To Hell and back:
Der Enthinderer rührte sich nicht mehr. Nichts, kein einziger Knopf oder Hebel, löste noch eine Reaktion aus. Vor lauter Verzweiflung hämmerte Blaze sogar auf den roten Selbstzerstörungsknopf – nichts.
„Ohne dein Spielzeug bist du nicht viel wert, Tobias Marshall.“
Der falsche Rollstuhlfahrer grinste. Sein Spiegelbild-Enthinderer fuhr geschickt über die Trümmer der Explosion.
„Halt!“, rief Liam, der einzige, der noch aufrecht stand. Alle anderen waren an den Boden gefesselt, bewusstlos oder zu schwer verletzt, um sich noch zu rühren.
Blaze sah zu Liam. Der dickliche Junge hielt sich zittern den Lauf von einer von Kassies Pistolen an den Kopf. Angst, Mut und Verzweiflung standen in seinen Augen. „Keinen Schritt weiter.“
Die Spiegelwesen lachten wie aus einem Mund. „Du kannst uns nicht besiegen, Liam.“
„Wenn … wenn u-unsere Waffen nur uns ver-verletzten, da-da-dann … dann … dann verletzt es euch, wenn ich mich verletze!“
Liam stotterte. Rotz lief über seine Oberlippe. Blaze umklammerte die Lehnen des nun nutzlosen Rollstuhls.
Der Spiegel-Liam schüttelte den Kopf. „Wir sind nicht deinetwegen gekommen.“
Das Spiegelwesen machte eine Handbewegung. Liam verdrehte die Augen und sackte in sich zusammen. Blaze sah, dass er noch atmete. Und dass seine Augenlider schon wieder flatterten, doch Liam stand nicht auf. Blaze konnte nur erraten, dass er sich nicht länger bewegen konnte.
Max und Mortimer lagen fast Seite an Seite auf dem Boden, beide so mit ihren eigenen Waffen gefesselt, dass sie kaum atmen konnten. Eve hockte in einem Ring von Flammen, der bei jeder ihrer Bewegungen enger wurde. Milo umklammerte stumm weinend das Bein mit dem fehlenden Fuß, zu sehr von den Schmerzen überwältigt, um zu reden. Karo lag ausgestreckt im Krater, zwar wieder wach, aber ebenso regungslos.
Mit einem Stöhnen kam Kassie zu sich. Die Spiegel-Kassie trat neben sie und setzte einen Fuß auf ihre Schulter.
Die Rothaarige presste sich ohne Widerstand an den Boden.
Es war nur noch Blaze übrig. Und er wusste, dass Metschtas Diener gekommen waren, um ihn zu holen. Um den Autoren endlich zu erlösen, zu dessen Erlösung er geschaffen worden war. Alle acht Spiegelwesen sahen ihn auffordernd an.
„Lasst meine Freunde gehen“, sagte er leise.
Die Gesichter der Spiegelwesen zeigten spöttische Verwunderung. Ihre Mimik veränderte sich gleichzeitig, als wären sie ein Wesen.
„Metschta!“, erkannte Blaze. „Bitte, lass sie gehen. Du brauchst nur eine Seele, um dich zu erlösen.“
„Keine Spielchen“, sagten die Spiegelwesen wie ein Mensch. Sie waren lediglich Karikaturen seiner Freunde. Sie konnten vermutlich nicht einmal bluten.
Dann war die Stimme der Spiegelwesen mit einem Mal sanft. „Sie werden leben. Ich lasse sie gehen, sobald du aufgehört hast, zu kämpfen. Du hast mein Wort, Tobias. Ich brauche nur dich, mein Sohn. Deine Freunde können zu den Wächtern zurückkehren.“
Blaze glaubte Metschta. Der Autor war nicht böse, er war nur verzweifelt. Ebenso verzweifelt wie sie alle. Ausgetrickst von Ifrit und Asmodai, durch die Hölle gejagt und nun am Ende angelangt.
„Verabschiede dich“, sagte Metschta über die acht Münder der Spiegelwesen. Er spürte, dass Blaze seinen Entschluss gefasst hatte.
Er sah zu seinen Freunden. Begegnete ihrem Blick einem nach dem anderen:
Max wirkte schon fast gelangweilt, als fragte er sich, warum das alles so lange dauerte. Selbst jetzt, kurz vor dem Erstickungstod, war keine Angst in seinen Augen zu lesen.
