Don't fear the reaper:
Der Kiel des Bootes schrammte über schwarzen Sand. Die zusammengekauerten Fahrgäste, die in Jacken und Mäntel verkrochen in erschöpften Schlaf gefallen waren, schreckten auf, als die schier endlose Reise plötzlich zu Ende war.
Der Fährmann streckte eine Knochenhand aus dem schwarzen Ärmel. „Mein Lohn, bitte.“
„Das sind zwei Silbermünzen für jeden, richtig?“ Elizabeth kramte in ihrer Hosentasche.
Milo rieb sich die Augen und stand auf. Er stolperte fast von Bord, fing sich aber gerade noch rechtzeitig auf, um Eve zu helfen, auf den Strand zu klettern.
„Nein. Zwei Silbermünzen wären der Preis, um das Totenreich zu betreten. Reisen in die andere Richtung kosten deutlich mehr“, knurrte der Fährmann.
„Lizzy, was tun wir?“, wisperte Sam. „Hast du den unendlichen Goldbeutel dabei?“
„Nein, den hab ich doch benutzt, um uns vor dem gierigen Sternentalermädchen zu retten, schon vergessen? Ich hab nichts dabei, ich bluffe nur!“
„Schön, aber das können wir nicht ewig machen“, antwortete Sam leise.
Milo warf einen Blick zum Fährmann, der zum Glück nichts von dem Getuschel mitzubekommen schien. Er ragte nur bedrohlich am Ende des Kahns auf und beobachtete, wie alle an den Strand kletterten, zuletzt Blaze in dem mechanischen Rollstuhl.
„Sind alle bereit?“, fragte Elaine leise. „Dann lauft, sobald wir das Signal geben. Blaze, halt den Fährmann eine Weile auf.“
„Was habt ihr vor?“, fragte Blaze nervös.
„Was habt ihr vor?“, donnerte der Fährmann lauter: „Wollt ihr mich etwa betrügen? Mich? Den Führer der Seelen und -“ Er sprach nicht aus, weil eine Schusssalve von Blaze ihm den Unterkiefer zerfetzte, der sich allerdings sofort wieder neu bildete.
„Jetzt, lauft!“, schrie Elizabeth.
Milo ergriff Eves Hand und sie stürmten los, genau wie alle anderen, über den schwarzen Sand. Etwas weiter entfernt, auf einer Düne, befand sich ein großes Tor aus schwarzem Stein, in dessen Durchgang ein helles Licht leuchtete.
„Rennt ins Licht!“, befahl Sam, während die Gruppe sprintete, was ihre Füße hergaben. Doch noch im Rennen sahen sie zwei Holztüren, die sich in das Portal schoben. Das Licht wurde immer schmaler.
„Die Sicherheitsschleuse – wenn sie sich schließt, sitzen wir hier fest“, warnte Sam.
„Wir schaffen es nicht!“, keuchte Elizabeth, dann brüllte sie: „Blaze! Halt das Tor offen!“
Der Rollstuhlfahrer wendete und ließ von dem Fährmann ab, den er bisher ganz nach Plan aufgehalten hatte. Der motorisierte Rollstuhl raste über den Sand, doch nicht schnell genug. Die Räder blieben im lockeren Untergrund stecken oder drehten durch. Blaze kämpfte um die Kontrolle.
In diesem Moment wurde Mo schneller, sprintete den Hügel hinauf und warf dann ein seltsames, längliches Gerät nach vorne. Aus dem schmalen Stöckchen fuhren zwei Seile mit Greifhaken aus. Einer hakte sich im Tor fest, den anderen packte Mo und der Junge hielt sich fest, als die Seile sich wieder zusammenzogen.
Der Seilwerfer riss den Jungen mit nach vorne und direkt vor das Tor. Mo packte eine der beiden Türen und stemmte sich mit seinem Gewicht dagegen.
Die Schleuse stoppte.
„Schnell!“, rief Mo ihnen zu. Blaze war der nächste, die das Tor erreichten, trotz der Probleme mit dem Sand. Der Rollstuhlfahrer stieß die Türen mit den mechanischen Greifarmen weiter auf.
Dann sprang Samstag durch die Lücke, gefolgt von Elaine und Elizabeth. Alle drei verschwanden spurlos im Licht.
„Schneller!“, rief Mo dem Rest zu.
