine medizinische Diagnose stellen.
Tatsächlich waren es Zombies – Menschen in abgerissener, zerfetzter Kleidung und mit gräulich-grüner Haut, schlaffen Gliedern und schlurfenden Schritten, mit ungelenken Bewegungen und klaffenden, nicht blutenden Wunden, schwärenden Löchern in Gesicht und Körper. Sie hielten die Hände – oder Armstumpfen – nach vorne gestreckt und hatten die Münder stöhnend geöffnet. Ihre Augen waren milchig oder ausgebrannt. Doch die Verletzungen schienen sie nicht wahrzunehmen.
Sam zog an Mos Ärmel und dirigierte ihn um den Kasten herum. Die anderen krochen lautlos hinterher, mit angehaltenem Atem und huschenden Bewegungen.
Elizabeth warf einen Blick zurück.
"Sie können uns nicht wittern", teilte sie den anderen mit. "Gehen wir trotzdem besser kein Risiko ein."
Sie huschten zum Dachrand und Sam platzierte leise das Brett. Mo warf seine Seilrolle als Halteseil.
Sie überquerten die schwankende Brücke in einer dicht gedrängten Reihe, ohne ein Wort zu sprechen, nur begleitet von ihrem flachen, keuchenden Atem.
Auf der anderen Seite nahmen Sam und Mo ihre Ausrüstung fast gleichzeitig auf.
"Was machen denn Zombies hier?", keuchte Xeri erleichtert, als die Brücke abgebaut war.
"Sie sind wohl die Gegner dieser Welt", meinte Elizabeth. "Ich bin nur froh, dass sie so harmlos waren."
"Harmlos passt allerdings nicht zu den Nox-Geschwistern", meinte Elaine mit einer tiefen Falte in der Stirn. "Es wird einen Haken an der Sache geben."
"Ich habe den Haken gefunden!", rief Kassie, die zum anderen Rand des Daches vorgefahren war. Sie deutete nach unten.
Die anderen liefen zu ihr und erkannten sofort, was der Haken an der Sache war: Die Straßen waren voll mit stöhenden, humpelnden Zombies, die sich dicht an dicht in allen Seitengassen drängten und deren Masse sogar noch dichter wurde, je näher es zum Krater ging, zum Ausgang.
"In diesen Massen sind sie alles andere als harmlos. Ich weiß nicht, wie wir da durch kommen sollten."
Elizabeth sah Elaine an: "Nicht einmal mit deinem Feuer?"
"Mein Feuer ist so gut wie verbraucht. Wir bräuchten schon einen Flammenwerfer."
"Ich glaube nicht, dass wir einen finden werden", warf Sam ein. Die drei Teamkollegen schienen die Anwesenheit der anderen drei vollkommen vergessen zu haben, als sie sich auf dieses neue Hindernis konzentrierten.
"Sie scheinen sich im Krater zu sammeln", murmelte Elizabeth.
"Vielleicht liegt dort der Ursprung für die Seuche. Es könnten Zombies sein, die durch den Aufprall einer Atombombe entstanden."
"Nein, das nicht. Aber die Bombe hat die Mutation eines Virus' oder so ausgelöst, der die Zombies befallen hat und sie jetzt zum Krater zieht." Elizabeth klang sich sehr sicher. "Und ich weiß auch, wie der Virus sich ausbreitet. Durch die Luft."
"Scheiße, echt?", fragte Sam entsetzt.
"Würde doch passen, oder? Die Gefahr liegt nicht nur in den Untoten, sondern auch darin, selbst befallen zu werden. Wenn wir zu lange hier bleiben, werden auch wir zu Zombies."
Alle hatten sich Stofffetzen über die Gesichter gebunden, an denen sie nun nervös zupften.
"Keine Sorge", schnurrte eine weibliche Stimme in Mos Rücken. "Ihr werdet nicht lange genug leben, um euch zu verwandeln."
Sie wirbelten herum und Mo unterdrückte einen Aufschrei. Neben ihnen auf dem Dach saß der gewaltige Tiger mit flammend roten Augen. Bis gerade war Ifrit noch nicht dort gewesen, er hatte keine Ahnung, wie sie sich so lautlos hatte nähern können.
"Wir hätten Wachen bestimmen sollen!", hörte er Sam hinter sich fluchen.
Xeri stellte sich vor Mo und Kassie und hielt die beiden mit den ausgestreckten Armen hinter ihrem Rücken in Sicherheit. Mo, Elizabeth und Elaine hoben ihre Waffen und der Tiger erhob sich knurrend.
"Zeit für den letzten Tanz", grollte Ifrit und duckte sich zum Sprung.