Mo, Liam und Eve, die Geister, waren nur schwer zu deuten. Blaze war sich nicht sicher, ob er Tränen auf Eves Wangen sah. Liam hatte ganz bestimmt geweint, jetzt wirkte er leblos, gebrochen. Mo kämpfte gegen seine Fesseln und wollte etwas sagen, brachte aber keinen Laut hervor. Milos Blick flehte nach Erlösung. Er weinte wie ein Kind, doch fast geräuschlos. Karo, die wie eine Puppe im Krater lag, kämpfte darum, die Augen offen halten zu können.
Und Kassie …
Blaze begegnete Kassies Augen und fand ein unerwartetes Feuer. Zorn gegen eine Ungerechtigkeit, die sie nicht bezwingen konnte. Sie sah ihm fest in die Augen und schüttelte – leicht, ganz leicht, mehr ließ der Druck ihres Spiegelbilds nicht zu – den Kopf.
Blaze sah zu den acht Spiegelwesen. Er löste die Gurte des Enthinderers.
„Blaze … nicht …“, röchelte Mo mühsam.
Er umfasste die Lehnen stärker. Spannte die Arme an.
„Tu es nicht, Kleiner“, hörte er Eve flüstern.
Blaze drückte sich in die Höhe. Seine Arme zitterten vor Anstrengung. Sein Hintern löste sich vom Sitzpolster. Er spürte sein Herz klopfen, wild vor Angst. Aber die Angst war nur gefährlich, solange man sich fürchtete – hatte er nicht genau das gelernt?
Seine Füße trafen auf die Erde. Langsam drückte Blaze sich weiter nach oben und nach vorne, richtete sich Atemzug um Atemzug auf, bis er schließlich die Lehnen losließ und … stand.
Er stand aufrecht auf beiden Beinen, die zitterten und mit den Knien aneinanderstießen, die Fäuste geballt. Stolz sah er Metschta an.
„Du hast mich erschaffen.“
Er verlagerte das Gewicht auf ein Bein, die Muskeln und Knochen protestierten lautstark. Schlurfend, mit winzigen Bewegungen, zerrte er das andere Bein vorwärts. Stückchen für Stückchen, bis ein Fuß vor dem anderen stand … ein Schritt, ein richtiger Schritt.
„Ich verdanke dir nicht nur mein Leben, sondern meine ganze Existenz“, fuhr er fort, sein eigenes Spiegelbild fest im Blick. Er verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß und machte noch einen langsamen, mühsamen, schmerzvollen Schritt. Innerlich triumphierte er. Selbst ohne den Enthinderer konnte er noch etwas leisten! Er war nicht einfach der Junge im Rollstuhl. Er war Blaze!
Drei Schritte. Er stand vor dem anderen Blaze, am Ende seiner Kräfte. Die Beine zitterten und brannten, ihm war schwindelig, er konnte kaum atmen. Jeden Moment konnte er sein Gleichgewicht verlieren.
Er sah dem falschen Blaze in die Augen. „Aber du bestimmst nicht über meine Zukunft! Ich habe meine eigene Geschichte gefunden!“
In diesem Moment traf ihn der Windstoß in den Rücken und er kippte unkontrolliert nach vorne. Aber der falsche Blaze veränderte sich, flackerte, zerfloss, und wer ihn auffing, war niemand anderes als Metschta, der ihn sanft auf die Erde legte.
Eine lange Zeit sah ihn der Autor mit unergründlichem Blick an. Letztendlich seufzte er tief.
„Ich bin stolz auf dich, Tobias.“ Er klang traurig. „Oder sollte ich Blaze sagen? Du Teufelskerl, du mutiger, kleiner Mann! Du hast dich selbstständig gemacht. Eine verirrte Figur, wie die Wächter sagen. Aus deiner Geschichte ausgebrochen. Nun, ich denke, du kennst deinen Weg. Ich werde dich nicht aufhalten. Du und deine Freunde … ihr seid frei.“
Es war wie ein Blitz, der seinen ganzen Körper durchfuhr. Plötzlich saß Blaze im Enthinderer, das Gefährt stand mitten auf einer aufgeräumten, leeren, sauberen Straße. Seine Freunde standen neben ihm. Unverletzt … nun, fast. Milos Fuß fehlte noch immer, Kassies kleiner Finger fehlte noch immer, Mos halbe Seite fehlte noch immer. Sie waren verdreckt, blutbeschmiert und müde, hielten die Waffen nur kraftlos fest, Liam, Mo und Eve waren noch immer Geister aus Glas.
Sie standen in einer Sackgasse, zu drei Seiten gab es nur glatte, hoch aufragende Mauern aus Backstein, ohne Fenster oder Türen darin. An der vierten Seite befand sich eine Öffnung, und dicht über dem Boden, sich zu beiden Seiten erstreckend, ein großes Portal aus weißem Licht mit einem Kranz blauer Flammen. Über dem Tor stand ein Schriftzug im Himmel, allerdings spiegelverkehrt. „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren“. Sie verließen die Hölle – endlich!
