Wald der Stimmen:
Die Tannen standen so dicht, dass ihre Äste sich unwiderruflich ineinander verhakt hatten, als wären die Bäume eng umschlungene Liebende. Ihre Nadel knisterten und rauschten ohne Unterlass, das Licht war gräulich, jedoch war es unter den Bäumen erstaunlich hell.
Eve klammerte sich an Milos Arm und drückte sich eng gegen ihn. „Ich höre etwas.“
Milo blieb stehen und lauschte. Sein Atem stieg als weiße Wolke auf.
Dann hörte er es auch, ein leises, fernes Singen.
Eine Gänsehaut kroch über seine Arme bis zum Nacken. „Komm weiter.“
Sie beschleunigten ihre Schritte und holten zu den anderen auf.
„Habt ihr das gerade gehört?“, piepste Liam, der kreideweiß geworden war. „Da hat doch jemand meinen Namen gerufen.“
„Nicht den Stimmen folgen“, warnte Sam mit scharfer Stimme.
„Spinnst du? Den Fehler mache ich nicht noch einmal!“, gab Liam zurück.
„Was sind das für Stimmen?“, fragte Kassie leise.
„Keine Ahnung“, Sam zuckte mit den Schultern. „Aber solchen Stimmen sollte man niemals folgen.“
„Grundlegende Regel“, fügte Elizabeth hinzu. „Da ihr aus Deutschland seid, solltet ihr das wissen. Ihr kennt doch die Legende der Loreley, oder nicht?“
„Seid ihr etwa keine Deutschen?“, fragte Mo. „Das klang irgendwie so.“
Die drei Wächter tauschten überrumpelte Blicke.
„Äh, nein. Wir kommen aus Amerika“, antwortete Sam schließlich und kratzte sich am Kopf. „Hatte ich das nicht erwähnt?“
„Dafür sprecht ihr aber erstaunlich gut Deutsch!“, staunte Kassie.
„Nein, nein, das ist die interne Übersetzung … ihr wisst schon, wenn ein Buch in eine andere Sprache übersetzt wird, sprechen alle Charaktere eben plötzlich diese Sprache. Sowas ähnliches ist im Moment auch am Werk und sorgt dafür, dass wir einander verstehen können“, erklärte Sam. „Der Zauber funktioniert in fast allen Teilen von Phantasma und in den Phantasmablasen in der Realität. Stimmt, bisher habt ihr diese Blasen kaum verlassen, seit wir uns kennen ...“
„Was?“, stotterte Kassie. „Aber … aber …“
„Zerbrich dir nicht den Kopf darüber“, meinte Elizabeth. „Phantasma kann man nicht verstehen. Es ist die Welt der Fantasie aller Menschen. Und da Menschen dazu neigen, die Grenzen des Möglichen zu testen, kann man für diese Welt auch keine Regeln aufstellen. Sobald man eine Regel formuliert, beispielsweise, dass man keinen rätselhaften Stimmen folgen sollte, denkt sich auch schon jemand ein Szenario aus, in dem man diesen Stimmen folgen muss.“
„Das ist … verwirrend.“ Mo rieb sich die Stirn.
„Wenn es dich tröstet – ich kann ein bisschen Deutsch. Hab's mal gelernt, um die Texte von Rammstein und Subway to Sally verstehen zu können.“ Elizabeth grinste ihn entschuldigend an.
„Also … das alles hier ist nicht real, richtig?“ Milo wagte sich vorsichtig nach vorne. Zwar hatten Sams Schülerinnen ihnen in dem Grauen Raum so ziemlich alles erklärt, während sie für lange Zeit gemeinsam tot gewesen waren, doch er hatte nicht richtig zugehört. Immerhin war er davon ausgegangen, dass alles eh zu Ende wäre.
„Oh, doch, es ist real“, meinte Samstag. „Sehr real sogar, aber wir sind in einer Welt, die im Grunde nur aus Fantasie besteht. Diese Welt heißt Phantasma und umfasst in Wahrheit eine Unmenge separater Fantasiewelten. Es gibt auch Welten aller Bücher, Spiele, Filme … sowie alle anderen vorgestellten Dinge: Tagträume, echte Träume, Wünsche, was immer man sich ausmalen oder vorstellen kann, wird hier zur Wahrheit.“
Milo fuhr sich durch die Haare und atmete aus. „Ich glaube, das ist zu viel für mich.“
„Vor allem ist es zu viel für den Moment“, meldete sich Ifrit scharf von vorne. „Ihr trödelt die ganze Zeit nur herum. Wenn ihr so weiter macht, lassen wir euch hier.“
Die Gruppe sah entsetzt zu Ifrit, Asmodai und Max, die schon ein ganzes Stück vor ihnen und im Dämmerlicht nur noch schwer zu erkennen waren. Dann eilten sie den dreien hinterher, nur um zu stolpern, als sich der Wald vor ihnen plötzlich lichtete. Sie traten heraus und fanden sich an einem trostlosen, grauen Ufer aus zerklüfteten Felsen wieder, an die die Wellen eines rauen, schwarzen Meeres spülten.
„Was … ist das?“
„Das ist Styx, der Fluss der Unterwelt – unser Ausgang!“, rief Sam. „Wir müssen nur rüber kommen.“
„Also, eigentlich ist das der Acheron“, verbesserte Asmodai. „Und es gibt ein Problem. Seht ihr das dreiköpfige Hündchen da drüben?“
„Hündchen?!“, fragte Milo, an Asmodais Verstand zweifelnd, als er die riesige, pechschwarze, dreiköpfige Bestie erblickte, die ihnen glücklicherweise den Rücken zuwandte.
„Zerberus wird nicht zulassen, dass jemand die Unterwelt verlässt“, sagte Asmodai. „Ich schätze, es heißt jetzt: Jeder für sich.“
Wie auf ein geheimes Zeichen rannten Ifrit und Asmodai los, so schnell, dass niemand der Gruppe sich regen konnte. Zerberus hörte die Schritte, wirbelte herum und bleckte die Zähne, als seine sechs Augen sich auf die Eindringlinge am Waldrand richteten, die so dreist waren, ihn betrügen zu wollen.