Die Rauchhalle:
Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, die sie wanderten. Zuerst in dem unterirdischen Labyrinth in völliger Schwärze, dann durch eine Landschaft, die mit den Knochen der Toten übersät war, schließlich durch giftige, grüne Dämpfe.
Auch nachdem sie die Dunkelheit verlassen hatten, ließ Eve Milos Hand nicht los. Er gab ihr Halt und Kraft, genug Mut, um sich dieser furchtbaren, verwirrenden Welt zu stellen.
Oh, sie hatte ihn vermisst. Mit ihm an ihrer Seite war selbst der Graue Raum erträglich gewesen, als ob Milo für sie ein Licht verströmen würde.
„Da vorne ist sie“, sagte Ifrit schließlich.
Die Gruppe hielt an, erschöpft und müde. Sie standen auf dem Kamm eines langgezogenen Hügels, und dort, zur Hälfte vor, zur Hälfte links von ihnen, erhob sich eine große Steinhalle aus dem Boden, deren verziertes Dach von vorgelagerten grauen Alabastersäulen getragen wurde. Hervorspringende Umrahmungen an den Grenzen des Daches ließen die Halle gehörnt erscheinen, ein düsteres, abweisendes Gemäuer ohne Fenster und mit nur einer einzigen, großen Tür. Rauchschwaden stiegen aus winzigen Öffnungen im Dach.
„Die Rauchhalle“, fügte Ifrit überflüssigerweise hinzu und breitete sie Arme aus, als wollte sie ein Luxushotel anpreisen – obwohl das nach ihren Begriffen vielleicht sogar ein Luxushotel war. Eve schüttelte sich.
„Ich habe auch Angst“, flüsterte Milo und legte ihr den kräftigen Arm um die Schultern.
„Ich fürchte mich nicht“, antwortete Eve und richtete sich auf. „Ich habe keine Angst mehr, Lou.“
Sie hatte sich verändert, in der Zeit, die sie ohne Milo unter den Lebenden verbracht hatte. Manchmal vergaß er, dass sie es bis zum letzten Hotel der ersten Tour geschafft hatte, vergaß, wie viel sie gesehen und getan hatte.
Er drückte ihre Hand. „Dann fürchte ich mich auch nicht.“
Sie liebte ihn von ganzem Herzen.
Nach nur einer kurzen Pause machten sie sich, immer noch schnaufend, an den Abstieg. Der Hügel bestand zu großen Teilen aus lockerem Geröll, doch dazwischen tauchten immer wieder Schädel auf, halb verschüttet, zerbrochen, irre grinsend. Das Jenseits war ein abartiges Land, das Evelyn nur zu gerne verlassen würde.
Sie sah zu Amy und Luca, die nun Kassie und Mo hießen. Beide trugen die Namen mit Selbstverständlichkeit, dabei schien es Eve nur wenige Tage (und ein Jahrhundert) her zu sein, dass sie beide zuletzt gesehen hatte, in einer Nacht voller Blut, als sie noch Amy und Luca gewesen waren.
Sie hatten sich ebenfalls verändert. Eve erkannte ihre alten Freunde nur noch manchmal wieder, wenn Amys Ordnungsliebe oder Lucas Lebensfreude durch die neue Fassade aus Mut und Galgenhumor durchblitzte. Die Hell-Hopping-Tour hatte sie alle verändert und Eve ertappte sich bei der Frage, was für Menschen Karo oder Max wohl gewesen waren. Früher.
Schließlich ragte die düstere Halle hoch über ihnen auf.
Sam trat vor und zog an den beiden eisernen Türgriffen. Die Portale öffneten sich nicht.
„Und jetzt?“
„Lass mich mal.“ Ifrit schubste ihn grob beiseite und stemmte sich mit gekrümmten Fingern gegen die Türen. Sie bleckte die Zähne und knurrte das Holz an. „Mach auf, na los!“
Die Türen rührten sich nicht. Feuer züngelte um Ifrits Hände auf, dann spross ihr Fell auf den Armen und sie wurde zu einem gewaltigen, feuerroten Tiger, der mit den Pranken auf die Türen einschlug. „Du! Stehst! Nicht! Zwischen! Mir! Und! Meinem! Bruder!“, brüllte Ifrit und jeder Hieb sandte Holzsplitter in alle Richtungen. Bis auf Max wichen alle vorsichtig ein paar Schritte zurück.
„Raaah!“
Ifrit ließ ein frustriertes Brüllen hören. Eve sah den Grund: Das zerfetzte Holz der Türen bildete sich sofort neu, sodass ihre Hiebe keine Wirkung zeigten. Erschöpft ließ sich der gewaltige Tiger auf den Bauch sinken und legte den Kopf auf die überkreuzten Pfoten. Ein wölfisches Winseln drang aus dem Katzenmaul.