Karo, Max und Kassie waren die nächsten, fast gleichzeitig. Blaze rollte durch das Portal, nur ein Greifarm blieb zurück, der die Türen weiter aufstemmte. Doch die Lücke wurde bereits kleiner. Mo ächzte vor Anstrengung, die Greifarme quietschten.
Die Lücke wurde schmaler.
Und schmaler.
Milo rannte, aber er war einfach nicht schnell genug. Schon drohte das Tor, sich vor seiner Nase zu schließen.
Da spürte er einen Stoß von zwei Händen im Rücken, der ihn vorwärts taumeln ließ, direkt in den dünnen Streifen Licht hinein. Er fiel, rollte über weiches Gras und blieb schließlich liegen.
Die Sonne schien. Die Erde war warm und in der Nähe raschelten die Blätter eines einzelnen, großen Baumes im Wind.
Er setzte sich ächzend auf und sah sich um. Hinter ihm befand sich ein leerer Torbogen aus moosüberwachsenem, hellen Stein, um ihn her lagen die Entkommenen.
Doch es waren nicht alle! „Eve! EVE!“ Sie war direkt hinter ihm gewesen – sie hatte ihn doch sogar geschubst. „EVELYN!“
Kassie sprang auf. „Wo ist Liam? Und … Mo!“
Blaze saß in seinem Rollstuhl neben dem hellen Steintor. Einer der Greifarme seines Enthinderers war abgebrochen, die Greifhand selbst nirgendwo zu sehen.
„Ich konnte es nicht mehr halten“, stammelte der Junge.
„Nein!“, rief Milo. Sie durfte nicht weg sein. Er wollte aufspringen. Stechende Schmerzen schossen durch seinen Fuß und er trat ins Nichts, um mit einem Schmerzensschrei auf den Boden zu fallen. Er musste umgeknickt sein. Instinktiv griff er nach seinem Knöchel, um ihn auf Verletzungen zu untersuchen, während seine Gedanken immer noch bei Eve weilten, doch … er griff ins Nichts.
Entsetzt sah er auf seinen Fuß. Oder eher auf die Stelle, wo bis vor kurzem noch sein Fuß gewesen war. Nun pochten die Schmerzen in seinem Bein und krochen bis zur Hüfte herauf. Brennende, prickelnde Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus und seine Finger zitterten plötzlich.
Der Fuß war weg. Einfach … weg.
Sein Atem ging schnell und flach. Er konnte nicht einmal schreien, während die Erkenntnis langsam zu ihm durchsickerte. Sein Fuß war weg. Blut lief aus der Wunde, tränkte seine zerfetzte Hose. Sein ganzer Körper fühlte sich schwach und zittrig an, wie nach einem Marathon. Er konnte nur dasitzen und schluchzen, während die Erkenntnis ihn langsam überwältigte.
„Elaine!“ Wie aus dem Nichts kniete Elizabeth an seiner Seite und presste die Hände auf sein Schienbein. Sie brüllte den Namen der Blonden. Nun drehten sich auch die anderen um, bis auf Kassie, die wie von Sinnen gegen das Tor hämmerte und nach Luca schrie.
Elaine kam von der anderen Seite. Inzwischen sah Milo ihre Bewegungen verschwommen und langsam. Er konnte nicht hören, was sie sprachen, hörte nur noch den Tonfall der Stimmen. Elizabeth redete auf ihn ein, hielt sein Gesicht fest. Er sah Blut an ihren Händen, auf dem Boden, überall. Elaine berührte die klaffende Wunde, er schrie, wehrte sich. Hände ergriffen seine Arme und Beine, pressten ihn auf den Boden. Jemand schob ihm einen Stock zwischen die Zähne. Er hörte – verspätet – etwas von „seine Zunge sonst abbeißen, ist schon vorgekommen“.
Er zitterte am ganzen Leib. Am liebsten hätte er sich übergeben, doch er fühlte sich gleichzeitig, als würde ihm die Kraft dazu fehlen. Plötzlich spürte er neue Schmerzen, eine andere Art von Schmerz, der sich von außen schnell in sein Fleisch fraß und brannte, brannte, brannte … er roch etwas, das ein leckerer Braten sein mochte und als er aufsah, standen sein Bein und Elaines Hände an der Wunde in hellen Flammen.
Dann wurde es dunkel um ihn. Sein letzter Gedanke galt Eve, wie eine Rettungsinsel, zu der er sich rettete, um den Schmerzen zu entgehen.