Blaze, Kassie und Mo setzten sich gleichzeitig in Bewegung, ohne sich absprechen zu müssen. Sie rollten auf das Tor zu: Blaze im Enthinderer, Kassie auf den Inlinern und Mo auf dem Skateboard. Dann passierten sie das Tor und standen in einem Wald, der ihnen vertraut vorkam. Hier waren sie losgeritten, vor ewig langer Zeit … aber im Grunde konnte es nur sieben Tage her sein. Damals, als die letzte Tour begonnen hatte.
„Sie sind es!“, rief eine laute Stimme und etwas riss Mo von den Füßen. Erst, als sich beide auf dem Boden voneinander trennten, erkannte Blaze Samstag. Elizabeth begrüßte Kassie etwas weniger stürmisch, und umarmte sie nur. Elaine blieb vor Blaze stehen: „Die anderen?“
Blaze sah zum Tor und, wie gerufen, erschien dort der Rest ihrer kleinen Gruppe, tröpfelte nach und nach aus dem milchigen Weiß.
Elaine lächelte. Sie beugte sich herab und umarmte Blaze fest. „Das war eine Heldentat!“
Außer Sam, Elizabeth und Elaine waren auch die anderen Wächter anwesend, die sie geduldig erwartet hatten: Anna van Helsing, Andy, Piek und Xeri und Mira, Tee-jo, Lily, Wild Child und Fay. Sowie die Pferde, die Blaze noch vom Aufbruch her kannte, obwohl ebenfalls ein geräumiger Kleinbus in der Nähe parkte.
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis alle begrüßt, umarmt, geherzt, nochmal umarmt und schließlich in den Bus verfrachtet worden waren. Selbst Max wurde begrüßt, immer freundlicher, je mehr Details von ihrem gemeinsamen Kampf bekannt wurden. Andy setzte sich hinters Steuer. Xeri warf einen Blick auf Milos abgebrannten Stumpf am Knöchel und gab ihm eine Schmerztablette. Mortimer und Fay saßen dicht nebeneinander und hielten stumm die Hand des anderen, so, wie auch Eve Milos Hand hielt. Lizzy verteilte selbstgemachte Sandwiches. Andy plapperte unentwegt: Von einem Geschirr für Karo, mit dem sie die Panzerfaust auch im Laufen bedienen konnte, von einer tollen Prothese für Milo, von dem Festmahl, das es am Abend geben würde, davon, wie sie in Zukunft aufpassen mussten, dass die Geister ihrer Freunde immer in der Nähe einer Fantasie-Quelle blieben, da sie sonst verschwinden könnten …
„Ihr seid Wächter“, sagte Elaine durch das offene Fenster. Der Wagen fuhr so langsam, dass die Pferde bequem im Schritt folgen konnten. „Ihr habt eure Prüfung mehr als nur bestanden. In der Akademie werden wir euch nur noch die Theorie beibringen, aber niemand wird so verrückt sein, euer Können noch auf die Probe stellen zu wollen.“
„Ihr Glücklichen“, setzte Elizabeth hinzu.
Mo, der eingequetscht zwischen Kassie und Blaze saß, legte jedem von ihnen einen Arm um die Schultern. „Es ist vorbei.“
Vorbei … dieses Wort war wie kühlendes Wasser nach einem Leben in der Wüste. Endlich entsprach es der Wahrheit. Der Kampf war gewonnen. Es war vorbei!
„Ich habe übrigens eine tolle Idee für einen Teamnamen.“ Mo grinste schalkhaft.
„Welchen?“, fragte Kassie müde.
„Nun ja … die meisten von uns sind echt schnell unterwegs und wir haben eine Menge mit Geistern zu tun“, sagte Mo. „Wie wäre es also mit ‚Ghost Racers‘?“
„Das klingt wie in Supernatural -“, setzte Elizabeth an.
„Die ‚Ghost Facers‘, genau.“ Mo grinste. „Was sagt ihr?“
Blaze spürte, wie sich ein glückliches Lächeln auf seinem Gesicht breitmachte: „Die ‚Ghost Racers und die Racing Ghosts‘!“
„Stimmt, jetzt, wo drei von uns Geister sind“, kicherte Mo. „Who you gonna call?“
Niemand schrie „Ghost Racers!“ Die meisten waren bereits eingeschlafen oder auf dem besten Weg zum nächsten Traum. Die Anspannung, die so lange auf ihnen gelastet hatte, fiel endlich ab.