„Na toll, ich habe Mitleid mit einem Monstertiger“, murmelte Liam bedrückt.
„Es muss doch einen Weg hinein geben!“, seufzte Elizabeth.
„Sollte es besser“, sagte die blonde Elaine. „Du hast nämlich geschworen, Asmodai zu retten.“
„Ich weiß, ich weiß!“
„Ich hab dich gewarnt.“
„Auch das weiß ich, Lay.“
„Du wolltest nicht hören.“
„Lass gut sein.“
Elizabeth machte ein paar Schritte, um die Seite der Halle zu begutachten.
Etwas klopfte von Innen an der Tür. Der Tiger spitzte die Ohren. Die anderen wichen noch ein Stück zurück.
Das Klopfen wurde lauter und steigerte sich schnell zu einem Hämmern. Der Tiger sprang auf und huschte rückwärts fort von dem Portal, geduckt und bereit zu Kampf oder Flucht.
Eve spürte, wie Milo ihre Hand fester drückte.
Sie wappnete sich. Was immer durch das Portal kam -
Die Holztür zerbarst in unzählige Splitter und zwei Gestalten rasten durch die Wolke, ehe sich die Türen neu bilden konnten. Hustend fiel die eine Gestalt auf den Boden, während die andere seltsame, metallische Geräusche ausstieß.
Der Rauch lichtete sich und Eve erkannte, dass die Gestalt in Wahrheit ein kleiner Junge in einem großen, rot-schwarzen Rollstuhl war, dessen Mechanik dampfte.
„Blaze!“, riefen Mo und Kassie erfreut und stürmten auf den Jungen zu, um ihn in eine Umarmung zu ziehen.
„Kassie! Mo! Was macht ihr denn hier?“
Die hustende Gestalt stand auf und richtete sich den Kragen. Eve erkannte das Gesicht von Brandon, Ifrits Bruder.
„Asmodai!“, rief Ifrit und ließ auf den Mann zu.
Er breitete erfreut die Arme aus: „Schwesterherz!“
„Halbschwester!“ Es klatschte laut, als Ifrit ihn ohrfeigte. „Und wag es ja nicht wieder, vor meinen Augen zu sterben!“
„Wir wollten dich retten“, antwortete Luca auf die Frage von Blaze. „Allerdings hast du das schon alleine geschafft, wie ich sehe.“
„Naja, der Enthinderer hat mir geholfen.“ Der Junge namens Blaze tätschelte den metallenen Rollstuhl, ein wahres Monstrum von Rädern, Steuerknüppeln und rätselhaften, mechanischen Teilen. „Er ist lebendig geworden.“
„Lebendig?“, fragte Luca zweifelnd.
„Keine Ahnung. Ich glaube, er lebt.“
„Das würde erklären, wieso er uns im Asylum gerettet hat“, murmelte Kassie. „Vielleicht war das keine Fehlfunktion.“
Eve trat langsam näher, Milo und Liam im Schlepptau. Auch Karo trat zu Mo und Kassie. „Hi, Blaze.“
„Karo! Du bist frei!“
„Und wir haben einen Deal mit Ifrit, damit sie frei bleibt“, grinste Mo.
Kassie drehte sich um und entdeckte Eve.
„Okay, wir haben später Zeit, Neuigkeiten auszutauschen. Blaze, ich muss dir jemanden vorstellen: Das sind Evelyn, Milo und Liam. Unsere Freunde.“
Blaze grinste ihnen entgegen. „Hi!“
„Hallo“, sagte Eve vorsichtig. Blaze sah erstaunlich jung aus, er stand vielleicht kurz vor der Pubertät. Auf dem Kopf trug er eine Lederkappe und eine große Brille, die ihn wie einen Piloten erscheinen ließen.
„Wow, cooles Teil!“, meinte Liam und bestaunte den Rollstuhl mit großen Augen. „Woher hast du den?“
„War ein Geschenk von Andy – Moment mal, ist er nicht hier?“
„Wir sind in einem großen Raum gelandet, wo alle Opfer der Tour waren“, sagte Mortimer. „Nachdem wir gestorben sind, meine ich. Ifrit war auch dort, und wir haben sie sozusagen erpresst: Wir retten Asmodai – und dich – dafür dürfen alle Tourgäste gehen. Andy, Piek und Xeri bringen die anderen gerade in Sicherheit.“
„Moment mal, was?“, entfuhr es Blaze.
„Mo.“ Kassie kicherte. „Du hast mehr Fragen erschaffen statt beantwortet.“
„Wir sind alle tot?!“, stammelte Blaze. „Also, dass ich tot war, hatte ich schon als Tatsache akzeptiert, aber ihr?“
„Schon gut, Blaze! Wir erzählen es dir von Anfang an“, beschwichtigte Kassie.